Geschichte

Globalgeschichte der Sklaverei

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2020
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke

Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2 Teilbände, 2., überarbeitete und  erweiterte Aufl., Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston, 25 Abb., ­ 43 Karten, XXV, 1399 S.,  ISBN 978-3-11-055884-5 , € 279,00

Sechs Jahre nach Veröffentlichung der 1. Auflage erscheint das vorliegende Handbuch zur Geschichte der Sklaverei in einer zweiten, überarbeiteten und stark erweiterten Edition. Das imposante Grundlagenwerk hat sich vom Umfang her verdoppelt, was zum einen das dynamische Forschungsinteresse an dieser Thematik widerspiegelt und zum anderen einer erweiterten globalhistorischen Perspektive geschuldet ist. Das betrifft z.B. die Einbeziehung der östlichen Hemisphäre, insbesondere Chinas, ohne die eine Globalgeschichte heute nicht mehr vermittelbar ist. Entgegen der laienhaften Meinung, Sklaverei sei ein Thema, das vor allem das antike Griechenland und das Römische Reich sowie die im 16. Jhdt. einsetzende Atlantic slavery, d.h. subsaharische Menschenjagd, transatlantischen Menschenhandel sowie peinigende Plantagensklaverei in den karibischen Kolonien sowie auf den amerikanischen Subkontinenten, betreffen würde, handelt es sich um ein ubiquitäres menschheitsgeschichtliches Phänomen. Sklaverei ist der Kultur inhärent! Es ist die Kapitalisierung menschlicher Körper durch Gewalt, verbunden mit Zwang zur Arbeit, Mobilitäteinschränkung und Statusdegradierung – vom frühen Neolithikum bis heute (!). „Sklavereien und ihre sozialen Akteure waren und sind global und globalisierend“ (S. XIV), schreibt Michael Zeuske (*1952), Professor em. für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln und Principal Investigator am Center for Dependency and Slavery Studies der Universität Bonn. Es lohnt sich, das CV des in Halle geborenen Autors, Sohn des bekannten Lateinamerika-Forschers Max Zeuske (1927–2001), zu lesen, um aufgrund seiner Sozialisation und Ausbildung in der DDR sein besonderes Interesse an der Geschichte der Sklaverei und dem umstrittenen Narrativ der Befreiung zu verstehen. Als junger Schüler lebte Michael Zeuske von 1963–64 in Havanna, als sein Vater als wiss. Berater die dortige Arbeiter- und Bauernfakultät aufzubauen half. In dieser Zeit lernte er mühelos Cuba-Spanisch auf der Straße, aber die Insel war für ihn, wie er in seinem Buch Ku­ ba im 21. Jahrhundert (2012) schreibt, nur «eine Art tropische DDR», aber nachhaltig prägend.

Nach der Berufsausbildung als Agrotechniker nahm Zeuske 1976 sein Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Leipzig auf, wo er 1984 bei dem renommierten Neuzeithistoriker Manfred Kossok (1930–1993) mit einer Dissertation über die Unabhängigkeitsrevolution der Kolonien gegen Spanien (Independencia) promoviert wurde. Anschließend arbeitete Zeuske als Forschungs­ assistent über Vergleichende Revolutionsgeschichte der Neuzeit, habilitierte 1991 mit einer Studie über Simón Bolívar, erwarb die Venia legendi für Neuere Geschichte (Globalgeschichte) und lehrte schwerpunktmäßig über Sklaverei und Sklavenhandel.

Drei Jahre nach der Wende erhielt Michael Zeuske einen Ruf an die Universität zu Köln. Seitdem prägt er durch kreative Forschungsprojekte zu diversen Formen der Abhängigkeit in der atlantischen Sklaverei sowie weltweite mikrohistorische empirische Feldstudien zur globalen Geschichte der Sklaverei und eine beeindruckte Anzahl innovativer Publikationen die Forschung auf dem Spannungsfeld zwischen Sklaverei und Freiheit maßgeblich. Als Zeuske um 2003 den Eindruck gewann, „dass meine mikrohistorischen Forschungen immer kleinteiliger wurden und ich mich immer weiter von der Welt- und Globalgeschichte entfernte, die ich in Leipzig gelernt hatte“ (S. VIII), reifte der Plan für das vorliegende HandbuchProjekt. Das erste Manuskript, das dem Verfasser zunächst „großartig“ erschien, erwies sich aufgrund der konzeptionellen Ordnung nach Kontinenten und innerhalb dieser nach Epochen letztlich als unpublizierbar, zumal trotz des beträchtlichen Umfangs längst nicht alle regionalen und chronologischen Sklavereien berücksichtigt worden waren und die Vernetzung ihm „extrem konstruiert“ erschien. Weitere Gliederungsentwürfe, wie «große Räume» sen­ su Alexander von Humboldt, umgesetzt auf Meeres- und Ozeanräume, ließen erkennen, dass das Ordnungskonzept „Transozeanität“ vorwiegend europäisch geprägt ist und nach einer weiten sozio-ökonomischen Perspektive verlangte.

Neue konzeptionelle Impulse lieferten Bücher wie Die neue Sklaverei (von Kevin Bales 2001) sowie Human Bon­ dage (von Lakshmidhar Miskra 2011), die belegten, dass Sklaverei auch in unseren Tagen aufwühlende Realität ist. Fast unbehelligt von der öffentlichen Wahrnehmung sind heute rd. 40 Millionen Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, Opfer von Sklaverei, deren „Verschleierung […] durch offizielle Differenzkonstruktionen, Diskurse und Sprachregelungen [gelingt]…“ (S. 973), wenn z.B. von bonded labor, servitude, forced labor, black-burding, trafficking gesprochen wird.

Für gewöhnlich haben Handbücher, die eine systematische und kompilatorische Zusammenstellung von Informationen zu einem bestimmten Wissensgebiet anstreben, einen oder mehrere Herausgeber und zahlreiche Beiträger. Da Zeuske Alleinautor ist, musste er nicht nur den komplexen Konzeptionierungsprozess der „wirklich nachgerade unheimliche[n] Vielfalt historischer und heutiger Sklavereien“ bewältigen, sondern „die noch viel umfangreicheren life histories versklavter Menschen […] erforschen“ (S. XIX) und alle Kapitel selbst verfassen. Das nötigt mir als Co-Herausgeber eines dreibändigen Handbuchs nicht nur hohen Respekt ab, sondern wirft gleichzeitig die Frage auf, ob dieser ungewöhnliche „Alleingang“ ev. auch Ausdruck mangelnden Konsensus in der Geschichtsschreibung ist und damit fehlender Kooperationsbereitschaft. Oder liegt diesem Opus magnum das ‚Motiv «Ich will! Ich kann! Ich werde!» zugrunde?

Wie auch immer? − entstanden ist ein wissenschaftsgesättigtes Werk über Sklavereien (bewusst im Plural!). Die Globalhistorie erstreckt sich über alle Epochen und Räume. Zeuske erfasst alle chronologischen Erscheinungen von «Menschen als Ware» und «menschlicher Körper als Kapital» und berücksichtigt alle Großregionen, wobei die räumliche Gliederung dem Ordnungsprinzip der Meere und Anrainergebiete folgt. Dem theoretischen Konzept liegt der Begriff der Transkulturation zugrunde, verstanden als prozesshafter Charakter der Begegnung von Kulturen. Zeuske betont, dass ihm „die Spannung zwischen mikrohistorischer dezentraler Perspektive der Quellen und interpretativem globalistisch-zentralisierendem Narrativ der Text-Konstruktion […] extrem wichtig [ist] (S. XI). Seinem Credo nach sind die Unbekannten der Geschichte weltweiter Sklavereien die Versklavten; sie sind die Hauptakteure, weshalb er die Sklavinnen (die weit überwiegen) und Sklaven in den Fokus rückt und neben ihnen die Sklavenjäger, -händler und -halter.

In 16 (nicht nummerierten) Kapiteln werden die vielfältigen mikrohistorischen, translokalen und transkulturellen Aspekte in einer nicht auf den ersten Blick nachvollziehbaren Gliederung, in einem idiosynkratrischen und ab und zu redundanten globalhistorischen Narrativ „durchkonjugiert“. Wer sich einen allgemeinen Überblick verschaffen will, dem bietet der historisch-anthropologische Essay Sklavereien statt Sklaverei grundlegende Informationen verbunden mit der bitteren Erkenntnis, wie groß die „fundamentale Unkenntnis des Lebens der Sklavinnen, Sklaven und Sklavenkinder [ist]“, wie die „Sklaverei- und Kolonialeliten des 18. und 19. Jahrhunderts […] semantische SinnParadoxien fast schon zur Perfektion [manipulierten], und wie „[f]ast immer […] Sklaverei mit Rassismus verwechselt [wird]“ (S. 31-34).

Michael Zeuske prangert das „Dauergetöse von Diskursen (grand narratives) an, die ca. 1780 begannen, den „freien Markt“ als modern und die Sklavereien als unmodern zu konzipieren“ (S. 40). Aus globalhistorischer Makroperspektive war „der diskursive, rhetorische und mediengerecht inszenierte „Kampf gegen Sklaverei und Sklavenhandel“ ein Mittel, um die Gefühle möglichst vieler Menschen an Wirtschafts-, Sozial- und Lebensformen sowie die Kultur von Menschen zu binden, die für sich normativ „Freiheit“ als Hauptwert proklamieren […]“ (S. 49).

Wer diese Sichtweise nicht teilt, kann Zeuskes Argumentationsketten in dem faktendichten Handbuch verfolgen und sich überzeugen lassen. Dabei gilt, dass jede Weltund Globalgeschichte, wie der Autor explizit betont, von der Perspektive der/des Forschenden abhängig ist, da Geschichte immer selektiv und perspektivisch ist. Zeuske bekennt sich zur Perspektive des „erweiterten Westens“ und fügt hinzu: „…ich will diese Perspektive nicht, sie ist mir durch Sozialisierung, Systemtransformation 1990 und Räume eigener Archiv- und Feldforschung vorgegeben“ (S. 53).

Essentiell für den Einstieg in die Gesamtthematik sind der allgemeine Abriss Historiografie und Forschungsproble­ me in globalhistorischer Perspektive, der den geschichtlichen Interpretationsrahmen erläutert, sowie das definitorische Kapitel Was war Sklaverei und was ist ein Sklave?, das die allgemeine Konstituenten beschreibt. Nach Zeuske sind Sklaven – historisch gesehen – „ein weltgeschichtlicher Typus der Geschichte der Gattung Mensch“ (S. 194), wobei er mehrere Sklavereiformationen unterscheidet, sog. Plateaus.

Das älteste und in der Geschichte am weitesten verbreitete Plateau sind opportunistische Versklavungen ohne Menschenhandel. Das zweite Plateau wird von Kin- und Haussklaverei [kin, dt. Verwandtschaft] gebildet, einsetzend um die Bronzezeit (3000–1200 v. Chr.) mit Menschentausch zwischen Eliten/Herrschern sowie Razziensklaverei. Das dritte Plateau ist die Atlantic slavery mit ausgedehntem Sklavenhandel ab 1400 bis formal 1888. Dieser Form des Fernsklavenhandels folgten nach der sog. westlichen Abolition (dt. Abschaffung) ab ca. 1800 die Second Slaveries oder Bond Slaveries (Leibeigenschaft; Schuldknechtschaft) in Kombination mit anderen Zwangsarbeitsformen. Als fünftes Plateau gelten kollekti­ ve Staatssklavereien/Zwangsarbeiten in Kolonialgebieten und Diktaturen des 20. Jhdt. und selbst (angeblichen) Demokratien. Und schließlich führt der Autor – als Hypothese − „moderne Sklavereien“ und erzwungene Migrationen als sechstes Plateau (ab ca. 1975) an. Das historisch, soziologisch und politisch Relevante ist, dass bis auf die formale Ausnahme des dritten Plateaus alle Sklavereien bis heute existieren (vgl. S. 233).

Mit der ganzen Erfahrung eines tief mit der Materie vertrauten Senior Professors dekliniert Zeuske alle thematischen Aspekte der Plateaus durch. Er beschreibt die Übergänge zwischen ihnen, die Rollen der Akteure, die Transkulturationen und die Menschenhandelskulturen, legt die besondere „weltwirtschaftliche“ Rolle des Westens sensu lato und die sozial-ökonomischen Aspekte wie Effizienz, Rentabilität und Prestige dar, relativiert die Bedeutung von Rassismus, schildert sachlich-zurückhaltend die Gewaltformen, die Krankheiten und Traumata der Versklavten, erklärt die Rechtsformen resp. -konstruktionen, den differenzierten Abolitionsprozess sowie die Entformalisierung rechtlich abgesegneter Sklaverei, die auch ohne Rechtsdefinition und meist ohne praktische legale Sichtbarkeit zu modernen Formen geführt hat, und fragt in der Conclusio pointiert: „Sklaverei im Quadrat?“ (S. 936) Zeuskes Werk ist keine einfache Lektüre, was angesichts des Themas auch keiner erwarten dürfte. Aber auch der aufwendige Schreibstil und die Detailgenauigkeit mit über 3.000 Fußnoten tragen dazu bei. Das Literaturverzeichnis mit über 20.000 Zitaten sowie 75 Seiten Personen-, Sach- und Ortsregister lassen keinen relevanten Aspekt aus und machen die Globalhistorie singulär. Daher ist das Handbuch für Historiker ein Muss und für Anthropologen, Soziologen, Ethnologen, Wirtschaft- und Politikwissenschaftler und Interessierte eine herausfordernde Menschheitsgeschichte ‚ganz eigener Art‘. ˜

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Di­ rektor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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