Sport

Über Krisen, Fußball in Kriegszeiten, Antisemitismus und einen genialen Fußballspieler

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2020

Dietrich Schulze-Marmeling, Ausgespielt? Die Krise des deutschen Fußballs, Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2019, 219 S., Paperback, ISBN 978-3-7307-0449-3, € 18,00

Dietrich Schulze-Marmeling ist als Autor von Büchern über Fußball und Fußballgeschichte seit Jahrzehnten eine feste Größe als Publizist. Er ist ein exzellenter Kenner des deutschen und des internationalen Fußballs und seine Publikationen behandeln die deutsche Nationalmannschaft, aber auch Vereine wie den FC Barcelona oder Celtic Glasgow und Fußballstars wie George Best oder Johan Cruijff, dessen Name inzwischen zu „Cruyff“ anglisiert und internationalisiert wurde. Die Amsterdamer Arena, wie Stadien nun weltweit genannt werden, heißt allerdings weiterhin offi­ ziell auf Niederländisch „Johan Cruijff-Arena“. Nach dem frühen Ausscheiden der deutschen Fußballnationalmannschaft in der Vorrunde bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland, was zuvor noch nie geschehen war, läuft die Diskussion über dessen Gründe und Ursachen, langund kurzfristige Fehlentscheidungen und -entwicklungen, also über die Krise des deutschen Fußballs. Schulze-Marmeling betont, er habe sich „mit diesem Begriff schwergetan“ und im Inhaltsverzeichnis setzt er die „Krise“ auch in Anführungszeichen. Letztlich überlässt er die Beurteilung dann aber dem Leser, der nach der Lektüre selbst entscheiden soll, ob man es mit einer „handfesten Krise“ oder sogar schon mit dem „Übergang zu einer Katastrophe“ zu tun habe. Da stellt sich gleich die Frage, warum dieser Untertitel und wozu dieses Buch? In jedem Falle ein Buch, um über eine „Krise“ nachzudenken, die möglicherweise gar keine „Krise“ ist oder war, aber „Krisen“ verkaufen sich immer gut. Die ersten drei Kapitel bringen kaum neue Erkenntnisse. Der Autor referiert die Spiele bei den großen internationalen Turnieren seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, teils auch schon davor, also vor allem die Europameisterschaft 2016, als die deutsche Mannschaft im Halbfinale gegen Frankreich ausschied, obwohl sie, so Schulze-Marmeling und diverse andere Experten, die bessere Mannschaft gewesen sei. Diese Analysen sind durchgängig auf hohem Niveau als Fußballexperte mit den entsprechenden Rückgriffen auf die Entwicklung des Fußballsports, insbesondere auf die taktischen Veränderungen. Da darf dann auch die Erörterung des sogenannten „Totaalvoetbal“ niederländischer Prägung mit seinem führenden Protagonisten Johan Cruijff seit Mitte der 1960er Jahre nicht fehlen. Dieser „Totaalvoetbal“, auf den die Niederländer zu Recht stolz sind, hat allerdings mehrere Väter, unter anderem den immer wieder gerne vergessenen John „Jack“ Reynolds, ein Engländer, der aber vor allem niederländische Mannschaften trainierte, darunter insbesondere auch Ajax Amsterdam. Übrigens sprach auch Josef „Sepp“ Herberger schon bei seiner Rede zum 50-jährigen Gründungstag des DFB 1950 davon, dass im modernen Fußball jeder Spieler auf allen Positionen spielen müsse. Zudem durchlebte auch der niederländische Fußball seine „Krisen“, zuletzt fehlte die Nationalmannschaft sowohl bei der Europameisterschaft 2016 als auch bei der Weltmeisterschaft 2018, um nun wie Phönix aus der Asche wiederzukommen und im Finale der Nations League zu spielen, nachdem sich die Mannschaft gegen den so hochgelobten und allseits gepriesenen Weltmeister Frankreich mit seinen „großartigen“ Einzelkönnern durchgesetzt hatte. Das Endspiel verloren die Niederländer jedoch gegen Europameister Portugal, das keinen berauschenden Fußball spielt, sondern recht altbacken aus einer sicheren Abwehr auf Konter und auf Cristiano Ronaldo setzt.

Eigentlich sollte man wissen, dass solche Turniere wie eine Europa- oder Weltmeisterschaft nichts anderes sind als Momentaufnahmen, denn, wie der Verfasser selbst schreibt, war Brasilien die letzte Mannschaft, die ihren WM-Titel (1958 und 1962) verteidigen konnte und das liegt nun auch schon einige Zeit zurück. In Europa konnte nur Spanien (2008 und 2012) den Titel verteidigen. Die Siege von Außenseitern wie Griechenland (2000) und Portugal (2016) bei den europäischen Turnieren zeigen deutlich, wie zufällig es bisweilen dabei zugeht. Ansonsten ist der häufig wiederkehrende Rekurs auf Johan Cruijff und seine „Lehren“ über den „richtigen“ Fußball ein bisschen nervig und passt auch nicht immer in den Kontext. Einige Passagen sind aus dem Buch des Autors über Cruijff „Der König und sein Spiel“ übernommen worden. Nicht nachvollziehbar bleiben für mich auch die Lobeshymnen auf die lebenden „Trainerlegenden“ Josep „Pep“ Guardiola, ein Cruijff-Adept, Jürgen Klopp, Thomas Tuchel und Lucien Favre. Jürgen Klopp konnte nun endlich im Juni 2019 nach sechs Finalniederlagen in einem wenig berauschenden Spiel seinen ersten internationalen Titel – Sieger der Champions League – holen und steht kurz vor dem Gewinn der englischen Meisterschaft mit dem FC Liverpool. Guardiolas internationale Erfolge mit dem FC Barcelona liegen nun auch schon acht Jahre zurück, mit dem FC Bayern München gewann er 2013 den UEFA-Supercup und die Klubweltmeisterschaft. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Die anderen drei gelten als „innovativ“, wobei Klopp und Favre immerhin national mehrfach erfolgreich waren. Es folgen einige Kapitel über die fußballerische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen vor allem in Deutschland, in denen immer wieder der Verfall der Sitten und körperliche Mängel beklagt werden. Dabei sei angemerkt, dass ich aus eigener Erfahrung als „Fußballvater“ und zudem „Betreuer“ einer Kindermannschaft (E- und D-Jugend) sagen muss, dass es schon in den 1990er Jahren hysterisches Verhalten und übermäßigen Ehrgeiz von Müttern und Vätern auf und neben dem Platz gab, ebenso wie „körperliche“ Defizite der Mittelschicht-Kinder. Den Begriff „Honorar“, über den sich Schulze-Marmeling bezüglich der Jugendtrainer auslässt, habe ich in meinen vier Jahren als Jugendtrainer nie gehört, noch nicht einmal das Wort „Aufwandsentschädigung“; Telefonate, Benzinkosten und Zeit gingen auf eigene Rechnung. Dem Verein im Münsterland, dem er vorsitzt oder vorsaß und für den er als Trainer gearbeitet hat, muss es finanziell richtig gutgehen. Bei meinem Dorfverein gab es nur Ehrenämtler im vollen Wortsinn. Um am Ende noch einmal auf die „Krise“ zurückzukommen, deren Erkenntnis ja dem Leser überlassen wurde. Nein, ich sehe keine Krise des deutschen Fußballs. Ich sehe einige Defizite in der Ausbildung und in den Kräften der Beharrung. Es gibt den alten Spruch: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Joachim Löw und seine Mitstreiter sowie die DFB-Führung hätten dies 2014 beherzigen sollen.

Dass der „deutsche“ Nachwuchs international durchaus mithalten kann, wenn man ihn denn spielen lässt, zeigte sich nicht nur bei den Auftaktspielen der Qualifikation für die Europameisterschaft 2020, als eine radikal verjüngte deutsche Mannschaft die allgemein favorisierten Niederländer, die ihre Krise schon gehabt hatten, im Amsterdamer Stadion besiegte und gegen Belarus und Estland problemlos gewann. Dabei saßen auf deutscher Seite, angetreten mit sieben Spielern, die gerade 25 Jahre oder jünger waren, noch weitere sechs Spieler auf der Bank, die 23 Jahre oder jünger waren. Bei der letzten Europameisterschaft der U 21 erreichte die deutsche Mannschaft den 2. Platz, auch dort fehlten u.a. mit Leroy Sané, Kai Havertz und Julian Brandt drei absolute Hochkaräter, die für diese Mannschaft spielberechtigt waren. Wo hat sie sich versteckt die Krise? Von einer Ausbildungskrise kann doch gar keine Rede sein, höchstens von einer „Unterlassungskrise“, wenn man es milde ausdrücken möchte, der für die Auswahl der Nationalmannschaft im Jahr 2018 verantwortlichen Personen. Abschließend bemerkt, finde ich es ganz witzig, dass auch solch erfahrenen Autoren wie Schulze-Marmeling und seinem gleichfalls versierten Verlagslektor Bernd-M. Beyer, der auch einige Fußballbücher verfasst hat und dem der Autor ausdrücklich dankt, einige läppische Fehler unterlaufen konnten. So wechselte Pierre-Emerick Aubameyang 2018 nicht von Borussia Dortmund zum FC Liverpool, sondern zum FC Arsenal (S. 114), und der Schweizer Torhüter Marwin Hitz kam nicht vom FSV Mainz 05 zu Borussia Dortmund, sondern vom FC Augsburg (S. 128). Fazit: Kein Buch, das man lesen müsste und aus dem man neue Erkenntnisse gewinnen könnte.

 

Florian Schubert, Antisemitismus im Fußball. Tradition und Tabubruch, Göttingen: Wallstein 2019, 488 S., zahlreiche Abbildungen, geb. Schutzumschlag, ISBN 978-3-8353-3420-5, € 39,90

Das Buch ist aus einer sozialwissenschaftlichen Dissertation am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin hervorgegangen. Es behandelt ein brisantes und in jeder Hinsicht höchst relevantes Thema, aber es enttäuscht von Beginn an. Die ersten fünf Kapitel, in denen Schubert Theorie und Methode sowie seinen Forschungsgegenstand vorstellt, lesen sich über weite Strecken wie Exzerpte aus Hauptseminarreferaten zu Theorie und Methodologie der Sozial- und Politikwissenschaften. Der Autor hat fleißig exzerpiert und, wie er selbst schreibt, auch das Programm „Citavi“ benutzt. Fein säuberlich sind alle relevanten Äußerungen zusammengetragen worden und werden nun gewogen, ob sie denn für die Theoriebildung und die Beschreibung taugen und welche Schlüsse man aus ihnen ziehen kann. Solche Aneinanderreihungen bringen dann bisweilen die Simplizität wissenschaftlicher Forschung auf den Punkt. So lesen wir auf S. 25f., dass „die Konstruktion eines Anderen und die binäre Aufteilung der Welt“ ein „Merkmal der Fußballkultur“ sei. Nun schlage ich vor, „Merkmal der Fußballkultur“ durch „Merkmal der Politik Donald Trumps“ zu ersetzen und finde, dass auch dies zutrifft. Was, so ist zu fragen, erklärt uns das? Die Welt? Den Fußball? Oder die Politik von Donald Trump? Oder alles? Den Zentralbegriff seiner Untersuchung, Antisemitismus, definiert Schubert auf knapp zwei Seiten und lässt Leser/in staunend und verwundert zurück. Denn Antisemitismus gab und gibt es in unterschiedlichen Erscheinungsformen und der eine ist nicht wie der andere. Erst am Ende seines Buches verweist er darauf, dass in jüngster Zeit vor allem muslimische Fans und Spieler in unteren Ligen durch antisemitische Handlungen auffällig wurden. Zugleich aber bemängelt er, dass Verbands- und Vereinsfunktionäre „anscheinend keine Definition für Antisemitismus“ haben und diesen „weder klar benennen noch erkennen“. Das verwundert nicht, wenn auch der Autor eines Buches zum Gegenstand nicht bereit ist, sich an den vielfältigen Gründen und Formen des Antisemitismus abzuarbeiten. Ähnlich geht er mit Begriffen wie „Katharsis“ oder „Vergemeinschaftung“ um. Bei letzterem fällt mir Ferdinand Tönnies ein, nein, nicht der Clemens von Schalke 04 mit der Fleischfabrik und den rassistischen Unter- oder Obertönen, sondern der Kieler Soziologe mit seinem das Fach begründenden Werk „Gesellschaft und Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1887. Beide kommen im Buch nicht vor. Zudem erlaube ich mir die Frage, welchen wissenschaftlichen Wert Expertenaussagen haben, wenn der Leser/die Leserin gar nicht weiß, wer denn in dieser Funktion agiert. Solche Personen, hoffen wir, dass es sie gibt, tauchen bei Schubert durchgängig als „EXP*“ auf. Auf Seite 485 gibt es eine Liste dieser 19 „Experteninterviews“, bei denen jedoch nur Datum und Ort verzeichnet sind; 13 wurden 2011, vier 2012 und zwei 2013 geführt. Schubert zitiert sich bei Bezug auf diese Interviews selbst mit Angabe von Ort und Datum des Gesprächs. Ich halte das für wissenschaftlich völlig wertlos und für unredlich. Weder weiß ich, mit wem der Autor worüber, noch wie lange und wann er an welchem Ort mit der betreffenden Person gesprochen hat. Aus solchen völlig anonymisierten Aussagen, die in jeder Hinsicht unüberprüfbar sind, irgendeine Schlussfolgerung abzuleiten, ist meines Erachtens schlichtweg unseriös. Darüber täuschen auch Schuberts Ausführungen über „Experteninterviews in der empirischen Sozialforschung“ (S. 59-70) nicht hinweg. Und daran ändert auch der Beitrag des Bielefelder Soziologen Stefan Kühl zur „bewussten Verfälschung“ empirischer Daten in der Sozialforschung, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Januar 2020, um die Anonymität zu gewährleisten, nichts. Welcher wissenschaftlich verwertbare Erkenntniswert wird erzielt, wenn ich die in einem niederbayerischen Dorf gewonnenen Ergebnisse nach Dithmarschen verlege? Das mag jeder anders beurteilen. Nach meiner Ansicht sind solche Erträge der Forschung wenig bis gar nicht relevant. Darüber hinaus unterlaufen dem Autor auch hin und wieder sachliche Fehler oder Ungenauigkeiten. So war die „EM 1998 in Frankreich“ (S. 87f.) eine Weltmeisterschaft, bei der Frankreich erstmals Fußballweltmeister wurde. Nach 1984 fand erst 2016 die EM wieder in Frankreich statt. Austria Wien, längere Zeit auch als „Amateure“ bekannt, werden „jüdische Wurzeln“ (S. 83 und 406-408) nicht nur „zugeschrieben“. Der Verein hat seine jüdischen Wurzeln im weitgehend assimilierten Wiener jüdischen Bürgertum des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Nationalsozialisten jedenfalls haben den Verein wenige Tage nach dem „Anschluss“ 1938 verboten und das Vereinsvermögen beschlagnahmt. Der größte Kontrahent der Austria war übrigens der SC Hakoah (Die Kraft) Wien, der sich explizit als Vertreter des Zionismus definierte.

Auch die Feststellung Schuberts, es habe in den 1980er Jahren vermehrt „afrikanische Spieler“ in der Bundesliga gegeben, kann ich so nicht nachvollziehen. Bei Internetrecherchen konnte ich drei Spieler ausfindig machen, von denen allerdings zwei, Ibrahim Sunday bei Werder Bremen und Etepe Kakoko beim VfB Stuttgart, kaum in Erscheinung getreten sind. Längere Zeit aktiv war der 1965 in Bonn-Bad Godesberg als Diplomatensohn geborene Anthony Baffoe, der mit wechselndem Erfolg zwischen 1983 und 1992 in der 1. und 2. Bundesliga spielte. Die Zeit der afrikanischen Fußballer in der Bundesliga begann mit Anthony Yeboah und Jay-Jay Okocha bei Eintracht Frankfurt erst in den 1990er Jahren.

Als Fazit ist festzuhalten, dass ein durchaus informatives und wichtiges Buch vorliegt, ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Thematik geleistet wurde, allerdings mehr möglich gewesen wäre.

 

Markwart Herzog/Fabian Brändle (Hg.), European Football During the Second World War. Training and Entertainment, Ideology and Propaganda, Oxford u.a.: Peter Lang 2018, 507 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-1-78874-476-8, € 69,95

Der vorliegende Band ist die englische Übersetzung der 2015 in Stuttgart erschienenen deutschen Originalfassung „Europäischer Fußball im Zweiten Weltkrieg“. Die Bände versammeln die Beiträge einer Konferenz in der Schwabenakademie Irsee im Februar 2012 zu diesem Thema. Markwart Herzog, Direktor der Akademie, ist seit Jahren als einer der profiliertesten Sport-, insbesondere Fußballhistoriker bekannt, und auch sein Schweizer Mitherausgeber Fabian Brändle gilt seit langer Zeit als fundierter Kenner der internationalen Sport- und Fußballgeschichte. Versammelt sind insgesamt 19 Beiträge von mehr oder weniger renommierten Kolleginnen und Kollegen über Fußball im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Deutschland, Österreich, Spanien, Italien, die Schweiz, Großbritannien, auf England reduziert, Palästina, die Sowjetunion, Serbien und Polen. Das Thema ist in jeder Hinsicht wichtig und bisher kaum behandelt worden, vor allem nicht in vergleichender Perspektive, die dieser Band nun bietet.

Am Ende stehen drei Aufsätze zum Thema „Fußball im Krieg als Thema der Künste“. Der Musikwissenschaftler Martin Hoffmann beschäftigt sich mit der Oper des englischen Komponisten Mark-Anthony Turnage „The Silver Tassie“ (entstanden zwischen 1997 und 1999), in der es um Fußball während des Ersten Weltkrieges geht. Turnage, so erfahren wir, ist, wie einige andere bekannte Komponisten auch, darunter Dmitrij Schostakowitsch (Fan von Zenit Leningrad bzw. St. Petersburg), ein bekennender Fußballfan des FC Arsenal London. In Deutschland wurde diese Oper offensichtlich bislang noch nicht aufgeführt, auch über Aufführungen in Großbritannien erfahren wir kaum etwas. Markwart Herzog behandelt den deutschen Spielfilm „Das große Spiel“ des Film- und Theaterregisseurs sowie Autors Robert Adolf Stemmle, der sowohl in der Weimarer Republik als auch im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik erfolgreich war. Im Film geht es um eine Liebesgeschichte und um den Gegensatz zwischen einem „bürgerlichen“ und „proletarischen“ Verein. Neben bekannten Schauspielern waren auch der damalige Reichsund spätere Bundestrainer Josef „Sepp“ Herberger sowie einige Nationalspieler am Film beteiligt. Der dritte Beitrag des Filmhistorikers und -wissenschaftlers Jan Tilman Schwab behandelt die literarische und filmische Behandlung des „Todesspiels von Kiev“ im August 1942, worauf ich gleich noch eingehen werde.

Wie bei Sammelbänden üblich, fehlt der Platz, um alle Beiträge zu würdigen. Sie sind durchaus lesenswert und bieten viele neue Fakten, Aspekte und Gesichtspunkte. Sie alle zeigen, in wie hohem Maße Sport, hier der Fußballsport, ein Stück Normalität inmitten der Schrecken des Krieges und des Grauens der Vernichtung darstellte. In seinem Beitrag über Fußball im besetzten Polen geht Thomas Urban auch sehr knapp auf die Spiele in den Konzentrationsund Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau ein. Zum Sport in Lagern, lange Zeit ein verdrängtes Thema, haben Anke Hilbrenner, Gregor Feindt und ich 2018 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht den Band „Sport under Unexpected Circumstances. Violence, Discipline, and Leisure in Penal and Internment Camps“ veröffentlicht. Der Band enthält neben dem schon genannten Aufsatz von Jan Tilman Schwab noch einen zweiten Artikel der ukrainischen Wissenschaftler/Publizisten Maryna und Oleksandr Krugliak aus Zhitomir zum sog. Todesspiel in Kiev, ein mit sowjetischen Propagandamythen behaftetes Spiel zwischen der ukrainischen Mannschaft einer Brotfabrik (FK Start) und einer Elf der deutschen Luftwaffe (Flakelf) im August 1942. Nach einem hohen Sieg von „Start“, zumeist Spieler des aufgelösten Vereins Dynamo Kiev, gegen die „Flakelf“ kam es drei Tagen später zu einem „Revanchespiel“ – so wurde das Match auch auf Plakaten angekündigt – das erneut die Ukrainer mit 5:3 Toren gewannen. Daraufhin, so die nach dem Kriegsende einsetzende sowjetische Propaganda, seien die Spieler der ukrainischen Mannschaft von deutschen Soldaten ermordet worden. Dies ist in Russland die bis heute weitgehend gültige Lesart, die 2012 noch einmal in dem russischen Film „Das Match“ verfestigt wurde. In der Ukraine und im restlichen Europa ist dies seit Beginn des 21. Jahrhunderts als „Mythos“ und Propaganda enthüllt worden. Leider benutzen die beiden ukrainischen Autoren/innen nur ukrainische und russische Literatur und auch Schwab verweist nicht auf den Beitrag von Gregor Feindt aus dem Jahre 2012 in dem online zugänglichen „Handbuch der Sportgeschichte Osteuropas“, das seit 2012 federführend von Anke Hilbrenner herausgegeben wird und auf dem Server des Leibniz Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg liegt. Feindt befasst sich mit diesem Spiel als „Erinnerungsort“ der sowjetisch-ukrainischen Geschichte. Auf dessen Beitrag verweist nur Markwart Herzog in seinem einführenden Artikel. Im Beitrag der ukrainischen Autor/innen gab es „die Ukraine“, so wird suggeriert, als eine Einheit schon im 19. Jahrhundert. So fand das erste ukrainische Fußballspiel am 14. Juli 1884 in Lemberg (L’vov, L’viv, Lwów) statt, als die Stadt im Habsburgerreich lag und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis 1945 zu Polen gehörte. Man kann dies auch anders sehen. Lemberg war ein Teil Galiziens, das in der österreichischen Reichshälfte eine relativ große Autonomie besaß; die Einwohner waren mindestens zur Hälfte Polen, ein weiteres Viertel waren Juden, das letzte Viertel verteilte sich auf Ruthenen (Ukrainer), Deutschsprachige (Österreicher und Deutsche), Armenier und andere. Das erste Fußballspiel fand nach polnischen Quellen am 14. Juli 1894 zwischen Stadtmannschaften aus Lemberg und Krakau statt. Es endete nach sechs Minuten, nachdem Włodzimierz Chomicki aus Lemberg das erste Tor geschossen hatte. Der Staat Polen existierte zu dieser Zeit ebenso wenig wie ein ukrainischer Staat. Welche Rolle dabei die polnische nationale Turnbewegung „Sokół“ (Der Falke) gespielt hat, ist bisher kaum geklärt. In jedem Falle aber war der Lemberger Universitätsprofessor Henryk Jordan dabei sehr aktiv, der das Fußballspiel wahrscheinlich während seiner Auslandsaufenthalte in England und der Schweiz kennengelernt hatte.

Interessanterweise gibt es in dieser knappen historischen Einleitung keinen Hinweis auf die Geschichte des heute zumindest Fußballkennern bekannten ukrainischen Klubs „Shakhtar Donetsk“, der schon, wie die meisten sowjetischen Klubs, vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, als die 1869 gegründete Stadt Juzovka hieß, benannt nach ihrem britischen Gründer John Hughes. Jan Tilman Schwab schreibt übrigens in der deutschen Fassung, auf den Ankündigungsplakaten des Spiels seien die Namen der Spieler ukrainisch geschrieben (S. 371). Da die Plakate in beiden Fassungen abgebildet sind, ist festzuhalten, dass dies nicht der Fall ist. Zwar ist das Plakat ansonsten auf Ukrainisch, aber die Namen sind russisch geschrieben. Warum das so ist, wäre eine Erklärung wert.

Wer etwas über Sport, insbesondere über Fußball als Massensport, im Laufe des Zweiten Weltkriegs erfahren möchte, dem sei dieser Band in deutscher oder englischer Version sehr nachdrücklich empfohlen. Lohnend sind vor allem die Beiträge der beiden Herausgeber, von Ulrich Matheja zur deutschen Nationalmannschaft von 1942 bis 1950, von David Forster und Georg Spitaler zum Wiener Fußball in den Kriegsjahren, von Christian Koller zum Schweizer Fußball im Ersten und Zweiten Weltkrieg, von Alexander Friedman über Fußball in den besetzten sowjetischen Gebieten und von Thomas Urban über Fußball im Untergrund im besetzten Polen und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.

 

Hans Woller, Gerd Müller. Oder wie das große Geld in den Fußball kam. München: C.H. Beck Verlag 2019, 352 S., 29 Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-406-74151-7, € 22,95

Gerd Müller, geboren 1945 in Nördlingen, seit einiger Zeit an Demenz erkrankt, ist eine Legendengestalt des Weltfußballs: „Bomber der Nation“, „achtes Fußball-Weltwunder“ und „kleines, dickes Müller“. So lauten nur einige der gängigen Bezeichnungen für ein Phänomen der Fußballgeschichte. Aus seinem Nachnamen wurde das Verb „müllern“ gemacht, um die häufig einmalig genialische Art und Weise seiner Tore adäquat zu beschreiben. Er ist auch mehr als 40 Jahre nach seinem letzten Bundesligaspiel immer noch deren Rekordtorschütze mit 365 Treffern in 427 Spielen und war siebenmal Torschützenkönig der Saison. Nun ist dieses Buch des Münchner Historikers Hans Woller, ein Spezialist für die Geschichte Italiens, nicht die erste Biographie dieses Jahrhundertspielers, allerdings die erste wissenschaftlich fundierte Studie. Woller war in München am Institut für Zeitgeschichte tätig und dort über 20 Jahre Chefredakteur der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“. Er neigt bisweilen zu einer leicht selbstgefälligen Überheblichkeit und sieht sich augenscheinlich als Pionier einer fachlich fundierten Sport- bzw. Fußballgeschichte (S. 12). Aber vor ihm gab es mit seinem Münchner Kollegen Thomas Raithel, mit Franz-Josef Brüggemeier, Nils Havemann, Wolfram Pyta, Markwart Herzog, Christiane Eisenberg und vielen anderen schon eine ganze Reihe von Fachhistorikern, die das Feld beackert haben. Von den angloamerikanischen Kollegen/innen einmal ganz abgesehen, die der deutschsprachigen Sporthistoriographie um einiges voraus sind. Auch ich habe, wenn auch meist im Bereich der Osteuropäischen Geschichte, zur Sport- und Fußballgeschichte gearbeitet und hinlänglich publiziert. Und ärgerlich sind solche journalistischen Koketterien, wie der alberne Satz Dirk Schümers: „Über Fußball kann man nicht schreiben, Fußball ist selbst Literatur.“ Als ob man nicht über Literatur geschrieben hätte oder weiterhin schreiben würde.

Wie auch immer, Woller geht es, dies wird bald deutlich, nicht so sehr um Gerd Müller als legendären Fußballspieler, sondern, wie es der Untertitel deutlich macht, um die Begleiterscheinungen des „modernen“ Fußballs, um politischen und finanziellen Einfluss, um die Beziehungen zwischen Fußball und Journalismus und um Sport und Medizin. Und selbstverständlich auch darum, wie ein Fußballverein in den 1960er und 1970er Jahren funktionierte, falls denn der FC Bayern München dafür ein geeigneter Prototyp ist. Was man auch bezweifeln kann, wenn man vom Niederrhein kommt, also etwa aus dem Großraum Mönchengladbach, und nicht die Protektion einer Landesregierung, der dort regierenden Partei und der städtischen Politik und Verwaltung genießt.

Woller nutzt die Lebensgeschichte Gerd Müllers, um die Verstrickungen des FC Bayern München in das System „Schwarzer Kassen“, illegaler Zahlungen und Steuerhinterziehungen aufzudecken. Dies war seit der Mitte der 1960er Jahre, der Einführung der Fußballbundesliga, ein Teil des sich entwickelnden „Filz“ zwischen dem aufstrebenden Fußballsport und den politischen Entscheidungsträgern. Dafür bietet der Verein ein gutes Beispiel. Der Autor konnte zwar nicht das Archiv des FC Bayern, dafür aber staatliche und Parteiarchive nutzen, darunter auch den Bestand zum Verein beim Münchner Registergericht. All dies zeigt deutlich, wie das System funktionierte, ist aber nicht gänzlich neu und unbekannt.

„Schwarze Kassen“ und illegale Zahlungen kennt der Fußball in Deutschland spätestens seit den 1920er Jahren, als ein gewisser Josef „Sepp“ Herberger für einen Vereinswechsel ein Handgeld kassierte, das er dann allerdings wieder zurückzahlte. Auch der FC Schalke 04 war 1930 wegen „überhöhter“ Spesenzahlungen vom Spielbetrieb ausgeschlossen worden; 1965 wurde Hertha BSC Berlin zum Zwangsabstieg aus der Bundesliga verurteilt, weil rund 200.000 DM nicht ordnungsgemäß verbucht worden waren. 2012 erzählte ein ehemaliger Spieler von Eintracht Frankfurt auf einer Tagung in Leipzig im Vorfeld der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine wie Ende der 1950er Jahre größere Summen in Briefumschlägen an Spieler verteilt wurden, um sie vom Vereinswechsel abzuhalten. Ob auf diese Weise tatsächlich das „große Geld“ in den Fußball kam, lasse ich einmal dahingestellt. Ebenso war die Praxis der Auslandstourneen nach Nord- und Südamerika zur Geldbeschaffung spätestens seit den 1920er Jahren üblich, als Hakoah Wien, in Österreich gab es Profifußball seit Anfang der 1920er Jahre, diese Möglichkeit nutzte, um die teure Mannschaft zu finanzieren. Sogar in der DDR wurde dies praktiziert, um Devisen zu beschaffen, wie Peter Ducke, einer der großen Stars des DDR-Fußballs der 1960er und 1970er Jahre berichtet.

Und überall verbreitet war auch, gesundheitsschädlich hin oder her, das Schlucken aller möglichen Pillen und das Setzen von Spritzen unklaren Inhalts, das schon beim Finale in Bern 1954 praktiziert worden sein soll. Das sind sicherlich alles sehr unerfreuliche Fakten und Ereignisse für den „sauberen“ Sport, aber umwerfend neu sind sie nicht, wenn auch dieses Mal ausgesprochen gut dokumentiert.Darüber hinaus schreibt auch Woller die ein oder andere Mär weiter fort. Die nicht nur in diesem Buch gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, der Fußball sei vor den 1970/80er Jahren ein „Proletensport“ gewesen, wird dadurch nicht richtiger und ist und bleibt ein Mythos, den Mittel- und Oberschichten „erfunden“ haben, um von ihrer Faszination für ein an sich völlig sinnloses Spiel abzulenken. Wenn man genauer hinschaut, so stammte die Führung fast aller Fußballvereine, auch im Ruhrgebiet, das vor den 1930er Jahren sowieso ohne große Bedeutung für den Fußballsport war, aus den Mittel- und Oberschichten. Schon Konrad Adenauer hatte in seinen Zeiten als Kölner Oberbürgermeister (1917–1933) dessen politische, wirtschaftliche und soziale Bedeutung erkannt und ließ keine Gelegenheit aus, bei Länderspielen im Müngersdorfer Stadion eine Bankettrede zu halten.

Bisweilen durchzieht ein etwas herablassender Ton das Buch. Udo Jürgens wird als „Schlagersänger“ charakterisiert, die Fußballer sind „Unterhaltungskünstler“ und Gerd Müller erscheint an einigen Stellen als tumber Tor aus einer schwäbischen Kleinstadt. Inwieweit die häufiger zitierten Boulevardblätter wie „Bild“, die Münchner „Abendzeitung“ oder Illustrierte wie „Quick“ oder „Bunte“ verlässliche Quellen sind, lasse ich einmal dahingestellt. Zu selten, so finde ich, wird die Bedeutung Müllers für den FC Bayern, den bundesdeutschen und den internationalen Fußball hervorgehoben. Wie auch immer das Verhältnis zwischen Gerd Müller, Franz Beckenbauer und Paul Breitner gewesen sein mag, so treffen ihre Einschätzungen doch den Kern der Sache. „Ohne die Tore vom Gerd“, so Beckenbauer, „würden wir immer noch in der Bretterbude an der Säbener Straße sitzen“; „Gerd Müller“, so Paul Breitner, in Wollers Darstellung einer, wenn nicht der Intimfeind Müllers, „ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat.“ Da konnte die „Lichtgestalt“ Beckenbauer noch so schön spielen, ohne Müllers Tore wär’s brotlose Kunst geblieben. Nur eingangs schildert der Autor einmal Müllers große Kunst des Toreschießens am Beispiel seiner zwei Treffer in der Wiederholung des Finales im Europapokal der Landesmeister (Vorläufer der Champions League) gegen Atlético Madrid am 17. Mai 1974 im Brüsseler Heysel-Stadion. Kaum Raum gibt es für die Spiele der Europameisterschaft 1972 und vor allem für die der Weltmeisterschaft 1974, die fußballerisch „große Kunst“, nicht nur zur Unterhaltung, boten. Wenn man über Fußball schreibt, dann sollte man den Ereignissen auf dem grünen Rasen auch ihren gebührenden Platz einräumen. ˜

Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Profes­ sor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwer­ punkte: Russische ­Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert,

Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration.

 

 

 

 

 

 

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