Urs Kindhäuser / Ulfrid Neumann / Hans-Ullrich Paeffgen / Frank Saliger (Hrsg.), Strafgesetzbuch. NomosKommentar, 6. Aufl., Nomos, Baden-Baden 2023. Band 1: §§ 1-37, 1895 S.; Band 2: §§ 38-79b, 1462 S.; Band 3: §§ 80-231, 2779 S.; Band 4: §§ 232-358, 2719 S.; insgesamt 8855 S., geb., ISBN 978-3-8487-7123-3. € 699,00.
Anzuzeigen ist hier die 6. Auflage des mehrbändigen NKStGB, der als einziger der „Mehrbänder“ – schon „traditionell“ – wiederum komplett erscheint. Bei dem Gesamtumfang dieses Kommentars und seiner inhaltlich hohen Qualität gäbe es, klar, weit mehr zu berichten, als hier möglich ist. Seine Zielsetzung bleibt weiterhin „Konzeptionelles Denken, Methodenbewusstsein und tiefgegründete Dogmatik“ (S. 5). Der Autor F. Saliger ist nunmehr auch vierter (Mit-)Herausgeber des Kommentars.
In dieser Aufl. ist personell viel in Bewegung geraten. Ein Teil der 40er und frühen 50er Jahrgänge zieht sich nämlich ganz oder teilweise aus der aktiven Mitarbeit, dieser periodisch auftretenden Fron des Kommentierens, zurück. Dafür treten Co-Autoren (T. Bartsch, J. Bülte, L. Eidam, A. Engländer, R. Eschelbach, Th. Grosse-Wilde, D. Klesczewski, M. Kuhli) und -Autorinnen (E. Hoven, K. Papathanasiou, I. Pruin) neu hinzu, so dass nunmehr 48 Autoren, davon jetzt sieben Autorinnen, diesen bestens eingeführten, inhaltlich „aus dem Schrifttum nicht mehr wegzudenkenden bedeutsamen Kommentar zum StGB“, gestalten (so Gössel, JR 2010, 8; weitere lobende Worte zur 3. Aufl. 2016 und zur 2. Aufl. 2005 zit. bei Rezensent, fachbuchjournal 5/2013, S. 43 f.; zur 5. Auflage 2017
Jahn, NJW 2017, S. 3638: „Ein Meilenstein grundlagenorientierter Wissenschaft“). Das Schicksal aller, insbesondere der mehrbändigen, Kommentare: Es gibt bei jeder weiteren Auflage meist wesentlich mehr Neues zu berichten und zu kommentieren als wegen sozusagen „bleibender Überholung“ zu Streichendes. Es liegt zumindest zum Teil „in der Natur“ der Kommentare, dass sie mit jeder Aufl. „wachsen“. Kam die 5. Aufl. (Stand: 10.2016; zu ihr Jahn, aaO, 3638) noch mit 7836 S. aus, so sind es in der 6. Aufl. (Stand: 15.12.2022) 8855 S., bei allerdings einer Zwischenzeit von nahezu sechseinhalb Jahren, in der es die Ministerien, die Beratergremien, Fachleute aus den verschiedensten Bereichen (je nach Thematik), Interessengruppen und die „zuständigen“ Abgeordneten nicht an Fleiß haben fehlen lassen. Ergebnis: Über 40 Gesetzesvorlagen unterschiedlicher Reichweite und unterschiedlicher Thematik wurden seit Oktober 2016 umgesetzt. Infolge dieses erneuten Wachstumsschubs sah der Verlag sich – endlich! – veranlasst, man möchte fast sagen: „genötigt“, dem Kommentar wenigstens einen 4. Band zuzugestehen. Dass, in welchen Bereichen und wie intensiv der Gesetzgeber tätig war, kann man nachlesen bei Thomas Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023 in der Tabelle der Änderungen des StGB, S. LXIX ff. die laufenden Nr. 257 – 298. Alles, was demzufolge in den Kommentar einzuarbeiten war, hier auch nur zu erwähnen, ist weder möglich noch die Aufgabe. Zunächst: Nachdem Rainer Zaczyk sich entschieden hatte, seine Kommentierungen nicht mehr fortzuführen, so die Herausgeber (Vorwort, Bd. 1, S. 5), haben Armin Engländer die Erläuterungen zu §§ 22-24, 30 f. und Walter Kargl die Bereiche Vor §§ 185-200 sowie 303-305 a übernommen, Kargl zusätzlich zu den Partien, die er schon bisher betreut hat. Obwohl die Basisannahmen des Zugangs zum (Straf-) Recht bei Zaczyk und Engländer durchaus verschieden sind, sind die Ergebnisse weithin nicht unähnlich, aber eben letztlich keineswegs deckungsgleich. Das zeigt sich besonders deutlich etwa bei der Deutung des § 30: Zaczyk sieht in der Norm einen „polizeirechtlichen Fremdkörper“ (NK-StGB, 5. Auflage § 30 Rn. 2-6; ders., Vor §§ 185 ff. Rn. 1), Engländer hingegen nimmt ein „eigenständiges Vorbereitungsdelikt“ an (§ 30 Rn.1, 5). Dem weiter nachzugehen, ist hier nicht der Ort. Die Kommentierung Engländers ist ebenfalls klar, de lege lata bestens begründet, aus der Sicht Zaczyks deshalb wohl „positivistisch“ (s. demgegenüber Engländer, § 22 Rn. 18 mit Fn. 59).
Einige wenige Beispiele aus der Fülle des Neuen seien immerhin benannt. Hinsichtlich der Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe, § 11 III, bedurfte es der Änderung einer großen Anzahl von Normen; dazu minutiös Saliger, § 11 Rn. 73-84. Die Nutzer des Kommentars wird‘s freuen. Darüber hinaus wurde in diesem 60. StÄG v. 30.2020 auch die Strafbarkeit nach §§ 86, 86 a, 111 und 130 StGB bei Handlungen im Ausland erweitert. Praktisch von größerer Bedeutung sollte das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017 sein, dazu Vor §§ 73-76 b, das F. Saliger, darauf schon „vorbereitet“ (vgl. 5. Aufl., Vor §§ 73 ff. Rn. 3 a f.), jetzt kommentiert vorlegt; seine Erläuterung der neuen Vorschriften übertrifft wohl die Erwartungen bei Weitem. Auf 235 S. (im Vergleich: Voraufl. zum bisherigen Recht 106 S.) leuchtet er jeden Winkel des neuen Rechts aus, und man darf gespannt sein, ob und wenn ja, welchen Einfluss seine Interpretation in der Theorie, vor allem aber auf die Praxis haben wird. Da der neu in das Team eingetretene BGH-Richter Ralf Eschelbach die §§ 120-129 von Heribert Ostendorf übernommen und neu kommentiert hat, konnte man mit Abweichungen rechnen (bei der Einordnung von Hausbesetzungen etwa, bisher § 123 Rn. 23, in der 6. Aufl. Rn. 18). Zu kommentieren war auch u.a. der neue § 126a, „Gefährdendes Verbreiten personenbezogener Daten“ (bemerkenswert Rn. 4) sowie § 127 „Betreiben krimineller Handelsplattformen im Internet“ (der bisherige § 127 ist jetzt § 128), wobei der Autor die Zielsetzung des Gesetzes: Schließen von Strafbarkeitslücken, bestreitet. Es bestünden dogmatisch „keine strafrechtlichen Lücken“, meint Eschelbach, „sondern Probleme bei der Sachaufklärung“, Rn. 2. Auch der „Organisierten Kriminalität“ ist gedacht (§§ 129, 129a.).
Vermehrt sind bei größeren Kommentierungen (regelmäßig ab 40 Randnummern.) die vorangestellten Übersichten (hier etwa bei §§ 120 f., 123, 126, 127, 129 und 129a). Durch das 50. StÄG vom 4. 11. 2016 zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung war u.a. mit § 184 j, „Straftaten aus Gruppen“ (Anlass: Ein aus dem Ruder gelaufener Silvesterabend in Köln) eine Norm Gesetz geworden, die sich als typische ad-hoc-Regelung großer Unbeliebtheit erfreut, dazu Kay Schumann, § 184j Rn.1 ff. m.w.Nachw., auch zu zust. Äußerungen. „…übereilt und populistisch überfrachtet…, mit dem Schuldgrundsatz und dem Bestimmtheitsgebot für Strafnormen unvereinbar“, schreibt Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. 2020, § 184j Rn.1.
Zweimal hat der Schutz der Kinder, vor sexualisierter Gewalt und gegen sexuellen Missbrauch, den Gesetzgeber beschäftigt; ferner der weit über die Landesgrenzen hinaus aufgekommene Rechtsradikalismus und die Hasskriminalität (wohl auch eine, schon länger mit wachsender Sorge zu beobachtende Zeitenwende; ferner die Strafbarkeit von Sportwettbetrug und die der Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben, §§ 265 c, d (Gesetz vom 30. 3. 2021) sowie, aus gegebenen Anlässen, die „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“, §§ 113-115, 125, 125a und 323c II (52. StÄG vom 23.5.2017). Der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nehmen sich, in der Nachfolge Monika Frommels, Schumann und Konstantina Papathanasiou an. Schumann erläutert zunächst die §§ 174-174c, 177-183 und 184-184a. Papathanasiou bearbeitet die §§ 176-176e, 183a, 184b und c, 184e-k und 184l. Diese, sehr kleinteilig wirkende, Aufteilung ist wohl auch die Folge einer durch teilweise hitzige, nicht immer am Sinn des Strafrechts orientierte Diskussionen veranlasst, die sich in Änderungen und neuen Gesetzen niederschlugen (50. und 60. StÄG).
Kargl hat von Zaczyk, wie schon erwähnt, die Erläuterung der Beleidigungsdelikte, Vor §§ 185-200, übernommen und die Kommentierung, mehr als verdoppelt, was mit seinem letztlich von der Voraufl. abweichenden Ansatz zusammenhängt, Vor §§ 185-200 Rn. 1f. In Abgrenzung zu anderen Ehrbegriffen, Rn. 47ff., will Kargl eine Auslegung nicht primär aus „Vorgaben rechtspolitischer Vorverständnisse gewinnen, sondern den Willen des Gesetzgebers in die Praxis (!) verlängern, Rn. 2. Dazu „passt“ prima vista die Rechtsprechung des BVerfG, wonach die obergerichtliche Rechtsprechung eine (noch) nicht hinreichend bestimmte Norm zu einer bestimmten machen können soll. Mit Hilfe dieser Krücke scheint das bisher auch weithin geklappt zu haben. Welche Folgen es aber haben müsste, wenn der BGH seine Rechtsprechung umgekehrt wieder verschärfen wollte (wie man das von der Promille-Rechtsprechung her schon kennt), ist durchaus noch ein schlummerndes Problem; zu ihm Hettinger/ Engländer, Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 145ff. Zu Kargls eigener Ansicht Rn. 41-46.
Mit dem 56. StÄG vom 30.9.2017 fügte der Gesetzgeber „§ 315d „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“ in das StGB ein. Er reagierte damit auf einige spektakuläre „Raser“Fälle mit schwersten Folgen; näher und ausführlich dazu Zieschang, § 315d Rn. 2. Die Norm hat den Charakter eines („abstrakten“) Gefährlichkeitsdelikts, so BGHSt 63, 88, 94; jetzt auch BGHSt 66, 27, 34 (S. 32 aber noch „abstraktes Gefährdungsdelikt“). Dass zwischen den Begriffen Gefährlichkeit und Gefährdung ein Unterschied besteht, liegt auf der Hand und sollte unstreitig sein. Gefährlichkeit kündigt eine mögliche Gefährdung an (zu der es dann nicht kommen muss), während bei Gefährdung die Gefahr schon konkret ist. So gesehen bedürfte es der als Unterscheidungsmerkmal vorangestellten Charakterisierungen als abstrakt (Gefährlichkeit) und konkret (Gefährdung) nicht, sind sie schlicht überflüssig. Abschließend sei ein bereits mehrfach erhobener Einwand wiederholt: Schon in meiner ersten Besprechung des NK-StGB, auch in der zweiten in GA 2010, 659-662, 659, als er noch zweibändig erschienen war, habe ich ein schweres Handicap „beklagt“, dass nämlich der Verlag nicht den Mut hatte, diesem so gelungenen Kommentar eine Ausstattung zu geben, die ihn konkurrenzfähig auch in diesem Bereich gegenüber anderen „Mehrbändern“ gleichen Zuschnitts machte. Das war und ist sie immer noch nicht, nicht den Inhalt betreffend, bewahre, sondern die äußere Gestaltung, die Ausstattung. Zur Veranschaulichung: Der NK-StGB präsentiert sich bei 8855 S. in nur vier Bänden, während beim SK-StGB sich die insgesamt 6632 Seiten bei gleichem Satzspiegel in der 9. Aufl. auf sechs Bände verteilen. Das ermöglicht ein deutlich geringeres Gewicht der Teilbände, eine sehr stabile Bindung und, an Bedeutung gar nicht zu überschätzen, Standfestigkeit der einzelnen Bände. Die ist nämlich beim NK-StGB nicht gewährleistet. Das führt dazu, dass nur sehr kräftige Personen in der Lage sind, jedenfalls die Bände 3 und 4 mit einer Hand aus einem der Regale, insbesondere den oberen oder unteren, zu holen. Will man sie dann auf der Arbeitsfläche abstellen, so gelingt das angesichts der Schwere der Bände nicht: Sie kippen zur Seite. Kurz: Die äußere Ausstattung hält mit der inneren, der Qualität der Kommentierung weiterhin bei Weitem nicht Schritt. Das scheint mir der Verlag aber den Autoren schuldig zu sein (denn Kommentieren ist eine Fron) – und der (dann wohl noch weiterwachsenden) Leserschaft auch. (mh)
Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh). 1991 Professur an der Universität Göttingen, 1992 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Würzburg, von 1998 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 in Mainz. Mitherausgeber der Zeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“.
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