Ethnologie

Ein Forschungsreisender

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2023

Anne Haeming: Der gesammelte Joest. Biografie eines Ethnologen. 303 S. Berlin: Matthes & Seitz 2023. ISBN 978-3-7518-0400-4. Geb., € 25,00.

 

Wilhelm Joest, Anne Haeming (Hg.), Carl Deußen (Hg.): Aus Indien nach Santa Cruz durch die Ethnologie. 255 S. Berlin: Matthes & Seitz 2023. ­ ISBN 978-3-7518-0401-1. Geb., € 28,00.

Zwei Bücher in schöner Ausstattung! Es ist eine Freude, die beiden Bände in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Für Titel und Überschriften wurde eine klare, serifenlose Schrift gewählt, also eine Schrift ohne „Füßchen“, für den Lauftext eine gut lesbare Schriftart mit besagten Füßchen; eine zurückhaltende Titelgestaltung, die mit wenigen Naturfarben auskommt und dadurch den ethnografischen Charakter der abgebildeten Gegenstände betont, ein schlankes Hochformat, auf dem man das markante ­Signet des Verlages entdeckt (eine steinzeitliche Petro­glyphe aus Gran Canaria) – all das macht Eindruck. Ein Lob für die Gestalterin Pauline Altmann, die damit ein typografisches Highlight gesetzt hat! Die gestalterische Ambition von Claus Seitz, neben Axel Matthes einer der beiden Initiatoren des 1977 gegründeten Verlages, der sich nach der Insolvenz 2004 neu erfand und als Spezialist für Ethnologie und französische Literatur der Moderne gilt, angesiedelt „zwischen Wissenschaft und Kunst“, ist bei den Bänden bis heute spürbar.

Doch nun zum Inhalt! Wer war Wilhelm Joest? Den Kölnern ist der 1852 in der Stadt am Rhein geborene Sohn wohlhabender Zuckerfabrikanten durch die von ihm gestifteten Sammlungen ein Begriff, die in dem großzügig gestalteten und nach ihm mitbenannten RautenstrauchJoest-Museum ihre Bleibe gefunden haben; den Ethnologen ist seine Sammeltätigkeit und sein Schrifttum ohnehin vertraut. Für die breitere Öffentlichkeit ist Joest dagegen heute, anders als zu seinen Lebzeiten, als er mit seinen Aufsätzen, Büchern und Zeitschriftenartikeln geradezu omnipräsent war, fast ein Unbekannter. Was Joest in den wenigen Jahren bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1897 – er starb auf einer Forschungsreise „im rüstigsten Mannesalter“, wie die Allgemeine Deutsche Biographie beklagte, entkräftet und fern jeder medizinischen Versorgung – zusammengetragen, geordnet, wissenschaftlich ausgewertet und gespendet hat, kann sich in der Tat sehen lassen: Museen von Berlin über Kopenhagen bis Leiden und Dresden verdanken ihm seltene, oft einzigartige Exponate fremder Kulturen aus der ganzen Welt – weniger Kunstgegenstände, meist kunsthandwerklich anspruchsvolle Alltagsartikel, oft „Körpernahes“: sein Prachtband über Tätowierungen gilt als Standardwerk, seine Musiktranskriptionen sind (vor Erfindung der Tonaufzeichnungen) ebenso sorgfältig ausgeführt wie die seinerzeit aufwendig hergestellten Schwarz-Weiß-Fotografien. Dennoch gilt Joest heute als halb vergessener Vertreter seines Fachs – gelegentlich mit dem Ruch des exzentrischen Außenseiters. Der Verfasserin und Mitherausgeberin der vorliegenden Bände, der Kulturjournalistin Anne Haeming, ist es zu danken, dass Joest (und mit ihm die frühe Ethnologie) nun neue Aufmerksamkeit erhält. Dass sie keine zünftige Fachwissenschaftlerin ist, muss kein Nachteil sein – biographische oder ethnografische Vollständigkeit war nicht angestrebt. Vielmehr ging es darum, anhand ausgewählter Einzelstücke, die mithilfe von Joests Tagebüchern und Schriften eindeutig identifizierbar sind, einen Zugang zu Joest selbst und dem außerordentlich aufwendigen Fach, das früher „Völkerkunde“ hieß und Sprachenkenntnisse, Reiselust, Ausdauer und eine tüchtige Portion Entbehrungsvermögen voraussetzt, zu finden und für uns Heutige fruchtbar zu machen. Dass der Autorin ihr Anliegen hervorragend gelungen ist, sei bereits an dieser ­Stelle gesagt: die Exponate, in Vitrinen und Schränken wohlverwahrt, beginnen zu sprechen, und Haeming gibt sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden. Originalaufsätze von Joest in zeitlicher Folge, mitherausgegeben von Carl Deußen, bilden den Inhalt des zweiten Bandes, der einen Einblick in den Schreibstil und die große Forschungsbreite des Ausnahmeethnologen gewährt.

Mit seinem in zwei Spitzen auslaufenden Tirpitzbart à la mode repräsentierte Joest nach außen hin das Urbild, ja Zerrbild des wilhelminischen Großbürgers: familiärer Wohlstand bewahrte ihn zeitlebens vor materieller Unbill und verlieh ihm eine Unabhängigkeit des Urteils und ein Selbstbewusstsein, das bis zur Überheblichkeit, ja Schroffheit gehen konnte; eine gute Ausbildung und ein ungetrübter Fortschrittsglaube, der damals keine Grenzen zu kennen schien, prädestinierten ihn zum Repräsentanten seiner Generation. Und doch ging Joest weit über die Globe­trotterei und den Gentlemantourismus seiner Zeitgenossen hinaus, trieb es ihn doch, von Wissensdurst und Reiselust angespornt, dazu, mehr über die Welt wissen zu wollen, ja sie mittels seiner Sammlungen aus den entlegensten Weltgegenden repräsentativ zu erfassen und zu schildern: da seine wissenschaftliche Qualifikation außer Frage stand – er war mit einer linguistischen Studie über eine Stammessprache auf Sulawesi zum Dr. phil. promoviert worden –, brachte er es am Ende gar zu einer Professur und wurde damit Teil einer wissenschaftlichen Elite, die im Kaiserreich ihre Blütezeit erlebte.

Doch das Bild zeigt auch Risse: die Unabhängigkeit erlaubte Joest eine Freiheit des Urteils, die nicht jedem willkommen war und ihm Neider und Gegner schaffte; die Ehe mit seiner Frau, die zunächst noch seine (eigenen!) Körpertätowierungen durchpauste und für die Publika­tion umzeichnete, endete in Handgreiflichkeiten, und wenn Joest am Tag seiner Scheidung dem Tagebuch anvertraute: „Bin also die Bestie, die mein Leben zehn Jahre hindurch vergiftet hat, los“, so ahnt man etwas von der persönlichen Tragödie dieses großen Sammlers. Schon ein Jahr später stirbt Joest auf Santa Cruz, einer entlegenen Insel des Salomonenarchipels, im Alter von nur 45 Jahren.

Schon damals hatte Joest jedoch für sich die Methode des „teilnehmenden Beobachtens“ entdeckt, der erst eine spätere Generation zum Durchbruch verhelfen sollte: es ging um die „Feldforschung“, bei der man vor Ort arbeitete und sich dabei der Methoden der neuen Sozialwissenschaften bediente. Hier hatte Joest – ohne es zu wissen oder zu wollen – methodisches Neuland betreten. Anne Haeming geleitet ihre Leserschaft flüssig, wenn auch unter gelegentlichen Redundanzen und nicht ganz ungestört durch allerhand orthografische Schrulligkeiten, anhand der von Joest gesammelten Exponate – darunter einige recht ausgefallene – durch dieses kurze wie ungewöhnlich reiche Leben. Als die Schwester Adele, verheiratete Rautenstrauch, die Sammlungen des Bruders nach dessen Tod der Stadt Köln schenkte, legte sie damit den Grundstock des nach ihr und ihrem Bruder benannten „Rautenstrauch-Joest-Museums“. Es ist schön, dass wir nun dank der vorliegenden Publikation nach fast anderthalb Jahrhunderten einen neuen, unbefangenen Blick auf diese außergewöhnliche Sammlung werfen können. Wer all das für Antiquaria aus einer entlegenen Weltgegend hält, der sollte einen Blick in die Nachrichten werfen: angesichts der geopolitischen Lage hat die Politik die Salomonen wiederentdeckt, Außenpolitiker der USA und Chinas geben sich inzwischen hier die Klinke in die Hand – fast ebendort, wo vor mehr als 120 Jahren ­Joest auf der Veranda des gastfreundlichen englischen Traders saß. (tk) ˜

Dr. Thomas Kohl (tk) Jg. 1950, war bis 2016 im Universitäts und Fachbuchhandel tätig und ist Herausgeber und Übersetzer mehrerer Bände über Süd- und Südostasien. Er bereist die Region seit vielen Jahren.

thkohl@t-online.de

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