Anthropologie, Natur

Ein transdisziplinärer Dialog Was ist Natur?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Kathrin Meyer von der Stiftung Natur und Kunst (Hrsg.): Was ist Natur? Annäherungen aus Kunst, Literatur und Wissenschaft. Museum Sinclair-Haus, mairisch Verlag, ISBN 978-3-938539-62-0, 25,00 €

Wenige Kilometer vor den Toren der Stadt Frankfurt/M mit ihrer großartigen Museumslandschaft befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Bad Homburger Schloss das Museum Sinclair-Haus, das nach dem Diplomaten und Schriftsteller Isaac von Sinclair (1775–1815), einem engen Freund des Dichters Friedrich Hölderlin (1770–1843), benannt wurde.

Seit 40 Jahren spiegelt das Ausstellungshaus mit anspruchsvollen Wechselexpositionen das Verhältnis zwischen Kunst und Natur wider. 2017 wurde es Teil der 2012 gegründeten Stiftung Nantesbuch, die 2021 in die Stiftung Kunst und Natur überführt wurde.

Laut der Stiftungsgründerin und Schirmherrin Susanne Klatten (*1962) sollen die Museumsgäste durch die von „Vorträgen, Lesungen, Konzerten und experimentellen Formaten live und digital begleiteten Ausstellungen […] mit Kunst und Natur in Berührung kommen, sehen, fühlen und staunen. Es geht hier um ebenso sinnliche wie sinnvolle Erfahrungen, die einen zur Besinnung kommen lassen“ [s. https://kunst-und-natur.de/museum-sinclairhaus/museum/ueber-uns].

Seit Februar 2020 ist Kathrin Meyer (*1974) neue Direktorin des Sinclair-Hauses. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim, war anschließend Kuratorin an führenden deutschen Museen sowie Lehrbeauftrage für Ausstellungstheorie und -praxis. Das Thema ihrer ersten Ausstellung in Bad Homburg lautet: „Was ist Natur?“.

Der museumspädagogische Bildungsanspruch und die kuratorische Herausforderung könnten kaum größer sein, denn die fundamentale Frage nach der Natur schließt die unbelebte und belebte Natur und damit auch das Natur-Kultur-Wesen Mensch und dessen kulturellen Einfluss auf die Umwelt mit ein, der im Anthropozän [sensu Paul J. Crutzen (1933–2021)] angesichts des Klimawandels unverkennbar deutlich wird. In Zeiten der Globalisierung und der technischen und digitalen Revolution war die Ehrfurcht vor der Natur und ihrer Erhabenheit zunehmend verblasst, die J. W. von Goethe (1749–1832) vordarwinisch so empfand:

„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen […]“. [aus Die Natur (1783); Goethe-Brevier, Reclam 1989, S. 256].

Wenn die Museumsleiterin in diesem Kontext die Aktualität des Themas durch den Globalen Klimastreik der Fridays for Future-Bewegung am 25. Sept. 2020 in Berlin oder Matthias Glaubrechts (LIB – CeNak) mahnendes Sachbuch „Das Ende der Evolution“ (2019) unterstreicht, so hätte ich mir im Vorwort Aussagen dazu gewünscht, wie fahrlässig frühe Warnungen in den Wind geschlagen wurden, angefangen beim Treibhauseffekt, auf den bereits der frz. Mathematiker Joseph Fourier (1768–1830) hinwies, bis zur Umweltdiskussion, die Jakob von Uexküll (1864–1944) in „Umwelt und Innenwelt der Tiere“ (1909) initiierte, oder zu unserem Verhältnis zur Natur, das der ehemalige DFGund MPG-Präsident Hubert Markl (1938–2015) thematisierte und leidenschaftlich dafür plädierte, „Natur als Kulturaufgabe“ (Kaur TB 1986) zu begreifen, da wir „zugleich ihr Kostgänger, Ausbeuter und Zerstörer [sind]“ (s. ebd.). Es ist höchste Zeit für die Menschheit und jeden Einzelnen, sich unserer Rolle in der Natur „im Spiegel der Künste und Wissenschaften“ (vgl. Backcover) zu besinnen. Wer sich der Größe der uns evolutiv zugewachsenen Verantwortung und Verpflichtung für den Umgang mit der Natur bewusst ist, wird von der Exposition resp. dem Begleitband keine hinreichenden Antworten erwarten, denn in dem interdisziplinären Diskurs kann es nur um „Annäherungen aus Kunst, Literatur und Wissenschaft“ gehen, wie der Untertitel des Buchs unterstreicht. Dennoch ist dieser Schritt existentiell wichtig in einer dynamischen Welt, die sich seit je in ständigem evolutivem Wandel befindet, der sich im Anthropozän für viele Arten inkl. uns (lebens-)bedrohlich dynamisiert.

Es gilt daher dringlicher denn je, unser Naturverständnis und unsere Rolle angesichts ökologischer Krisen im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu beleuchten, denn Umweltkrisen sind nicht nur Krisen der Natur, sondern auch der Kultur [vgl. https://www.fachbuchjournal.de/essentials-zurumweltgeschichte/]. Die von Kathrin Meyer gewählte breite Perspektive aus Kunst, Literatur und Wissenschaften ist eine willkommene Weitung unseres Blicks auf die Natur, zumal es in Bildungsinstitutionen bei der Behandlung des Themas Natur überwiegend um naturwissenschaftliche Erkenntnisse geht, die bedauerlicherweise auch im 21. Jhdt. keineswegs durchgehend Akzeptanz finden. Wenn Museen ihrem kulturellen Bildungsauftrag dadurch gerecht werden, dass sie ihre Besucher mit der ganzen Bandbreite von Natur und Naturerfahrungen konfrontieren, so ist das ein wichtiger Beitrag zur Sinnkonstituierung. Wenn auch die Wechselausstellung bereits abgelaufen ist, was viele bedauern dürften, die aufgrund der Covid-19-Pandemie einen Museumsbesuch versäumten, so vermittelt der hier vorgestellte Lese- und Bildband – leider unter Verzicht auf das ästhetische Ambiente und die Anschaulichkeit der Exponate im Museum Sinclair-Haus – doch vielfältige „sinnliche Zugänge“ zu einem „beseelten Bild der Wirklichkeit“, wie es der Kulturmanager und Geschäftsführer der Stiftung Kunst und Kultur, Börries von Notz (*1973), im Vorwort fasst [s. auch Internet-Clip: https://kunst-und-natur. de/museum-sinclair-haus/ausstellungen/was-ist-natur]. In dreizehn Essays und zehn Beiträgen aus Literatur und Lyrik mit beeindruckenden Illustrationen aus Kunst und Wissenschaft geht es in dem ideenreich designten Band insbesondere darum, die Distanz zwischen Mensch und Natur aufzuheben, „[…] Verbindungen, Veränderungen und Verluste wahrzunehmen und […] mittendrin zu bleiben, den Konflikten nicht auszuweichen“ (K. Meyer, S. 15). Das erste von drei Hauptkapiteln handelt von erzählen & erfassen, dem Zusammenhang von Kultur und Natur. Die Leser werden mitgenommen an konkrete Orte wie Kiefernwälder, nach Chicago oder in die „Flughafen-Natur“ des Airports FFM, d.h. „Umstrittene Infrastrukturen und umkämpfte Umwelten“ (S. 56). Es werden Fragen gestellt, z.B. „In welchem Verhältnis stehen Natur, Kultur und Technik? – Welche Natur schaffen Menschen und andere Lebewesen gemeinsam? – Wie können wir die Natur begreifen?“, auf die mittels neuer ideenreicher natur- und kulturwissenschaftlicher Texte sowie Erstübersetzungen und Wiederabdrucke kreativ-anspruchsvolle Antworten zum eng verzweigten Geflecht in der Natur gegeben werden. So illustriert z.B. das Exponat eines Elternnests „das Ineinandergreifen von Mensch, Technologie, Pflanzen und Tieren“ (S. 20) exemplarisch.

Im zweiten Hauptkapitel erfolgt die Annäherung an die Natur durch beobachten & spüren. Es wird u.a. gefragt: „Wie nehmen wir uns als Teil der Natur und die Natur als Teil von uns wahr? – Mit welchen Worten lässt sich das Aussterben von Lebewesen greifbar machen? – Was lässt sich aus Pflanzendarstellungen über unser Verhältnis zur Natur ableiten? – Wie können wir Natur wahrnehmen?“. Literarisch vermitteln Aufsätze wie „Stimme des Waldes“ oder „Die Lebendigkeit der Luft“ Natur und Naturerlebnisse oder „Ästhetiken des Spürens“ eröffnen überraschende, ungewohnte und neuartige Visionen von der Schönheit der Natur und der Verbundenheit mit ihr. Im dritten Hauptkapitel suchen & aufbrechen geht es um Fragen wie: „Was soll sich ändern? – Kann es Wohlstand ohne Naturzerstörung geben? – Welche Rolle spielen Recht und Gerechtigkeit bei der Nutzung von Natur? – Wie kann Forschung Klimawandel greifbar machen? – Wie verändert es die Welt, wenn Arten aussterben?“. Obwohl die hier geführte Diskussion über die uns gegebenen Handlungsspielräume ökologisch-politisch interessierten Lesern nicht ganz neu sein dürfte, eröffnen diese Beiträge Wege zu neuen Denkweisen, wirken inspirierend. Fazit: Eine ausgefeilt konzipierte interkulturelle Bildung vom Feinsten! Mehr kann man von einem Ausstellungsbegleitband nicht erwarten. Also unbedingt lesen, staunen, genießen, reflektieren – und verantwortungsbewusst handeln! (wh) ˜

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung