Biografien

Vergessene Poetinnen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2023

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Poet synonym zu dem Begriff Dichter und in diesem Zusammenhang gelegentlich auch für Schriftsteller oder Autoren allgemein verwendet. Im 20. Jahrhundert gilt er lange Zeit als veraltet, seit der Jahrtausendwende taucht er als Neologismus für die Internetseite poetenladen.de und den Verlag poetenladen wieder auf. In diesem Sinne ist er für die folgenden Rezensionen also nicht veraltet. Die ersten beiden hier vorgestellten Bücher dienen als Einstieg in das Thema.

Elke Heidenreich: Hier geht`s lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben. München: Eisele Verl., 2021. 189 S. ISBN 978-3-96161-120-1. € 26.00

    Elke Heidenreich „möchte bis zuletzt die Leidenschaft für das Lesen wecken und vermitteln. Es gibt so viele Arten zu lesen … Man kann sich beim Lesen der Welt entziehen durch Flucht ins Buch, man kann aber auch lesend erst die Welt entdecken, Lesen ist die Beteiligung am intellektuellen und ganz allgemein am gesellschaftlichen Leben.“ (S. 175).

    Elke Heidenreich und die Literatur – es ist eine lebenslange Liebesgeschichte! In diesem Buch geht es um das Thema Mit Büchern von Frauen durchs Leben, obwohl Literatur Literatur ist, „egal, ob von Männern oder Frauen geschrieben.“ (S. 8) Doch die Bedeutung weiblicher Literatur und ihr Einfluss auf Frauen wird noch immer unterschätzt. Heidenreichs Bilanz ist keine Literatur- sondern eine Lebensgeschichte, „weder eine feministische Einordnung von Literatur noch der Versuch einer Literaturgeschichte von Frauen.“ (S. 7) „Ich möchte vor allem von den Büchern erzählen, die für mich wichtig wurden als ich jung und auf der Suche war … Auch als ich älter wurde, war Literatur das Geländer, an dem ich mich festhielt und das mir Orientierung gab, mich durchs Leben leitete. Als wollte sie mir sagen: Hier geht`s lang.“ (S. 10)

    Elke Heidenreich führt uns durch die wichtigen, prägenden, rettenden Bücher. Es ist ein chronologisches Kaleidoskop durchs Leseleben. Das Kind liest u.a. Magda Trott und die zwölfbändige Pucki-Serie mit dem erzkonservativen Frauenbild, Else Ury und die schon fortschrittlichere zehnbändige Jugendbuchreihe „Nesthäkchen“ (Else Ury wird als Jüdin 1943 in Auschwitz ermordet). Das Mädel liest u.a. die „Heidi“-Bücher von Johanna Spyri und die Bücher der großen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, sie liest „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson zu den Wildgänsen“ von Selma Lagerlöf, der ersten mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Frau, und sie liest Werke des großen Märchenerzählers Hans Christian Andersen. Der Backfisch beschäftigt sich u.a. mit Anne Golon und „Angélique“, Margaret Mitchell und „Vom Winde verweht“ oder Christa Wolf und „Kein Ort. Nirgends“ („eines meiner Lebensbücher“ S. 100). Stopp! Mehr geht nicht. Bitte selbst lesen und überraschen lassen. Das alles liest sich wie ein Tagebuch, untermalt mit Zitaten und mehr als einhundert farbigen Fotos und Abbildungen. Eine Leseautobiografie mit Anregungen, zum Nachdenken, wie immer großartig geschrieben.

     

    Christine Westermann: Die Familien der anderen. Mein Leben in Büchern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022. 212 S. ISBN 978-3-462-00301-7. € 23.00

      Christine Westermann ist eine stille Verehrerin von Elke Heidenreich. „So eine leidenschaftlich laute, so eine überzeugte Vielleserin wäre ich auch gern gewesen.“ (S. 47) Mit Die Familien der anderen muss sie aber ihr eigenes Licht nicht unter den Scheffel stellen. Sie schreibt eine Leseautobiografie anhand von 47 Büchern, mit denen sie Begebenheiten in ihrem Leben verbindet und taucht mit ihnen in die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ein. „Mich treibt die Neugier auf Familien der anderen an und um. In Romanen zu lesen, wie man halbwegs heile durchs Leben gehen kann, obwohl man in einer ramponierten Familie aufgewachsen ist.“ (S. 204) Es ist eine kurzweilige interessante Zeitreise durch das Leben der Christine Westermann.

      Sie erzählt aus ihrer Kindheit und Jugend, von ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Vater, der verstirbt, als sie 13 Jahre alt ist, von ihrem beruflichen Werdegang, insbesondere ihrem Weg zum Journalismus, und von den Büchern, die ihr Leben kreuzen, bereichern oder nicht tangieren.

      Anlass für dieses Buch ist die Lektüre eines Klassikers: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Der Rezensent fasst Westermanns Leseergebnis mit einem Zitat von Italo Calvino zusammen: „Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen. Die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.“ (S. 204) Als Kind erlebt Westermann die Rückkehr des Vaters aus dem Krieg. Sein Buch wird Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“, die „die Grausamkeiten auf den Schlachtfeldern bis ins Detail“ (S. 23) schildert und mit diesem leidenschaftlichen Plädoyer gegen den Krieg den Erfahrungen ihres Vaters, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum überzeugten Pazifisten wird, sehr nahe kommt. Stellvertretend für Beziehungsromane nennt Westermann „Der größte Spaß, den wir je hatten“ von Claire Lombardi („Welch ein Vergnügen, diesen Roman zu lesen“ S. 43). Sie analysiert „Gruber geht“, einen Roman von Doris Knecht um einen krebskranken Menschen, der „Roman bleibt elegant in Balance zwischen Zynismus und menschlicher Wärme, Hoffnung und Enttäuschung“ (S. 48).

      Viele Überraschungen! Also wie in der Empfehlung für das Buch von Elke Heidenreich: Bitte selbst lesen und staunen. Es überrascht immer wieder die ehrliche unkonventionelle Art der Bewertung. Und „Verrissen, niedergemacht habe ich kein einziges. Vorher habe ich es lieber aussortiert, nicht weitergelesen.“ (S. 11)

       

      Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk / Hrsg. Ute Pott. Göttingen: Wallstein Verl., 2022. 288 S. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt, Band 12) ISBN 978-3-8353-5303-9. € 24.00

         

        Anna Louisa Karsch: Briefe und Gedichte / Hrsg. Claudia Brandt, Ute Pott. Göttingen: Wallstein Verl., 2022. 416 S. (Schriften des Gleimhauses Halberstadt, Band 13) ISBN 978-3-8353-5277-3. € 34.00

          In Literaturlexika selten erwähnt und mit ihren Werken in Vergessenheit geraten, sind der 200. Todestag und 300. Geburtstag von Anna Louisa Karsch (1722–1791) für Claudia Brandt, Ute Pott, das Gleimhaus Halberstadt und den Wallstein Verlag Anlass, eine der eindrucksvollsten Dichterinnen und Briefschreiberinnen das 18. Jahrhunderts durch zwei außerordentliche Publikationen zu reaktivieren.

          „Ihre Biografie, ihr Äußeres, ihr Auftreten sowie ihre Dichtung und ihre Briefe, alles versetzte die literarische Welt in Erstaunen.“ (S. 239) Anna Louisa Karsch hinterlässt ein umfangreiches Werk. Sie kann ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie mit den Einkünften aus ihren Dichtungen und durch Unterstützung von Gönnern sichern. In diesem Sinne gilt sie als die „erste deutsche Berufsschriftstellerin“ (S. 246).

          Karsch, die sich selbst Karschin nennt, entstammt ärmlichen Verhältnissen, der Vater Christian Dürbach ist Wirtshauspächter in Hammer/Schlesien, die Familie führt ein unstetes Leben, sie muss früh als Magd und Rinderhirtin zum Unterhalt beitragen. Sie wird verheiratet, lässt sich scheiden, heiratet erneut, beide Männer bringen ihr kein Glück. Sie geht 1761 nach Berlin und wird dort auf Grund ihrer Fähigkeit, aus dem Stegreif heraus zu dichten, in gelehrten Kreisen eine Berühmtheit. Sie begegnet Johann Georg Sulzer, Karl Wilhelm Ramler und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, dichtet und pflegt lebenslange Briefbekanntschaften, sie dichtet für das preußische Königshaus (u.a. die Ode an Friedrich dem Großen 1756), erhält 1789 durch Friedrich Wilhelm II. ein Haus am Hackeschen Markt. Ihre Gedichte erscheinen 1764 und 1772 und postum in Herausgabe ihrer Tochter, der Schriftstellerin Caroline Lise von Klencke 1792 und 1797. Geehrt durch ein steinernes Denkmal in Halberstadt schon zu Lebzeiten (es ist das erste deutsche Dichterstandbild), durch eine Gedenktafel in der Berliner Sophienkirche 1802 und ein Erinnerungsbuch ihrer Enkelin Helmina von Chézy 1858. Und dann verlieren sich die Spuren immer mehr.

          Plötzlich Poetin!? beinhaltet als Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Gleimhaus in Halberstadt u.a. zahlreiche Essays, beispielsweise die Rezeption der antiken Dichterin Sappho bei Karsch, Karschs Auseinandersetzungen mit Homer, die Porträts der Karsch, die Vernetzung der Dichterin hinsichtlich ihres Briefwechsels in der Schweiz und in Frankreich, Karsch im Kontext der österreichischen Aufklärung. Ergänzt wird der Katalog durch ein Verzeichnis eigenständiger Publikationen von Karsch, eine tabellarische Biografie, ein Literaturverzeichnis und ein Register.

          Briefe und Gedichte enthält die schönsten und wichtigsten Briefe und Gedichte der Karschin. Es werden ausschließlich Texte aufgenommen, die eigenhändig erhalten sind. Die Texte (230 Seiten) werden ergänzt durch einen umfangreichen Anhang (185 Seiten), der ein Paradebeispiel editorischer Akribie ist und Maßstäbe setzt und als Vorbild für andere derartige Veröffentlichungen gelten kann als im vorliegenden Fall sind: Nachwort – Editorischer Bericht – Abkürzungen und Kurztitel – Kommentar zu den Briefen – Kommentar zu den Gedichten – Verzeichnis der Briefe und Gedichte – Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge – Register. In den Auswertungen wird sichtbar, dass die Gedichte schon zu Lebzeiten nicht unumstritten sind. Und zwischen Brief und Gedicht ist eine Unterscheidung nicht immer möglich.

          Beide Bände sind für die Karsch-Forschung unverzichtbar.

           

          Kerstin Gräfin von Schwerin: Friederike Brun. ­Weltbürgerin in der Zeitenwende. Göttingen: ­Wallstein Verl., 2019. 381 S. ISBN 978-3-8353-3275-1. € 39.90

            Es ist die erste Biografie über Friederike Brun (1765–1835). Nach jahrelangen Forschungen mit erstmaliger minutiöser Auswertung des umfangreichen Nachlasses aus Tagebüchern, Exzerpten, Notizen, Briefen und Publikationen kommt Kerstin Gräfin von Schwerin zu dem Ergebnis: Friederike Brun ist „eine außergewöhnliche Frau: hochgebildet, kosmopolitisch, vielgereist, aufgeschlossen, neugierig auf Menschen; ihre Interessen erstaunlich breit gefächert … feinsinnig, elegant und selbstbewusst“ (S. 9). Im Mittelpunkt des Buches stehen Netzwerke und Publikationen und weniger das Leben der Protagonistin. Die Autorin bezeichnet sie als Weltbürgerin in der Zeitenwende und wichtige Netzwerkerin, als Salonière, in deren Häusern namhafte Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Staatsmänner aus ganz Europa verkehren wie Angelika Kauffmann, Wilhelm von Humboldt und Carl Ludwig Fernow. Sie ist mit Johann Gottfried Herder, Karl Viktor von Bonstetten, Caroline von Humboldt und Friedrich von Matthisson befreundet, sie fördert Künstler wie Bertel Thorvaldsen und Antonio Canova. Friederike Brun ist eine wichtige „Kulturvermittlerin zwischen, Skandinavien, Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz.“ (S. 9) Ihre literarische Produktion umfasst neben Gedichten, Reisebeschreibungen und autobiografischen Schriften auch zahlreiche kunstkritische Arbeiten, die einen wesentlichen Beitrag zu den Kunst- und Kulturdebatten leisten. Sie tritt auch vehement für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein wie beispielsweise ihr Engagement für den Freiheitskampf in Griechenland („Lieder für Hellas“) eindrucksvoll zeigt. Sie wird von Zeitgenossen oft mit der französischen Schriftstellerin Madame de Staël verglichen, mit der sie nach 1800 befreundet ist.

            Ihr Gedicht „Ich denke dein“ (S. 92) hat Goethe in der Vertonung von Carl Friedrich Zelter zu seinem Gedicht „Nähe des Geliebten“ inspiriert, das 1799 von Beethoven vertont wird; es zählt zu den am häufigsten vertonten Gedichten Goethes. Zu ihrer Biografie: Friederike Münter wird in Gräfentonna im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg als Tochter des lutherischen Pfarrers Balthasar Münter geboren, 1770 wird ihr Vater Bischof in Kopenhagen. 17jährig heiratet sie den dänischen Geschäftsmann Constantin Brun. Ihre repräsentativen Häuser in Kopenhagen und in Rom werden zu wichtigen Salons. Zahlreiche Reisen führen die Familie in die Schweiz, nach Frankreich und nach Italien. Von den 1810er Jahren bis zu ihrem Lebensende verweilt sie hauptsächlich in Kopenhagen und in der nahe gelegenen Sommerresidenz Sophienholm.

            Kerstin Gräfin von Schwerin legt ein lebendiges Porträt von Friederike Brun insbesondere über das Netzwerk und die Publikationen vor. Es ist ein wichtiger Beitrag für die weitere Forschung zur Kultur- und Geistesgeschichte in der europäischen Umbruchszeit um 1800.

             

            Dominique Fortier: Städte aus Papier. Vom Leben der Emily Dickinson. München: Luchterhand Literaturverl., 2022. 187 S. ISBN 978-3-630-87696-2. € 20.00

              Die mehrfach ausgezeichnete franko-kanadische Schriftstellerin Dominique Fortier widmet sich in Städte aus Papier Emily Dickinson (1830–1886), über deren Leben und Werk wenig bekannt ist. Daraus entsteht eine teils biografische, teils erfundene Geschichte. Die Autorin zeigt in Momentaufnahmen, wie das Leben von Emily hätte verlaufen können. Sie wählt dafür eine ungewöhnliche Form: Wunderschöne poetische Erzählungen wechseln mit essay­artigen Sequenzen ab, die durch verschiedene Episoden aus dem Leben der Autorin abrupt unterbrochen werden; in welchem Zusammenhang diese Passagen mit und zu Emily stehen, bleibt dem Rezensenten ein Rätsel.

              Die Autorin verzichtet weitgehend auf die Wiedergabe von Daten und Fakten aus Emilys Leben und Schaffen, so dass es sinnvoll erscheint, dies in dieser Rezension kurz nachzuholen: Emily Dickinson aus Amherst/Massachusetts, ein Ort, den sie nie verlässt, entstammt einer calvinistischen Familie, ihr Vater ist Rechtsanwalt und zeitweise auch Kongressabgeordneter. Sie besucht die örtliche Academy (1840–1847), wechselt auf das Mount Holyoke Femal Seminary (1847–1848), bricht die Schule wegen Depressionen ab, wird immer menschenscheuer und verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer, persönliche Kontakte pflegt sie nur zu wenigen Menschen, im Nachlass finden sich als Brücke zur Außenwelt zahlreiche Briefe. Emily aber schreibt Gedichte, die Vereinsamung und Krankheiten schreiten fort, sie stirbt mit 56 Jahren. Nur sieben ihrer 1775 Gedichte werden zu Lebzeiten veröffentlicht. Es sind Verse über die Natur, über Einsamkeit und Schmerz, über Glück und Liebe und über die Todeserwartung und den Tod.

              Die Werbung des Verlags auf der Rückseite des Schutzumschlags soll den Leser zu folgender Person führen: „Dichterin von Weltformat. Feministische Ikone. Eine der faszinierendsten Frauen des 19. Jahrhunderts. Wer war Emily Dickinson wirklich?“ Den Beweis bleibt die Autorin schuldig. Rebelliert Emily wirklich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Zeit? Und das in ihrer Abgeschiedenheit und Einsamkeit? Oder wollen die Eltern sie mit ihrer Krankheit nur beschützen? Hat sie wirklich so gedacht und gefühlt?

              Was diese Dokufiktion ohne Quellenangaben und mit fiktiven Gesprächen und Selbstgesprächen auszeichnet, ist eine aus kleinen Momentaufnahmen zusammengesetzte poetische Erzählung aus Fakten und der Vorstellungskraft der Autorin – ein kleines Buch voller wunderbarer Gedanken, ein Einstieg in die geheimnisvolle Welt der Emily Dickinson – mehr leider nicht.

               

              Herward Sieberg: Elisabeth von Heyking. Ein romanhaftes Leben. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verl., 2012. 628 S. ISBN 978-3-487-14774-1. € 49.80

                 

                Herward Sieberg: Die Dichterin Irene Forbes-Mosse. Enkelin der Romantik in stürmischen Zeiten. Hildes ­ heim, Zürich, New York: Georg Olms Verl., 2022. 541 S. ISBN 978-3-487-16137-2. € 49.80

                  Zwei (fast) vergessene Persönlichkeiten erleben durch Herward Sieburg eine Wiederbelebung. Es ist ein Familienpanorama zu den Schwestern Elisabeth von Heyking (1861– 1925) und Irene Forbes-Mosse (1864–1946), auf über 1.100 Seiten, nach akribischen Studien unter Auswertung der umfangreichen Nachlässe meisterhaft verfasst. Elisabeth und Irene sind Töchter des preußischen Gesandten im Großherzogtum Baden, Albert Graf von Flemming, und seiner Frau Armgart geb. von Arnim, sie sind damit Enkelinnen von Bettine und Achim von Arnim. Elisabeth von Heyking ist in zweiter Ehe mit dem Diplomaten im Dienst des Deutschen Reichs Edmund von Heyking verheiratet. An seiner Seite lebt sie von 1883 bis 1902 in Übersee, u.a. in Peking, Valparaiso, Kairo, New York und Kalkutta. Die Zeit von 1902 bis 1906 verbringt sie in Hamburg, wo ihr Mann nunmehr im Dienst des Königreichs Preußen Gesandter in Hamburg wird. Nach dem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst lebt die Familie ab 1907 in Baden-Baden. Später ziehen sie sich auf Schloss Crossen in Crossen an der Weißen Elster zurück. 1915 verstirbt ihr Mann, 1917 sterben ihre beiden Söhne im Krieg in Flandern, Elisabeth stirbt 1925.

                  In ihren Romanen schildert sie das Leben in höheren Gesellschaftskreisen, sie schöpft aus ihren Erfahrungen im fernen Ausland. Der erste 1903 noch anonym erscheinende Roman „Briefe, die ihn nicht erreichten“, dessen Titel zum geflügelten Wort wird, erzielt hohe Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski schreibt in seinem leider in Vergessenheit geratenen Buch „1903. Ein normales Jahr im imperialistischen Deutschland“ aus dem Jahr 1988 „ein humaner Aufschrei, dessen Echo nicht ganz verklingen sollte“ (S. 89). Ein zweiter Wurf gelingt Elisabeth von Heyking mit dem Buch „Tschun“, in dem sie die unruhigen Verhältnisse in China und die Intervention der imperialistischen Großmächte aus der Perspektive eines jungen Chinesen schildert. Postum erscheinen „Tagebücher aus vier Weltteilen (1886–1904)“, „eine Einführung in die Weltpolitik während der Hochphase des Imperialismus“. (S. 13)

                  Der Autor sieht Elisabeth von Heyking ganz in der Tradition ihrer Vorfahren, er bindet Leben und Werk in die historischen und politischen Wechselbeziehungen ein. „Wie zuvor kein anderer hat sie die Welt der Diplomatie in ihren Romanen und Novellen erschlossen. Überdies verdient sie unser lebhaftes historisches Interesse als kritische Zeitzeugin einer Epochenwende und als kluge politische Beobachterin in der Nähe der Mächtigen.“ (S. 551) Elisabeth ist ganz den Idealen der Bismarck-Ära behaftet und unterstützt die Hegemoniebestrebungen Deutschlands, während ihre jüngere Schwester Irene, von der das zweite Buch handelt, „eine Sehnsucht nach demokratischen Verhältnissen und sozialem Wandel“ (S. 11) entwickelt.

                  Irene Forbes-Mosse ist in zweiter Ehe mit dem englischen Oberst John Forbes-Mosse verheiratet, lebt mit ihm in Florenz und beginnt dort ihre schriftstellerische Tätigkeit. Nach dem Tod ihres Mannes 1912 unternimmt sie mehrere Reisen, lebt in Deutschland, Italien und der Schweiz, widmet sich im Ersten Weltkrieg sozialen Aufgaben und lebt ab 1931 mit ihrer Freundin Berthy Moser in Villeneuve am Genfersee, wo sie 1946 „gesundheitlich ruiniert und mental zermürbt“ (S. 13) stirbt. Irene ist hochbegabt, „Musik, Gesang, Literatur und Fremdsprachen zugewandt“ (S. 11). Sie entwickelt früh ein Rechtsgefühl, fühlt sich zu einfachen tüchtigen Menschen hingezogen und sucht die Nähe zu Tieren. Ihr literarisches Werk folgt den von Bettine und Achim von Arnim, sie ist eine Enkelin der Romantik in stürmischen Zeiten, aber ihr Einfluss auf das europäische Erbe geraten im Nationalsozialismus vollkommen in Vergessenheit. Das betrifft ihre Gedichte (der erste Band „Mezzavoce mit Illustrationen des Jugendstil-Malers Heinrich Vogeler erscheint 1901, vier Jahre später folgt ebenfalls mit Illustrationen von Vogeler der Band „Das Rosenthor“), Erzählungen (die ersten Erzählungen erscheinen 1910 unter dem Titel „Berberitzchen und andere“) und der erste Roman „Gabriele Alweyde oder Geben und Nehmen“ 1924.

                  Alfred Kerr schreibt über Irene: „Man streift jetzt im Wandern dichterische Gestalten, gleich der Irene ForbesMosse, die stärker ist als er [Thomas Mann] insofern sie, diese prachtvolle Frau, Enkelin der Bettina von Arnim, ohne Umstände mehr Dichterblut, mehr Allblut (kurz: Kraft) hat.“ (S. 341) Eine schöne Zusammenfassung ihrer dichterischen Arbeit bringt die Pädagogin und Pazifistin Anna Siemsen postum 1948: „Es sind abseitige Geschichten. Sie sind nicht für jene vielen, die Sensation suchen und vom Gewühl des Tages in neue Aufregung flüchten. Und es sind stille Geschichten. Man muss ihnen so lauschen, wie man auf das Rauschen eines Brunnens horcht oder das Flüstern des Nachtwinds in den Bäumen.“ (S. 467)

                   

                  Elisabeth H. Debazi: Else Feldmann. Schreiben vom Rand. Journalistin und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau Verl., Wien, Köln, Weimar, 2021. 305 S. ISBN 978-3-205-21212-6. € 45.00

                    Eine lang vergessene jüdische Autorin wird wiederentdeckt und mit der Herausgabe mehrerer ihrer Werke gewürdigt. Schwerpunkt des Buches Else Feldmann. Schreiben vom Rand. Journalistin und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit sind deren Werke im Kontext ihrer Zeit in fünf Kapiteln (Schreiben zwischen Aufbruch und Untergang – Anfänge auf dem Theater – journalistische Arbeiten – Romane – Poetik des Schreibens vom Rand). Else Feldmann (1884–1942) entstammt prekären Verhältnissen. Als ihr Vater arbeitslos wird, muss sie die Ausbildung an einer Lehrerinnenbildungsanstalt abrechen und beginnt als Arbeiterin in einer Miederwerkstatt. Ab 1908 veröffentlich sie Sozialreportagen in verschiedenen Zeitungen wie Abend, Neues Wiener Journal, Neue Freie Presse und Arbeiter-Zeitung, dem Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs. Im Mittelpunkt stehen sozialkritische Reportagen aus den Armenbezirken Wiens und aus dem Milieu des jüdischen Proletariats. 1916 wird das (einzig erhalten gebliebene) Theaterstück „Der Schrei, den niemand hört“ an der Wiener Volksbühne uraufgeführt, der Zuspruch beim Publikum bleibt trotz positiver Rezensionen aus. Else Feldmann verfasst drei Romane: nach Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen ist ihre erste selbständige Buchveröffentlichung der autobiografisch geprägte Roman „Löwenzahn – eine Kindheit“ (1921), ihre wohl beste Sozialreportage ist „Der Leib der Mutter“ (1931), ihre letzte Veröffentlichung ist der leider unvollendete Roman „Martha und Antonia“ (1934), der als Fortsetzung in der Arbeiter-Zeitung abgedruckt wird.

                    1938 werden ihre Werke von den Nationalsozialisten auf eine Liste schändlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt. Am 14. Juni 1942 wird sie von der Gestapo verschleppt und drei Tage später im Vernichtungslager Sobibór ermordet.

                    Politisch steht Else Feldmann immer links. 1922 beteiligt sie sich am Aufbau der Wiener Gruppe Clarté, die 1920 von Henri Barbusse, Romain Rolland und George Duhamel zur Bekämpfung des Kriegs und seiner Ursachen gegründet wird. 1933 gründet sie gemeinsam mit der Sozialpsychologin Marie Jahoda, der Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter und anderen Autoren die „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“, die nach etwas mehr als einem Jahr aufgelöst wird.

                    Ihre Lebensspuren werden von den Nationalsozialisten fast völlig ausgelöscht. Eine Aufarbeitung beginnt Anfang des 21. Jahrhunderts. Spät, aber noch rechtzeitig: Es bleibt das Werk einer Autorin, „in dem die Lebensrealität der Menschen an der gesellschaftlichen Peripherie während und nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den frühen 1930er Jahren eindrucksvoll dargestellt wird und dem dabei die – nach wie vor aktuelle – Warnung, die Augen vor den Folgen sozialer Ungleichheit nicht zu verschließen, eingeschrieben ist.“ (S. 277) Ein erschreckend aktuelles Buch!

                    Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­bliotheksdirektor an der Bergaka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

                    dieter.schmidmaier@schmidma.com

                     

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