Landeskunde

China – Geheime Verschlusssache

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2023

Als „VS-Nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichnete Entwürfe von China-Strategien bundesdeutscher Ministerien, oft gekennzeichnet als „Interne chinapolitische Leitlinien“, gelangten im Herbst letzten Jahres an die Öffentlichkeit und verrieten dann doch mehr über die Unbedarftheit dieser Ministerien und ihrer Zuträger als dass sie neue Einsichten in China betreffende Themen gebracht hätten. Dagegen bleibt ein großer Teil der zu China publizierten Forschungsergebnisse unbeachtet, so als wären dies die eigentlichen Verschlusssachen. Seit Egon Erwin Kischs fulminantem Bericht „China Geheim“ von 1933 bietet der Fachbuchmarkt eine Fülle an Lesbarem – man muss sich dem nur öffnen. Da ist es besonders bedauerlich, dass eine Taiwan-Reise der Bundesbildungsministerin im März mit dem Kommentar begleitet wurde, sie wolle von dort aus die für nötig gehaltene China-Kompetenz für Deutschland befördern, so als müsste die wissenschaftliche Beschäftigung mit China in Deutschland erst erfunden werden. Da nun aber Politik wie Max Weber es formulierte „ein starkes und langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ ist, sollte es keinen in der Politik verdrießen, die Politiker nicht, aber auch nicht die mündigen Bürger, wenn zu solchem Bohren auch die Lektüre umfangreicher Bücher gehört.

Harte Bretter

Hans van Ess, Konfuzius. Gespräche. Neu übersetzt und erläutert. München: C.H.Beck 2023. 816 S., Geb. mit Schutzumschlag. ISBN 978 3 406 79734 7. € 48,00.

 

Zhiping Liang. A Study of Legal Tradition of ­China from a Culture Perspective: Searching for ­Harmony in the Natural Order. Singapur: Springer 2023. xxviii+329 S., Hardcover. ISBN 978-981-19-4509-0. € 171,90.

 

Thomas Zimmer, Der Fremde in der Mitte. Ein ideenund kulturgeschichtlicher Abriss der Raumvorstellungen Chinas in der späten Kaiserzeit. Köln: Böhlau 2022. 1429 S., Hardcover. ISBN 978-3-412-52535-4. € 180,00.

 

Daniel Leese / Ming Shi, Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft. München: C. H. Beck 2023. 576 S., Softcover. ISBN 978-3-406-80043-6. € 29,90.

Gleich vier solche harten Bretter liegen auf dem Tisch. Hans van Ess eröffnet uns mit seiner deutschen Übersetzung und Kommentierung der Gespräche des Konfuzius neue Verständnishorizonte. Vor dem Hintergrund bisheriger Übersetzungen und Deutungsversuche schlägt van Ess vor, diese Gespräche nicht als „aus weitgehend unzusammenhängenden Sentenzen“ bestehend zu lesen, sondern als einen „Lehrtext“, der „von vorne bis hinten durchkomponiert“ ist. Nach einer umsichtigen Darstellung der Überlieferungsgeschichte von Konfuzius-Zitaten, auf welche dann später bei der Kommentierung zurückgegriffen wird, kommt er zu dem Schluss, dass die Gespräche das Ergebnis einer Han-zeitlichen Komposition sind, wohldurchdacht und im ersten Jahrhundert v.Chr. von einer „ordnenden Hand“ (S. 61) aus der bestehenden älteren und neueren Überlieferung zusammengestellt. So kann man gut informiert und vorbereitet ab S. 99 in die Lektüre der Gespräche eintreten. Chinesischer Text steht vor der Übersetzung, gefolgt von Erläuterungen. Die Gespräche lassen sich wie ein großer Katechismus lesen, und man ist verblüfft, wie überzeugend dieses Lektüreangebot ist. Dabei kann man die Reihenfolge durchaus selbst bestimmen und z.B. zunächst bei dem fünften Kapitel einsteigen, dem Hans van Ess die Überschrift „Der schöne Schein“ gegeben hat und in dem es um Fehlbeurteilungen und Missverständnisse geht und wo wie auch sonst oft am Schluss Deutungsmöglichkeiten offenbleiben.

Zhiping Liangs Darstellung der „Legal Tradition of China“ gehört zu jenen Publikationen, bei denen den Verlagen vorgeworfen wird, sie machten sich zum Sprachrohr chinesischer Positionen. Der Untertitel „Searching for Harmony in the Natural Order“ klingt tatsächlich nach dem „Neusprech“ der gegenwärtigen Parteilinie, was nichts daran ändert, dass das Buch höchst aufschlussreich ist. Dieses Buch, 1988 geschrieben, 1991 erstmals erschienen und nun ins Englische übersetzt, muss man aus jener Zeit der Neubesinnung auf einen eigenen chinesischen Weg in die Moderne verstehen. Geprägt durch unterschiedliche zivilisatorische Prozesse wird die Welt unterschiedlich interpretiert. Die Menschen „judge things differently, act according to different norms, and develop very different behaviour patterns as a result. From here, not only specific cultural styles emerge, but also different spirits of law.” (S. xiii). Während Montesquieu den „Geist der Gesetze“ in der Geschichte gesucht habe, suche man ihn in China in der spezifischen eigenen Kultur, womit Liang sogleich die Schwierigkeit adressiert, den Charakter der chinesischen Kultur überhaupt zu bestimmen. Bezogen auf das Naturrecht bestreitet Liang nicht die Universalität einer festen Beziehung zwischen Recht und Moral, doch wenn das Recht (fa) vom Rechtsempfinden und den Sitten (li) abweicht, verliere es seine Legitimität; dabei aber das Naturrecht mit li gleichzusetzen, sei abwegig (S. 298). So durchschreitet Liang in zwölf Kapiteln die verschiedenen Rechtsbereiche, vom Familienrecht über das Strafrecht bis hin zum Gewohnheitsrecht, immer wieder sich mit westlichen Deutungen des chinesischen Rechts auseinandersetzend. Bei Nutzung der eBook-Version hat man leicht Zugriff auf Belegstellen und Texte, doch ist die Gefahr der Verirrung nicht gering, zumal auf große chinesische Textkorpora, verknüpft mit oft schon als historisch zu bezeichnenden Übersetzungen, etwa von James Legge, zugegriffen wird. Dies sollte nicht von der Lektüre des Werkes abhalten.

Thomas Zimmer geht auf 1333 Druckseiten der Frage nach, „wie denn eigentlich die Menschen in China mit »Ferne« umgingen“ (S. 10) und erkundet die unterschiedlichen Sichten auf die Welt. Dabei interessieren ihn „Bilder, Begriffe und kognitive Prozesse“ (S. 13), und er holt weit aus, in begriffsgeschichtliche Erörterungen eintretend ebenso wie den ganzen Reichtum bisheriger Forschungsliteratur einbeziehend. Auch wenn das Buch ausdrücklich nicht als „Geschichte des Reisens in China“ gedacht ist (S. 15), so spielen doch Reisen durchweg eine große Rolle und nicht zuletzt in literarischen Werken verarbeitete Reiseerfahrungen. Konzentriert auf die „Späte Kaiserzeit“ ist das Werk zugleich eine weit ausholende Vorgeschichte der in den letzten Jahrzehnten stattfindenden „Öffnung Chinas“, endend mit der Reise des britischen Gesandten Macartney 1793. So kommt dem Schlusskapitel „Fazit und Ausblick“ (S. 1285ff.) die Aufgabe zu, die Brücke in die Gegenwart zu schlagen. Vor einem Einstieg in die vorhergehenden Kapitel ist die Lektüre dieses „Ausblicks“ empfehlenswert, wo Thomas Zimmer u.a. darlegt, wie in den 1990er Jahren die traditionelle Kultur umgedeutet wurde zu einem Schutzwall Chinas gegen allzu viel Einfluss von außen, und er zugleich die Grenzen der Anwendung des Nationalstaatsgedankens auf China erörtert (S. 1296). Wäre ich Lektor des Buches gewesen, hätte ich gerne zwei Sätze in Frage gestellt: Einmal auf Seite 9: „Ein paar Grad mehr an Erderwärmung stellen zumindest innerhalb kurzer Zeiträume keine unmittelbare Existenzbedrohung dar.“ Zum anderen den letzten Satz des Buches auf S. 1333: „Für die der Freiheit und der Demokratie verpflichteten Länder der Welt gilt es vorerst, auf bessere Tage in den Beziehungen mit China zu warten und Wege zu erkunden, um China und seinen Menschen künftig dauerhaft die Chance zu bieten, in der Weltgemeinschaft keine Fremden mehr zu sein.“ Ich würde statt einer solchen Von-Oben-Herab-Haltung den Reichtum der von Thomas Zimmer selbst geschilderten Vielfalt von Welterfahrungen hervorheben und auf das soeben von Daniel Leese und Ming Shi vorgelegte Buch hinweisen mit Texten, so der Verlag, „aus der Feder führender chinesischer Intellektueller der Gegenwart“. Denn auf einen Eintritt in das intensivierte Gespräch gerade mit diesen Positionen sollte man nun nicht länger warten. Natürlich muss man die Einleitung von Daniel Leese („Politik und Gesellschaft Chinas im Spiegel aktueller Kontroversen“, S. 12-41) und den Schlussessay von Shi Ming „Gelehrte, Getriebene, Gestalter – Die unterschiedlichen Rollen chinesischer Intellektueller“ (S. 590-609) zur Kenntnis nehmen, auch weil sie Thematik und Auswahl erklären, aber im Mittelpunkt stehen die 21 unterschiedlichen Positionen, von denen allein schon die erste des Historikers Ge Zhaoguang „Wann debattiert China darüber, was China ist?“ von andauernder Brisanz ist, wenn er schreibt „Auch wenn das Zentrum des historischen China relativ stabil war, so war seine Peripherie beständig in Veränderung begriffen.“ (S. 50-74, hier S. 68).

Die Kultur-Identitäten

Hartmut Walravens. Epische Erzählungen der ­Hezhe (Golden, Nanai) am unteren Sungari 松花江下游的 赫哲族. Gesammelt von Ling Chunsheng (Johnson Ling) 凌純聲. Aus dem Chinesischen übersetzt von Bruno J. Richtsfeld. Bearbeitet und hrsg. von Hartmut Walravens [=Asien- und Afrikastudien der HumboldtUniversität zu Berlin 57] Wiesbaden: Harrassowitz 2022. 462 S., Hardcover. ISBN 978-3-447-11867-5. € 89,00.

 

Mathias Bölinger, Der Hightech-Gulag. Chinas Verbrechen gegen die Uiguren. München: C.H.Beck 2023. 256 S., Klappenbroschur. ISBN 978-3-406-79724-8. € 18,00.

 

Felix Lee, China, mein Vater und ich. Über den Aufstieg einer Supermacht und was Familie Lee aus Wolfsburg damit zu tun hat. Berlin: Chr. Links 2023. 253 S., Geb. mit Schutzumschlag. ISBN 978-396289-169-5. € 22,00.

Die Peripherie Chinas, die „Ränder”, waren immer schon Thema und sind jüngst wieder stärker ins Gerede gekommen. Dazu zählen Taiwan und Hongkong, aber auch die Innere Mongolei und natürlich seit einigen Jahren besonders Xinjiang. Deswegen ist es so wichtig, diese Gebiete und ihre EinwohnerInnen genauer zu studieren, ihre Sprache und Kultur zu dokumentieren. Chinesische, aber auch europäische, darunter russische und deutsche WissenschaftlerInnen haben sich dem in den vergangenen hundert Jahren gewidmet. Die Sprache der Hezhe, eine auch jenseits der Grenze zu Russland ansässige und als „Fischhaut-Tataren“ bezeichnete Volksgruppe, über die Owen Lattimore, der Kenner der innerasiatischen Grenzgebiete, vor hundert Jahren forschte, gehört zum südlichen Zweig der tungusischen Sprachfamilie und ist dem Mandschu verwandt. Der von Hartmut Walravens herausgegebene Band über die Erzähltraditionen der mandschurischen Hezhe am unteren Sungari ist ein schöner Beitrag zur Sicherung mündlicher Erzähltraditionen jener innerasiatischen Kulturen, die zwischen China und Russland nicht selten gefährdet sind. Da gibt es bezaubernde Berichte darüber, wie etwa ein Jüngling Freiersprüfungen bestehen muss, um die zunächst von ihm nicht als Schönheit wahrgenommen Frau dann doch für sich zu gewinnen, Berichte über kämpferisch ausgetragene Konflikte, über Kriegslisten und schamanistische Praktiken – vierhundert Seiten Stoff zum Erzählen, gesammelt von dem chinesischen Ethnologen Ling Chunsheng und aus dem Chinesischen übersetzt von Bruno J. Richtsfeld. Solche Dokumentationen sind besonders verdienstvoll, weil man sie neben die vielen Berichte über Drangsalierungen, Vernichtungen und Genozide stellen kann, die vom Anpassungsdruck der chinesischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten, in letzter Zeit insbesondere gegenüber der in sich ja durchaus heterogenen Gruppe der Uiguren handeln. Gerade weil die Frage der Peripherien Chinas wie oben erwähnt auch in China selbst erörtert wird, gibt es zu dem Appell von Mathias Bölinger in seinem Buch über Chinas Verbrechen gegen die Uiguren, „im Verhältnis zu China nicht wieder zur Tagesordnung zurückzukehren“, auch Alternativen, sich nämlich weiter zu informieren und nicht zuletzt das Gespräch mit China zu suchen, gerade wenn man eben nicht auf Verschiebungen von Grenzen setzt. Zur Vielstimmigkeit Chinas zählen auch solche Berichte wie der des in Wolfsburg geborenen Wirtschaftsjournalisten Felix Lee, der den beruflichen Erfolg seines Vaters im Zusammenhang des Engagements von Volkswagen in China kenntnisreich und kritisch, zugleich aber mit viel Herzblut beschreibt und zum Teil eines Narrativs über China werden lässt, was das Buch zu einer informativen und zugleich sehr persönlichen Lektüre macht. Natürlich ist einiges verkürzt dargestellt, wie etwa der Umstand, dass die Anhänger der Kommunisten „vor allem aus ungebildeten und armen Bauern bestanden“ (S. 48), wo wir doch über den großen Anteil von Minenarbeitern in der kommunistischen Bewegung inzwischen gut informiert sind. Und bei manchen Berichten wäre ein Hinweis auf vorliegende Parallelen sinnvoll gewesen, dass etwa die Erinnerung seines Vaters aus der Zeit um 1940 an eine Hinrichtung und das nachfolgende Tränken von Dampfbrötchen im Blut des Opfers (S. 39) durch die 1919 erschienene Erzählung „Das Heilmittel“ von Lu Xun mit dem Satz „Solche Dampfbrötchen mit Menschenblut helfen garantiert gegen jede Schwindsucht!“ 這樣的人血的饅頭,什麽癆病都包好 ! in China bereits allgegenwärtig war.

die vielen Berichte über Drangsalierungen, Vernichtungen und Genozide stellen kann, die vom Anpassungsdruck der chinesischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten, in letzter Zeit insbesondere gegenüber der in sich ja durchaus heterogenen Gruppe der Uiguren handeln. Gerade weil die Frage der Peripherien Chinas wie oben erwähnt auch in China selbst erörtert wird, gibt es zu dem Appell von Mathias Bölinger in seinem Buch über Chinas Verbrechen gegen die Uiguren, „im Verhältnis zu China nicht wieder zur Tagesordnung zurückzukehren“, auch Alternativen, sich nämlich weiter zu informieren und nicht zuletzt das Gespräch mit China zu suchen, gerade wenn man eben nicht auf Verschiebungen von Grenzen setzt. Zur Vielstimmigkeit Chinas zählen auch solche Berichte wie der des in Wolfsburg geborenen Wirtschaftsjournalisten Felix Lee, der den beruflichen Erfolg seines Vaters im Zusammenhang des Engagements von Volkswagen in China kenntnisreich und kritisch, zugleich aber mit viel Herzblut beschreibt und zum Teil eines Narrativs über China werden lässt, was das Buch zu einer informativen und zugleich sehr persönlichen Lektüre macht. Natürlich ist einiges verkürzt dargestellt, wie etwa der Umstand, dass die Anhänger der Kommunisten „vor allem aus ungebildeten und armen Bauern bestanden“ (S. 48), wo wir doch über den großen Anteil von Minenarbeitern in der kommunistischen Bewegung inzwischen gut informiert sind. Und bei manchen Berichten wäre ein Hinweis auf vorliegende Parallelen sinnvoll gewesen, dass etwa die Erinnerung seines Vaters aus der Zeit um 1940 an eine Hinrichtung und das nachfolgende Tränken von Dampfbrötchen im Blut des Opfers (S. 39) durch die 1919 erschienene Erzählung „Das Heilmittel“ von Lu Xun mit dem Satz „Solche Dampfbrötchen mit Menschenblut helfen garantiert gegen jede Schwindsucht!“ 這樣的人血的饅頭,什麽癆病都包好 ! in China bereits allgegenwärtig war.

Birds Eye Views

Thorsten Pelzer, Merle Schatz. 100 Karten über China. Greifswald: Katapult 2022. 208 S., Halbleinen. ISBN 978-3-948923-42-6. € 26,00.

 

Alexandra von Przychowski (Hrsg.), Für immer Jade/ Forever Jade (dt.engl.), Chinesische Jademiniaturen aus vier Jahrtausenden. Zürich: Scheidegger & Spiess 2022. 128 S., Klappenbroschur. ISBN 978-3-03942102-2. € 38,00.

 

Susanne Pollack, Hans Bjarne Thomsen, Hrsg., Lines from East Asia. Japanese and Chinese Art on Paper. Petersberg: Michael Imhof 2022. ISBN 978-3-73191252-1. € 24,95.

Alle Bemühungen um eine differenzierte Betrachtung Chinas, seiner Geschichte und Gegenwart, werden stets mit dem Umstand umzugehen haben, dass China dann doch immer wieder als Einheit gesehen wird, in China selbst, worunter manche Minderheiten leiden, aber eben auch im globalen Diskurs. Da ist es schon wichtig, immer wieder den Überblick zu finden, wozu der KatapultVerlag und die Autoren Merle Schatz und Thorben Pelzer eine wunderbar stimmige Handreichung geben. Auf 100 Karten wird das Wissen thematisch in großer Breite zusammengefasst. Auf Seite 112-113 werden „Anschläge uigurischer Extremisten, Stand Juli 2022“ auf einer Karte verzeichnet und die Bestrebungen, einen Staat Ostturkestan wiederzubegründen, kurz zusammengefasst. Die Themen der Karten reichen von der Bevölkerungsverteilung, 94 Prozent in der einen südöstlichen Hälfte, 6 Prozent in der anderen nordwestlichen Hälfte (S. 12/13) bis zur Getreideproduktion und praktischen Hinweisen auf die für Zahlen in China gebräuchlichen Handzeichen und vieles mehr. Wer diese Grafiken verinnerlicht hat, Chinas Hochgeschwindigkeits-Schienennetz und vieles sonst vor dem inneren Auge, ist bestens vorbereitet, China in seiner Ganzheit und zugleich in seiner Vielfalt zu begegnen. Einen ganz anderen, gewissermaßen Ewigkeit aufscheinen lassenden Blick zeigt uns ein die Ausstellung Für immer Jade dokumentierender und von Alexandra von Przychowski herausgegebener Katalog chinesischer Jademiniaturen aus vier Jahrtausenden. Dies Buch bezeichnet sich zu Recht als „Liebeserklärung an die chinesische Jadekunst“. Da Jade mit keiner Kulturgeschichte so eng verknüpft ist wie mit der chinesischen, ist es auch kein Zufall, dass das Zeichen für Jade 玉 das chinesische Kurzzeichen für Nation im Inneren ganz ausfüllt. Die hier dokumentierte Züricher Ausstellung eröffnet uns hinreißende Einblicke in die Einbindung dieses kostbaren Steines in die chinesische Kunst und Kultur. Zugleich erfährt man etwas über die weitere kulturgeschichtliche und auch medizinische Bedeutung dieses Materials, dessen Bezeichnung auf das spanische piedra de ijada «Lendenstein» zurückgeht (S. 35). Druck und Gestaltung dieses eleganten Kataloges repräsentieren selbst den Zauber der Jade und lassen den Preis angemessen erscheinen. Wie bei der Jade Kunst­ traditionen in Ostasien nationale Grenzen überschreiten und größere Zusammenhänge eröffnen, die den Begriff der „Kunst Ostasiens“ rechtfertigen, so belegt der Katalog Lines from East Asia aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, der auch in deutscher Sprache angekündigt ist, den Zauber japanischer und chinesischer HolzschnittTradition. Wie sehr die Tradition der ostasiatischen Blockdruck-Kunst seit dem 19. Jahrhundert die ganze Nordhalbkugel faszinierte, lässt sich in den Sammlungen des American Museum of Natural History in New York ebenso besichtigen wie in der Züricher Sammlung. Während manche der erotischen Abbildungen etwa in Japan selbst nicht öffentlich gezeigt oder im Druck veröffentlicht werden konnten und man daraus sittengeschichtliche Moden und Tabuisierungen ablesen kann, sind auch hier diese

Dokumente einschließlich der ganzen Pornografie keine Verschlusssache mehr.

Die großen Linien

Elmar Theveßen, Kampf der Supermächte. Amerika und China auf Konfrontationskurs. München: ­Piper 2022, 334 S., Hardcover. ISBN 978-3-492-07300-4. € 22,00.

 

Julia Lovell, Maoismus. Eine Weltgeschichte. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Berlin: Suhrkamp 2023. 768 S., Geb. mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-518-43116-0. € 42,00.

 

Ralf Ruckus, Die Linke in China. Eine Einführung. Wien-Berlin: mandelbaum kritik & utopie 2023. 398 S., Broschiert. ISBN 978-3-85476-919-4. € 20,00.

 

Qingjie James Wang and Sai Hang Kwok, ­Heidegger in China and Japan. Würzburg: Königshausen & Neumann 2022. 244 S., Paperback. ISBN 978-3-8260-7674-9. € 68,00.

Zu einem besseren Verständnis Chinas muss man, wie betont, viele Bücher aufschlagen und sollte auch die Stimmen derjenigen zur Kenntnis nehmen, die in unseren Leitmedien hohen Einfluss ausüben. So entlarvt sich Elmar Theveßen in seinem Bestseller Kampf der Supermächte selbst, wenn er in seinem in weiten Passagen die Vereinigten Staaten treffend beschreibenden Buch den Kampf auf den Gegensatz Demokratie vs. Diktatur verkürzt. Gerne teilt man mit ihm die Erwartung, die Demokratie müsse beweisen, dass die Überzeugung der Unabhängigkeitserklärung vorherrschend bleibt, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“. Doch eine „Wertegemeinschaft“ zu konstruieren, „zu der sich Amerika und seine Verbündeten, darunter auch die meisten europäischen Staaten, zählen“, um diese dann „gegen den menschenverachtenden Autoritarismus des Rivalen China“ (S. 327) in Stellung zu bringen, prolongiert die Distanz zwischen den alten industrialisierten Ländern und dem globalen Süden und verkennt die in China durchaus angelegten und fortwirkenden inneren Dynamiken, von denen oben schon die Rede war, zugunsten einer Feindbildkonstruktion. Insbesondere in der Taiwan-Frage wird in Europa die lange respektierte Ein-China-Theorie nicht mehr einhellig anerkannt, wie der neueste Streit um den Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel ­Macron zu einem eigenen europäischen Vorgehen in der Taiwan-Frage andeutet. Ein anderer Stichwortgeber in den Leitmedien ist der auch schon hier im fachbuchjournal berücksichtigte Kai Strittmatter, der jüngst betonte, „um das China Xi Jinpings zu verstehen, muss man nicht Konfuzius studieren und nicht Laotse, sondern Marx und Lenin“, denn „die KP unter Xi möchte die Ordnung der Welt formen, nach ihrem Bilde.“ (Süddeutsche Zeitung Nr. 81, 6./7. April 2023, S. 9) Eine solche Sicht verkennt spezifische chinesische Sinn- und Gemeinschaftsbildungstraditionen, verweist immerhin aber auf den in neuerer Zeit wieder revitalisierten „Maoismus“ als eine überall in der Welt wirkende Bewegung, der Julia Lovell eine sehr lesenswerte Überblicksdarstellung gewidmet hat, die soeben auf Deutsch erschienen ist. Beginnend mit dem Weltbestseller »Red Star over China« des amerikanischen Journalisten Edgar Snow von 1938, der Mao Zedong und seine Lehren erstmals weltweit portraitierte und in der chinesischen Übersetzung dann auch in China selbst zum Propagandamittel wurde, stellt Julia Lovell die sich an die ganze Welt richtende Revolutionslehre Maos dar, wie sie bis in die Gegenwart in zahlreichen Ländern Gefolgschaft und Nachahmer fand und weiterhin findet. Dabei zieht sie die Linie von den Anfängen der aktiven Propaganda über die verschiedenen Reaktionen, etwa des CIA, der seinerseits mit der Entwicklung von LSD der Gehirnwäsche der Maoisten eine eigene psychotrope Politik entgegenzusetzen suchte (S. 132 ff.), bis hin zu den über die Kontinente verstreuten und sich auf Mao Zedong berufenden Befreiungsbewegungen. So gelingt ihr eine Weltgeschichte von Ideen und sozialen und militanten Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bis in die gegenwärtige politische Agenda der KP Chinas reicht, bei der auf chinesischer Seite zwar die Bemühungen früherer Jahrzehnte um internationalen Einfluss verschwiegen oder gar geleugnet werden, die Absicht, die Welt des 21. Jahrhunderts mitzugestalten, aber unverkennbar ist und sich dies auch in der Gestalt des Staatspräsidenten Xi Jinping widerspiegelt. Julia Lovells Buch ist auch deswegen ein wichtiger Beitrag zur gegenwärtigen Debatte, weil man darin nachverfolgen kann, wie schon einmal der Versuch, die Eroberung der Welt durch das Gespenst des Kommunismus zu verhindern, „die Fundamente der US.-amerikanischen Demokratie“ (S. 9) zu untergraben drohte. Im Gegensatz zu dieser hochinformativen und kurzweilig zu lesenden „Weltgeschichte“ beschreibt etwas angestrengt Ralf Ruckus die Linke in China und wie sie darauf reagiert, dass „die Revolution in der Volksrepublik scheiterte“ (S. 289). Ruckus mahnt eine eingehendere Beschäftigung mit den „Klassenkämpfen und linken oppositionellen Bewegungen“ (S. 290) an, statt weiter an einer „linken Mystifizierung der sozialistischen Vergangenheit“ (S. 288) festzuhalten, und fordert: „Die globale Linke muss sich mit dem Vermächtnis sozialistischer Regime wie in der früheren Sowjetunion, in Russland und in der Volksrepublik China auseinandersetzen und diese kritisieren.“ (ebd.). Auch wenn man in vielem den Analysen von Ralf Ruckus nicht folgen mag, bleibt es doch das Verdienst seiner bereits in früheren Schriften niedergelegten Bemühungen, auf die inneren Widersprüche und nicht zuletzt auf ausbeuterische Arbeitsbeziehungen und darauf reagierende Protestbewegungen und Arbeitskämpfe in China hingewiesen zu haben, auf Widersprüche, die zugleich Teil des Entwicklungspotentials darstellen. Es bleibt dabei offen, wie „links“ viele der Protestbewegungen tatsächlich sind, oder ob sich dahinter nicht Aushandlungs- und Adjustierungsprozesse verbergen, welche letztlich einem inneren Frieden dienen. Ruckus aber ebenso wie den Mainstream-Journalisten fehlt der Blick für die historischen Tiefenstrukturen und die in China seit der Neuen Kulturbewegung im Ausgang des Ersten Weltkriegs fortdauernden Debatten um die Neukonzipierung des Menschen und seiner Würde in einer modernen Welt. Hier war einer der ersten Stichwortgeber der in Leipzig ausgebildete Cai Yuanpei (1868–1940), Rektor der PekingUniversität, der am 16. November 1918 auf einer Kundgebung am Platz des Himmlischen Friedens proklamierte, „Die Zukunft gehört den Arbeitenden“, sich ausdrücklich gegen die Unterscheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit des Menzius wendend, der noch die Handarbeit der geistigen Arbeit unterordnete. (Siehe Ping Zhu, Becoming Laborers: The Identification with Labor during the Chinese New Culture Movement, in: Journal of Asian Studies 82:1, Februar 2023, S. 25-43.)

Dass eine Beschränkung auf die Lektüre von Marx und Lenin abwegig ist, belegen auch die inzwischen weit über einhundertfünfzig Jahre andauernden Bemühungen zwischen Ost und West um ein vertieftes Verständnis der jeweiligen Kultur- und Geistesgeschichte. Insbesondere in Ostasien, wo man sich seit dem Eindringen des Buddhismus immer wieder von Fremdem hat faszinieren lassen, kann man durch erneute Lektüre dort rezipierter europäischer Denker über diese viel Neues erfahren. Dort erweist sich die von dem Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard im Anschluss an den Soziologen Hartmut Rosa ins Gespräch gebrachte „Resonanzsensibilität der Kulturen“ als besonders lebendig, die in Europa in der Frühen Neuzeit stärker ausgeprägt war als gegenwärtig, die wohl den einzigen Weg bildet, einem globalen Humanismus den Boden zu bereiten. In den Zusammenhang der Rezeption westlicher Philosophie von Augustinus über Leibniz, Montesquieu, Kant und Hegel bis zu Karl Marx und Friedrich Nietzsche in Ostasien ist der von James Wang und Sai Hang Kwok herausgegebene Band zu „Heidegger in China und Japan“ zu stellen. Dabei geht es immer wieder um den Begriff des »Dao«, um »Sein« und »Zeit«. Die Philosophin Li Hongxia etwa erörtert S. 67-83 die unterschiedlichen Deutungen des Laozi-Denkens aus der Sicht westlicher Metaphysik und moderner westlicher Philosophie sowie aus traditioneller chinesischer Perspektive und nimmt dabei ihren Ausgang von deutschen Laozi-Übersetzungen und darauf fußenden Deutungsansätzen bei Martin Heidegger. Manchmal stolpert man über Ungereimtheiten, für die zumeist ein zusätzliches deutschsprachiges Lektorat hätte einfache Abhilfe schaffen können. Insgesamt aber verweist dieser Sammelband auf den weiten und inzwischen die Kontinente übergreifenden Gesprächshorizont über die condition humaine im Lichte der Philosophie. Dabei geht es wie bei Tang Man-to (S.159-176) um das Vergessen, um den Begriff der Technik im Ausgang von Heideggers Bremer Vorlesung von 1949 Gestell, 1953 publiziert als Die Frage nach der Technik, und vieles mehr. Besonders erhellend sind gewissermaßen als „differentialdiagnostisch“ zu bezeichnende Erörterungen wie jene von Abe Hiroshi zum Gemeinschaftsbegriff bei Heidegger einerseits und dem japanischen Philosophen Tetsuro Watsuji (1889–1960) auf den Seiten 205-214, ein Begriff, der gerne unter Verdacht gestellt und damit gerade nicht verstanden wird, wo doch erst durch Erschließen und Entbergen Wahrheit ersichtlich werden kann. (hsg)

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen.

Helwig.Schmidt-Glintzer@zentr.uni-goettingen.de

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