Landeskunde

„Die Welt ist ein guter Ort“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2023

Antonia Merz: Ein Paar, ein Tandem und 15.000 km nach Indonesien. Was wir auf unserer Reise durch 22 Länder über uns und die Welt erfahren haben. München: Goldmann 2023. Kartoniert, 320 S. und 8 S. Farbfotos. ISBN 978-3-442-17963-3. € 16,00.

    Man nehme ein Lineal und ziehe eine Verbindungsline zwischen der Schweiz und Zentralchina, von dort weiter in Richtung Süden, längs der malaiischen Halbinsel nach Java in Indonesien – dann hat man eine Vorstellung von den Dimensionen, den 22 Ländern und rund 15.000 Kilometern, die die beiden Protagonisten des Buches hinter sich gebracht haben – auf einem Tandem.

    Es war nicht etwa Flugangst der Autorin, die dazu führte, die Reise nicht im Jet, sondern per Fahrrad zu unternehmen, sondern der Klimaschutz. Allein die Tatsache, dass sich unsere Radler ihrer Aufgabe ohne Motor, Akkuspeicher oder Mitfahrgelegenheit entledigt haben, flößt Respekt vor dem puristischen Ansatz des Reiseteams ein. Nur mit eigener Kraft voran- und vor allem: anzukommen, ist alleine schon achtunggebietend!

    Nicht, dass die beiden jungen Leute die ersten gewesen wären, die sich auf dem Rad aufmachten, um die Welt zu erkunden! Heinz Helfgen hatte schon 1951–1953 den Globus umradelt, und 1884–1886 war Thomas Stevens auf einem 50-Zoll-Hochrad um die Erde gestrampelt: 20.000 Meilen, auf Vollgummireifen und ohne Gangschaltung!1 Andere Hartgesottene haben Indien von Süd nach Nord zu Fuß durchwandert oder haben sich als Anhalter und ohne einen Pfennig Geld durch Asien geschnorrt.2

    Und hatte nicht J. G. Seume seinen „Spaziergang nach Syrakus“ schon vor mehr als zweihundert Jahren unternommen – zu Fuß, versteht sich? 3

    Also alles schon mal dagewesen?

    Weit gefehlt.

    Mit ihrem Wunsch nach Besichtigung der Welt, nach Autarkie und mit dem Drang, den Menschen der Regionen, die man durchfährt, möglichst nahezukommen, verbindet unsere Autorin – die Frau auf dem Rücksitz des Tandems – keineswegs den Anspruch auf technische oder physische Höchstleistungen. Es handelt sich nicht, wie bei Stevens, um die Demonstration der Leistungsfähigkeit von Hartgummireifen noch, wie bei Helfgen, um die journalistische Ausbeute, die die Reise erst finanziell ermöglicht, nein, es geht um die Erfahrung einer überwältigenden Natur, um das Miteinander im Tandemteam und um die vielen Begegnungen unterwegs – wäre sie nicht so anstrengend, würde man fast an eine meditative, an eine Pilgerreise denken.

    Dass solche Touren durchaus lebensgefährlich sind, zeigen die nicht seltenen Todesfälle von Radlern, die bisweilen durch banale Ausrutscher ums Leben kommen. Die stark befahrenen, unbeleuchteten Tunnels an der türkischen Schwarzmeerküste oder die Schotterpisten durch die Wüsten Turkmenistans brachten unser Team mehrfach an die Grenzen ihrer Kräfte, und die Überquerung der Pamirpässe jenseits von 4.600 Höhenmetern verlangten unserer Autorin und ihrem „Frontmann“, dem drahtigen und sympathischen Daniel, bei 200 kg Zuladung das Letzte ab. Unterkünfte bei Privatfamilien, manchmal ohne Entgelt und oft von überschäumender Gastfreundschaft begleitet, Homestays gegen Bezahlung oder schlichtes Zelten am Wegesrand waren vom Balkan bis zum Zielpunkt, der Sultansstadt Yogyakarta in Indonesien, die Regel; 60-80 km betrug die durchschnittliche Tagesleistung.

    Die 48 Kapitel des Bändchens sind überaus flüssig zu lesen und bilden einen großen Spannungsbogen, Vorund Rückblenden ersparen uns die Ödnis einer bloßen Reisechronik. Hier war ein tüchtiges Lektorat am Werk, es wurde manches gekürzt, regionale Schlaglichter geschickt „eingekastelt“ („Ein Augenblick in …“). Das hat dem Buch gutgetan und verleiht dem Anliegen der Autorin, die eigene Selbstfindung und die Fremderfahrung zu einem Gesamtbild zu vereinen, große Überzeugungskraft – und der Leserschaft macht die Abwechslung Freude. Dass man dabei auch etwas über die Welt der wenig bekannten STAN-Staaten erfährt – Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan –, sei besonders erwähnt.

    Herzlichkeit, Menschlichkeit, das Gefühl tiefer Freude und Verbundenheit mit der Natur, Zutrauen in die eigenen Kräfte und „Momente als Schätze“ – das sind (abgesehen von einer körperlichen Topform) die Mitbringsel der fast einjährigen Reise. „Die Welt ist ein guter Ort“, brachte es die Autorin selbst auf den Punkt. Klingt das nicht nach Laurence Sterne‘s Sentimental Journey, diesem Meisterwerk der Reiseliteratur, einer „Reise des Herzens“, die uns lehrt, „die Welt und unsere Mitmenschen mehr zu lieben, als wir es bisher tun“?4

    Das mag hoch-trabend klingen – und ist doch die Essenz einer Tandemfahrt von 15.000 km Länge.

    Wem das zu geschwollen daherkommt, der lese einfach den Abschnitt über die Tage in Laos am Ufer des Mekong und das ruhige Leben am Fluss – sicher eine der schönsten Passagen des Buches. (tk)

    Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

    thkohl@t-online.de

    1 Heinz Helfgen, Ich radle um die Welt. Thomas Stevens, Um die Erde auf dem Zweirad.
    2 Schulz, Indien zu Fuß; Rez.in fbj 1/2012. Hübber/Nehrumand, Götter, Gurus und Gewürze; Rez. in fbj 3/2022.
    3 Erschienen 1803.
    4 Laurence Sterne, Sentimental Journey Bd. 2. London 1768, S. 67 f.

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