Michael Müller (Hrsg.) Paul J. Crutzen. Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. Mit Einführungen von Michael Müller, Hans J. Schellnhuber, Klaus Töpfer, Kai Niebert und Volker Gerhardt, 2019, oekom verlag, München, 224 S., Halbleinen, ISBN 978-3-96238-137-0, € 20,00
Das »Ozonloch« ist aus heutiger Sicht die »Mutter aller globalen Ökokrisen«, schreibt Hans J. Schellenhuber, Gründungsdirektor des Potsdam Instituts für Klimafolgenabschätzung (PIK) (S. 62) in seinem Essay Crutzen und das neue Weltbild. Für die ursächliche wissenschaftliche Erkenntnis, dass das für die Menschheit lebensbedrohliche Umweltphänomen die Folge der damals als Treibmittel in Sprühdosen und als Kühlmittel in Kühlschränken verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) ist, erhielt der niederländische Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen (*1933) – zusammen mit seinen Kollegen Mario J. Molina (*1943) und Frank S. Rowland (1927– 2012) – im Jahr 1995 den Chemie-Nobelpreis.
Neben der überragenden wissenschaftlichen Leistung des langjährigen Direktors am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, den für Laien eigentlich bizarren und unvorstellbaren Zusammenhang zwischen der Freisetzung von FCKW in die Atmosphäre und dem Abbau der Ozonschicht erkannt zu haben, ist es dessen besonderes Verdienst, umweltpolitische Maßnahmen zum Klimaschutz gegen den Druck ignoranter Politiker, profitsüchtiger Lobbyisten sowie unbelehrbarer Konsumenten durch die Initiierung und permanente Stimulation einer politischen und öffentlichen Debatte auf nationaler und internationaler Ebene vorangetrieben zu haben. Im Mittelpunkt dieser anhaltenden Fachdiskussion steht das Anthropozän, ein Begriff für ein Menschenzeitalter, der schon früher bei dem italienischen Geologen Antonio Stoppani (1824–1891; anthropozoische Ära) und dem Zoologen und einflussreichen Wissenschaftsmanager Hubert Markl (1938–2015, Anthropozoikum) antönte. »Stop it! We are no longer in the Holocene, we are in the Anthropocene.« (S. 26). Mit diesen Worten wies Paul J.
Crutzen im Jahr 2000 auf einer Tagung des International Geosphere-Biosphere Programme (IGNP) in Mexiko auf die prägende und verändernde Rolle des modernen Homo sapiens im Naturgeschehen hin. Seiner Meinung nach liegen hinreichende Gründe für die Definition einer neuen geochronologischen Epoche vor, weil der Mensch zu einem der wichtigsten, wenn nicht gar dem stärksten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf dem Planeten Erde geworden ist. Auch 20 Jahre nach Crutzens erwähnter Intervention und seinem zusammen mit dem amerikanischen Limnologen Eugene F. Stoermer (1934–2012) verfassten Plädoyer The »Anthropocene«, in IGBP Newsletter (2000, 41, S. 17f.), befinden wir uns nach offizieller Nomenklatur immer noch im Holozän. Aber die Anthropozän-Debatte hat seitdem zunehmend Fahrt aufgenommen, indem sie aus der Naturwissenschaft in die Sozial- und Geisteswissenschaften hineingetragen wurde und als politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird.
„Das Anthropozän ist ein Warnruf, dass die Menschheit und damit in erster Linie die Politik ihrer Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen gerecht werden müssen“, schreibt Michael Müller (*1948), Herausgeber des vorliegenden Bandes der Bibliothek der Nachhaltigkeit. In seinem 50-seitigen Einführungsbeitrag Paul J. Crutzen – ein Jahrhundertmensch würdigt Michael Müller, der von 1983–2009 Mitglied des Deutschen Bundestages war und sich als PStS im BMU und Sprecher/Mitglied zahlreicher EnqueteKommissionen – vielfach gemeinsam mit P.J. Crutzen – für eine »sozialökologische Transformation« und das »Leitziel der Nachhaltigkeit« eingebracht hat, den Ausnahme-Wissenschaftler und sein Werk. Wer Crutzens Forschung „[i]n der Tradition Alexander von Humboldts“ (S. 11), seine bahnbrechende Entdeckung der Zerstörung der Ozonschicht, seine erdsystemische Forschung, die Gaia-Debatte, das Prinzip der Verantwortung, den Streitpunkt Geoengineering und das Anthropozän als einer „Idee der Menschlichkeit“ (S. 56) in einem fundierten, allgemeinverständlichen Überblick erfahren möchte, findet einen fakten- und quellenreichen, erfahrungsgeprägten Einstieg in die Thematik.
Die vier weiteren 6-10-seitigen Einführungen sind Essays von führenden Natur- und Geisteswissenschaftlern, deren Forschung sich nicht auf den akademischen Raum beschränkt, sondern weit in die Gesellschaft hineinwirkt. Der bereits oben erwähnte, renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber (*1950) betont, dass der Nobelpreis für Chemie 1995 eigentlich in die Rubrik »Umwelt« fallen würde, der Alfred Nobel (1833–1896) aber noch keine Relevanz beimaß. In seiner sehr persönlichen Würdigung des Nobelpreisträgers zeigt er eindrucksvoll, dass „[d]as Schicksal der Menschheit an einem hauchdünnen geochemischen Faden hängen [kann] (S. 63). Der Postdamer Direktor Emeritus betont, wie sehr Crutzens Arbeiten ihn inspiriert haben und dass dessen Weltbild von grenzenloser „wissenschaftlicher Fantasie“ mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein geprägt ist, denn „[w]er große Fantasie besitzt, kann sich allerdings auch große Sorgen machen“ (S. 63).
In seinem Beitrag Die parlamentarische Demokratie im Anthropozän weist der ehemalige Spitzenpolitiker Klaus Töpfer (*1938) auf das intensive Engagement des Pioniers der Erdsystemforschung hin, mit dem er sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Bundesumweltminister (1887– 1994) konfrontiert sah, in einer Zeit, als „der Gegendruck und der Lobbyismus aus den Wirtschaftskreisen [gewaltig waren]“ (S. 67). Die »Sorge um das gemeinsame Haus« ist heute Gegenstand einer globalen Klimapolitik. Nach Crutzen, dem unermüdlichen Mahner, bewegen wir uns hier in einer »Terra incognita«, die mit steigender Dringlichkeit Lösungen „zur Bewältigung der negativen Folgen vorangegangener wirtschaftlicher und technischer Entwicklung“ (S. 72) erfordert.
Kai Niebert (*1979), Professor der Didaktik der Naturwissenschaften und Nachhaltigkeit der Univ. Zürich und Präsident des Deutschen Naturschutzrings (DNR), kennzeichnet das von Crutzen ausgerufene „Anthropozän als geologische Realität“ (S. 73). Der intensiv vernetzte Nachhaltigkeitsforscher unterstreicht, dass die »Menschenzeit« „keine politische Konzepthuberei ist, sondern eine geowissenschaftliche und geologische Tatsache“ (S. 74) und als solche zu einem neuen „Weltbürgerverständnis“ (S. 77) führen muss, das sich dem »Prinzip der Verantwortung« [sensu des 1979 erschienenen ethischen Hauptwerks des Philosophen Hans Jonas (1903–1993)] anschließt. Kein Geringerer als der Philosoph Volker Gerhardt (*1944), Emeritus an der HU-Berlin, beschreibt in seinem Essay [d] ie normative Wende im Anthropozän. Darin erinnert er an das weitsichtige Werk des Existenzphilosophen Karl Jasper (1883–1969), der den Begriff »Achsenzeit« prägte, in der es zwischen 800–200 v. Chr. erstmals zu einer „einheitlichen Auffassung von der Menschheit kam“ (S. 80). Es war Jaspers Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949), das ihm als Schüler „die Vorstellung von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen vor Augen geführt hatte (S. 81). Gerhardt betont, dass wir nicht nur „Verursacher […] einer abzusehenden Katastrophe“ sind, sondern auch die „einzig möglichen Retter“ (S. 85). Indem Crutzen durch seine wissenschaftliche und humanitäre Gravitas die Kluft zwischen den Wissenschaftsdisziplinen wirksam unterlief, induzierte er durch seine empirische Analyse eine normative Wende. Es ist an uns, der Menschheit, diesen Appell zu verstehen und politisch ernst zu nehmen. Die zweite Hälfte des oekom-Bandes enthält sechs Schlüsseltexte aus dem Werk Paul J. Crutzens, angefangen bei seinem ins Deutsche übersetzten Vortrag anlässlich der Verleihung des Nobel-Preises. Das 40-seitige Zeitdokument seiner exzellenten Ozonforschung mag in seinen chemischen Details jene, die Chemie in der Oberstufe abgewählt haben, überfordern, aber dadurch, dass es exemplarisch auf die unverzichtbare Rolle der Forschung zur Problemlösung in einem zunehmend vom Menschen geprägten Zeitalters hinweist, ist es für alle Verantwortungsbewussten von Interesse.
Aufgrund der Vermeidung akademischer Fachtermini ist die Lektüre weiterer Beiträge über den Schutz der Ozonschicht – ein Beispiel gelungener Umweltpolitik, die Auswirkungen eines Atomkrieges auf Klima und globale Umwelt (2004) sowie Die Geologie der Menschheit (2011) allgemeinverständlich und sehr lehrreich für Umweltinteressierte. Das gilt auch für Eine kritische Analyse der Gaia-Hypothese [von James E. Lavelock, 2000] als Modell für die Wechselwirkung zwischen Klima und Biosphäre (2002) und den spannenden Essay über die Erdabkühlung durch Sulfatinjektion in die Stratosphäre (2011). Den Abschluss bildet ein vom Herausgeber geführtes Interview mit Paul J. Crutzen, „ein Grundlagenforscher, der sich zu keiner Zeit in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückgezogen hat“ (S. 213). Selbst als 86-Jähriger erweist er sich als Mahner an Politik und Gesellschaft, dem es, wie sein Schlusswort lautet, darum geht „dazu bei[zu]tragen, dass es keine Scheinlösungen gibt. Alles andere wäre unverbesserlich und falsch“ (S. 220).
Fazit: Vergessen Sie die vielen gutgemeinten »Sonntagsreden« (oder sollte man neuerdings »Freitagsreden« sagen?). Lesen Sie die vorliegenden fundierten Texte zur „Diskussion und Praxis der Nachhaltigkeit, Transformation und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“ (Backcover) und werden Sie sich im »Menschenzeitalter« der ökologischen Folgen Ihres Handelns und Ihrer globalen Verantwortung bewusst! (wh)
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
henkew@uni-mainz.de