Christoph Antweiler: Anthropologie im Anthropozän. Theoriebausteine für das 21. Jahrhundert. 2022, wbg Academic, Darmstadt, 14 s/w-Abb., 17 Tab., 653 S., ISBN 978-3-534-27434-5, € 98,00.
Der von dem Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen (1933–2021) im Jahr 2000 auf der Tagung des IGBP in Cuernavaca (Mexiko) vorgeschlagene geochronologische Terminus »Anthropozän« hat nach zunächst verhaltener Resonanz eine rasante Begriffs- und Konzeptkarriere ausgelöst [vgl. fachbuchjournal.de/das-anthropozaen/ 4/2020]. Wie Crutzen zusammen mit dem Umweltbiologen Eugene F. Stoermer (1934–2012) präzisierte, zielt der postulierte Epochenwechsel vom »Holozän« [dt. ‚Das völlig Neue‘, sog. ‚Nacheiszeit‘, die vor ca. 11.700 J. einsetzte] zum »Zeitalter der Menschheit« (S. 14) darauf ab, »die zentrale Rolle der Menschheit in der Geologie und Ökologie zu betonen« (in: »The Anthropocene«, Global Chance Newsletter 2000, No. 41, 17-18, Übers. wh). Zwar erfolgten ähnliche Impulse zur Wahrnehmung der »Verwandlung der Welt« (sensu Jürgen Osterhammel) schon eineinhalb Jahrhunderte früher, aber erst mit Crutzen als treibender Kraft hat der Topos Anthropozän den Durchbruch der Debatte über anthropogen verursachte irreversible Transformationen von der Erdsystemwissenschaft und Geologe in alle Wissenschaftsdisziplinen und die Kunst sowie Wissen-Feuilletons und -Magazine geschafft und auch in der crossmedialen Kommunikation Konjunktur. Den enormen Widerhall belegt eine GoogleSuche der Lemmata »anthropocene« bzw. »Anthropozän« mit ca. 25.200.000 resp. 722.000 Treffern (Abruf am 16.06.23).
Mit dem vorliegenden Buch unterbreitet der Dipl.-Geologe und Ethnologe Christoph Antweiler (*1956), Professor für Südostasienwissenschaft an der Univ. Bonn, ein Anthropozän-Konzept, das eine „kritische und transdisziplinäre Orientierung“ (Buchdeckel) verspricht. Der erfahrene Publizist, dessen innovative Forschung über ethnoanthropologische Themen wie »Kulturelle Universalien«, »Kulturevolution«, »Stadtkultur«, »Ethnizität« und »Kognition« viel Beachtung gefunden hat, verwebt mit den Methoden einer integrativen Anthropologie die Fäden des komplexen Kommunikationsprozesses.
Antweiler spürt mit Verve den Wirkungen unseres „menschliche[n] Handeln[s]“ nach, das „den maßgeblichen Faktor des planetaren Wandels bildet“ (lt. Klappentext). Sein erklärtes Ziel ist, Befunde zu sammeln und geowissenschaftliche, evolutionsbiologische und ethnologische Hypothesen zu prüfen, um bestehende Defizite der bisherigen Theoriebildung aufzudecken und „Theoriebausteine für das 21. Jahrhundert“ (Untertitel) zu unterbreiten. Die akribische Recherche fußt auf einem Fundus von 2.700 Publikationen, die jedoch „mitnichten immer von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse geleitet [sind, Erg. wh ]“ (S. 95). Ca. 1.500 Literaturquellen werden zitiert, vorwiegend aus der „Ethnologie und Geologie“ sowie „insbesondere weitere[n] Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften“, darunter „vor allem die Soziologie, die Geschichtswissenschaften und die Archäologie“ (S. 33). Im Vorwort wird geschildert, wie eine fiktive Geoanthro pologin namens Amy, die auch die Disziplinen „Kulturgeologie und Kulturpaläontologie“ studiert hat, im „Postanthropozän“ des „Quintärs“ anhand von „Humanfossilien aber auch elektronische[n] Dokumenten […]“ schließt, „dass das Anthropozän mehr war als ein vulgärwissenschaftlicher Krisentopos des beginnenden 21. Jahrhunderts […]“ (S. 9-11). Die Zeitreise in die Zukunft soll verdeutlichen, dass das postulierte Anthropozän einerseits als
„Sache“ verstanden werden kann, für die bereits „klare geologische Befunde“ vorliegen, und andererseits „eine Idee, ein Konzept“ ist (S. 10). Auf die Erzählung einer – natürlich – erst ex post facto möglichen Verifikation der Existenz eines „menschlichen Zeitalters“ (S. 14) folgt die wegweisende Erläuterung der „Fragen und Argumentation des Buchs“ (S. 28ff.).
In sieben Großkapiteln werden die durch die rezente Menschheit verursachten transformativen Prozesse sowie natur- und kulturhistorischen Pfade aufgeschlüsselt. Im Fokus stehen zunächst die „tiefenzeitlich erweiterte Ethnologie“ und „eine anthropologisch informierte Geologie“ (S. 34). Es geht um die disziplinübergreifende Untersuchung der „geosoziokulturelle[n] Mega- und Makroepoche“ (S. 38) nach den Prinzipien und Methoden einer sich sukzessive etablierenden »Geoanthropologie«, d.h. die Erforschung der „Gesamtheit der Prozesse, der Mechanismen und natur- wie kulturhistorischen Trajektorien, die menschliche Gesellschaften ins Anthropozän führen“ (lt. Glossar, S. 520f.).
Während einige Experten, wie der Geologe Manfred Menning (GFZ Potsdam), die formelle Einführung des Anthropozäns grundsätzlich ablehnen, da es »vor allem politisch und nicht geologisch geprägt [ist]« [https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/wer-bestimmt-dieerdzeitalter/], sieht Antweiler in den historischen und archäologischen Debatten „ein bislang nicht gehobenes Potenzial der Kulturwandelforschung“ (S. 34).
Dass das Anthropozän-Konzept als Denkdurchbruch in räumlicher und zeitlicher Dimension fundamental ist, wurde auch von dem Physiker und Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn (*1956), Gründungsdirektor des Jenaer MPI für Geoanthropologie, anlässlich der Einweihung des prominenten Standorts für außeruniversitäre Exzellenzforschung im Juni 2022 betont [vgl. https://www.shh.mpg.de/].
Antweilers Liste zahlreicher Indikatoren einer anthropozänen Erddynamik belegt, dass es nicht nur – wie oft unzulässig verkürzt – um Klimawandel geht, sondern um diverse destruktive Komponenten der »Technosphäre« (s. unten), die zu einer wachsenden Vulnerabilität der menschlichen Zivilisation führen, wie exzessiven Energie- und Ressourcenverbrauch, desaströse Umweltverschmutzung, massenhaftes Artensterben u.v.m. Eklatantester Befund für den menschlichen Fußabdruck ist, dass „[d]ie gesamte Technosphäre der Erde […] die eine Masse von 30 Billionen Tonnen [hat]“, was „einer Last von 50 Kilogramm auf jedem Quadratmeter der Erdoberfläche entspricht“ (S. 15). Im Weiteren werden Periodisierungsvorschläge des Anthropozäns diskutiert. Dazu sollte man wissen, dass die Epoche durch die intern. Anthropocene Working Group (AWG) formell immer noch nicht anerkannt ist, da noch Diskrepanzen für eine kompromissfähige Definition bestehen. Zudem müsste ein Beschluss auch noch durch die International Union of Geological Sciences (IUGS) ratifiziert werden. Antweiler unterscheidet vier „Grundverständnisse“ (S. 109), beginnend mit der erdsystemwissenschaftlich begründeten Zäsur ab Mitte des 20. Jh. aufgrund der globalen und meist synchronen Zunahme menschengemachter Effekte (vgl. S. 122). Daneben werden ein Dutzend weiterer Vorschläge für die Grenze zwischen Holozän und Anthropozän aufgelistet (vgl. Tab. 5), darunter die Sesshaftwerdung des Menschen (11.000– 9.000 v.h.) und die Industrielle Revolution (1750–1800). Von der AWG werden angeblich nur die Daten aufgrund des Methan- und CO2 -Anstiegs durch die frühe Industrialisierung sowie die Jahre 1945, 1950 und 1964 aufgrund atomarer Detonationen (Isotopen-Sedimente, Bomb Spike) ernsthaft erwogen (vgl. S. 123).
Das Anthropozän zählt zu den wirkmächtigen Methapern und Narrativen. Antweiler geht den „Dramatischen Rahmungen“ nach (Kap. 3, S.139ff.), zu denen als wesentliche Imaginationen die gefährdete Bewohnbarkeit der Erde, die globale Abhängigkeit durch Koexistenz und die exzessive Rohstoffausbeutung zählen. Er hält sie für geopolitisch relevant, „weil sie binäre Kategorien […] angesichts einer vernetzten Welt aushebeln“ (S. 142). Seine Kritik richtet sich gegen den inflationären Gebrauch des Anthropozän-Begriffs, der in vielen populären Sachbüchern zu einer „reinen Worthülse“ mutiert ist. Auch kulturwissenschaftliche Publikationen sind längst nicht frei von Alarmismus und apokalytischen Bedrohungsszenarien, wenn z.B. von den »Ruinen des Kapitalismus« [lt. Anna Tsing (*1942, Kulturanthropologin, S. 144] die Rede ist. „Wörter und Bilder voller Relevanz“ (S. 145), die die wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Probleme durch »Mondialisation« und »Globalisierung« aufzeigen, werden ‚hinterfragt‘. So kritisiert Antweiler den Begriff Technosphäre (s.o.), da er ein „Netzwerk […] mit geringer Konnektivität“ beschreibt und „auch die Koevolution von technischen, kulturellen und eben auch biotischen Systemen und anthropogene Nischenbildung aus[blendet]“ (S. 160). Für passender hält er den Begriff »Humanosphäre« seines Kollegen Noboru Ishikawa (*1961; Kyoto University).
Diskussionsanregend ist die Liste der zehn »Plots« zum Anthropozän (Tab. 6, S. 168). Die Auswahl zeigt, wie ein Terminus raumgreift, den der Anthropologe u. Umwelthistoriker Bernd Hermann für »einen politischen Begriff mit Aufmerksamkeitsbedeutung« (S. 95) hält, der »ohne analytische Qualität« ist, da die abendländische Philosophie seit Anbeginn das problematische Verhältnis der Menschen zur Natur erörtert hat [vgl. https://www.fachbuchjournal.de/ essentials-zur-umweltgeschichte/, Rez. wh]. Um die Stärken und Schwächen der Idee des Anthropozän-Denkens geht es im 4. Kapitel. Zu ersteren zählt eine »große Interdisziplinarität« (S. 33 u. 186), d.h. die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Natur-, Geistesund Kulturwissenschaften. Antweiler skizziert den Nutzen der Begegnung disparater Wissenschaftskulturen und diskutiert auch die beachtlichen Schwierigkeiten, die u.a. in der Diffusität, dem Atlantozentrismus oder der Anthropozentrik (vgl. S. 199) liegen. Auch wer mit der Thematik vertraut ist, dürfte neue Details zur anthropozentrischen Überschätzung der Wirkmächtigkeit der Idee, ihrer Eurozentrik sowie der Pluralität der Verursacher und Disparität der Opfer erfahren. Ferner wird kritisiert, dass das Wort Anthropozän oft „für die rhetorische Aufwertung bekannter Konzepte“ (S. 33) missbraucht wird, dass er nur ein Buzzword ist, ein nach Aufmerksamkeit heischender Trendbegriff, verengt zu einem politisch aufgeladenen »Metabegriff« für eine bereits existierende oder drohende Klimakrise.
Im Kap. 5 Anthropozäne Ethnologie befindet sich der versierte Feldforscher auf seinem ureigensten wissenschaftlichen Terrain. Da das Anthropozän aus geologischer Sicht ein Slow-motion-Prozess ist, hält der Autor die orts- und kulturspezifische ethnologische Forschung zur Lokalisierung globaler Einflüsse für essentiell. Er systematisiert die Leitbegriffe und leitenden Theorien nach der empirischen Methodik der Ethnologie sowie nach normativen bzw. ethnischen Implikationen (Tab. 12, S. 305) und plädiert für eine vermehrte empirische, die geologische Tiefenzeit berücksichtigende „Ethnologie als Anwältin kleiner Maßstäbe“, kurz: „Lokalisierung“ (S. 306). Seine ablehnende Kritik richtet sich gegen neuere posthumanistische Strömungen (oder »more-than-human-Ansätze«) in der Ethnologie.
Die Conditio humana im Rahmen der „Geologisierung von Kultur“ steht im Mittelpunkt des 6. Kapitels. Antweiler sieht die Kulturgeschichte in der Erdgeschichte grundiert (vgl. S. 391) und hebt die ökologischen Brüche und zukünftigen Probleme der Nachhaltigkeit hervor, die in unserer »Risikogesellschaft« [sensu Ulrich Beck (1944-2015)] eminente Bedeutung gewinnen und damit ein wesentliches Argument für die „Ausrufung des Anthropozäns“ sind (S. 411). Er rät, sich aufgrund der „Verschränkung von Tiefenzeit und soziale[n] Zeiten“ einer „Paläontologie der Gegenwart“ (S. 422) wissensbasiert zu nähern, um aus dem vernetzten Denken von historischer und geologischer Geschichte, von Weltgeschichte und Erdgeschichte, den planetaren Herausforderungen durch effektives Handeln zu begegnen.
Im letzten Kapitel synthetisiert Antweiler die diversen transdisziplinären Aspekte der »Kulturalisierung des Planeten« und der »Geologisierung von Kultur« zu einem komplexen Nischenmodell. Sein Entwurf schließt an die Nischenkonstruktion der Evolutionsökologie an, wobei leider biokybernetische (Vor-)Arbeiten von Jakob von Uexküll (1864–1944) sowie wegweisende Studien von Günther Osche (1926–2009) und Eric R. Pianka (1939–2022) nicht explizit erwähnt werden. Antweiler stützt seine „menschliche Nischenkonstruktion“ (S. 453f.) auf den RatschenEffekt [sensu Michael Tomasello (*1950)] und das von dem Umwelthistoriker Erle C. Ellis (*1963) et al. entworfene Vernetzungsmodell der materiellen Vererbung mit weiteren Modi transgenerationaler Weitergabe im Bezug auf Subsistenzsysteme (vgl. Abb. 8, S. 464f.). Darüber hinaus wird das »Triple-Inheritance-Modell« des Evolutionsbiologen Kevin Lala [früher Laland (*1962)] vorgestellt, das die ökologische mit der genetischen und kulturellen Vererbung zusammenführt. Das Modell des dreifachen Erbes könnte nach Antweiler für menschliches Handeln gegen anthropozäne Umwelteffekte nützlich sein, wobei auch lokales ethnologisches Wissen wichtig ist. Deshalb fragt er als Ethnologe, „wie intensiv vernetzte Kulturen auf einem […] begrenzten Planeten friedlich koexistieren, ohne alle gleich werden zu müssen?“ (S. 36). Am Beispiel Südostasiens, seinem speziellen Forschungsraum, wird illustriert, wie eine »Provinzialisierung« (resp. »De-Zentrierung« sensu Dipesh Chakrabarty,*1948, indischer Historiker) aussehen könnte. Zu Zeiten der ubiquitären Debatte um die »Klimakrise« mag ein Hinweis ‚beruhigen‘. Antweiler fokussiert sich ausdrücklich auf die anthropologischen Grundlagen des Anthropozäns und geht nicht auf die brennenden politischen Probleme und umstrittenen technologischen Lösungsansätze ein (vgl. S. 33 u. S. 537).
Dass es Antweiler um einen lehrreichen Einstieg in das Thema geht, zeigt ein 15-seitiges Glossar mit >250 Schlagwörtern. Darauf folgt sein „Credo für einen moderaten evolutionistischen Materialismus“ (S. 530), in dem der Autor in ungewöhnlich offener Weise, seine „Grundhaltung (und damit verbundene Biases)“ expliziert (S. 532). Den Abschluss bilden ein ‚altruistischer‘ neunseitiger Medienführer „durch den anthropozänen Dschungel“ und die erwähnte umfangreiche Bibliografie sowie ein 15-seitiges Register.
Noch zwei Anmerkungen: (1) Als »Schriftsteller« weiß man, dass Fehler zwar unvermeidbar sind, aber auch, dass Korrekturlesen nicht verboten ist ;-)! (2) Die Pro und Contra-Debatte ums Gendern ist bekannt und bedürfte hier keiner Erwähnung, wäre nicht die lockere Abwechslung zwischen weiblicher und männlicher Form (vgl. Fn. 1, S. 17) eine denkbar schlechte Variante geschlechtergerechter Sprache.
Fazit: Wer sich an die anspruchsvolle Lektüre wagt, sollte mehr als nur marginales populärwissenschaftliches Interesse mitbringen. Dass der erfahrene Hochschullehrer trotz langjährig erprobter Didaktik und trotz weitgehender Vermeidung unnötigen Fachjargons mit seiner beeindruckenden Argumentationsfreude und Eloquenz auch interessierte nicht-akademische Leser erreicht, erscheint eher fraglich. Das Sachbuch mit der angestrebten – und auch erzielten – kritischen Orientierung in einer überbordenden Debatte eignet sich vornehmlich als detailreiche Einführung oder quellenstarkes Nachschlagewerk für eine bildungsorientierte Leserschaft, insbesondere für Multiplikatoren und Studierende einschlägiger Disziplinen. Mit der gekonnt strukturierten Kompilation der komplexen Anthropozän-Debatte, in der ein vor wissenschaftlicher Leidenschaft sprühender Autor auch stets seine eigene Auffassung darlegt [Adobe zählt 266 mal das Personalpronomen »ich«], liegt eine empfehlenswerte integrativ-anthropologische Abhandlung einer uns alle betreffenden »Sache« vor. (wh)
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
henkew@uni-mainz.de