Landeskunde

China erfindet sich neu – und verändert die Welt?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2021

Seit der Covid-19-Pandemie wird China mit neuen Augen gesehen, und doch verschiebt sich die Optik nur allmählich. Übersehen wird dabei, dass in China die Haltung, man wolle nachahmend lernen, um international anschlussfähig zu werden, einer Ernüchterung gewichen ist: seit der Finanzkrise 2007–2009 ist es dort zu einer „Entzauberung des Westens“ gekommen. Und doch scheint dieser an seiner Überlegenheit festzuhalten. Dies gilt auch für die neue US-Administration unter Präsident Biden, welche China weiterhin als Rivalen sieht, ermuntert von der Grand Dame der US-Außenpolitik Madeleine Albright, Jahrgang 1937. Diese fordert Wachsamkeit gegenüber China. Auch wenn solche Wachsamkeit mit Blicken in alle Richtungen für Europa essentiell ist, so scheint dessen Blick doch getrübt zu bleiben. Der Hinweis auf die „Westlichen Werte“ verdeckt nur, dass der Anspruch auf die Fortdauer der amerikanisch-europäischen Dominanz verspielt ist, und verbirgt vor allem die Angst vor Veränderungen. Denn dass der Aufstieg Chinas die Welt verändert, ist unbestreitbar. Der Behauptung, dies bedeute ein Ende der Freiheit, muss man die Frage entgegenstellen, welche Freiheit gemeint ist. Veränderungen bedeuten fast immer gleichermaßen Verlust und Gewinn! Die weltweite Vernetzung und Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, führt aber auch zu Kontrolle und dem Verlust von Freiheiten. Dieser Entwicklung ist keine Gesellschaft hilflos ausgeliefert, und es wäre eine fahrlässige Selbsttäuschung, China für den Verlust an Freiheiten verantwortlich zu machen. In solchen Zeiten ist China-Kompetenz gefragt, doch wie die folgende Literaturübersicht zeigt, ist solche Kompetenz nicht durch Wiederholung von Gemeinplätzen zu gewinnen, sondern nur durch das Sich-Einlassen auf komplexe Zusammenhänge, durch das seit Max Weber sprichwörtliche „Bohren harter Bretter“, denn solches Bohren „mit Leidenschaft und Augenmaß“ sollte nicht nur Devise der Politiker und Politikerinnen sein, sondern auch Analysen und Kommentaren vorausgehen.

Uwe Behrens, Feindbild China. Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen. Berlin: edition ost im Verlag Das Neue Berlin 2021. 221 S., broschiert. ISBN 978-3-360-01896-0. € 15,00.

Die meisten der zahlreichen aktuellen Bücher über China bedienen zumeist aber die gängigen Klischees über China, auch wenn sie oft viel Wissenswertes zutage fördern. Dies gilt für das Buch des langjährigen Leiters des Pekinger ZDF-Studios, welches sich flüssig liest, leider jedoch von Anfang an einen aggressiven Ton gegen Chinas Staats- und Parteiführung anschlägt. Thomas Reichardt sieht China „auf der Überholspur“ und spricht von einem „irren Tempo und rücksichtsloser Wucht von Abriss und Aufbau“, räumt dann aber doch die „wahrgenommene“ – warum nicht: tatsächliche? – militärische „Umklammerung“ durch die USA ein (S. 238) und rät am Ende sogar Deutschland und Europa dazu, „sich nicht zu entkoppeln von China“, doch es müsse „seine China-Naivität aufgeben“ (S. 266). Dabei verrät er selbst gelegentlich Naivität, etwa wenn er über Hong Kong und Taiwan schreibt, dort entscheide sich „unsere Freiheit“, ohne zu bedenken, dass in den Zeiten der Einparteienherrschaft in Taiwan und in der Zeit, solange Hongkong britische Kolonie war, von Freiheit und Demokratie dort nicht die Rede hat sein können, wie der Autor überhaupt für historische Kontexte keinen Blick zu haben scheint.

 

Matthias Naß, Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet. München: C.H.Beck 2021. 320 S., Hardcover. ISBN 978-3-40676450-9. € 24,95.

Informierter als Thomas Reichardt geht da Matthias Naß vor, auch wenn er wie dieser mit dem Covid-19 auslösenden Coronavirus sein Buch einleitet und mit dem Verhältnis Europas, Deutschlands und der USA zu China beschließt und dem regionalen Umfeld nur Seitenblicke schenkt, immerhin aber einräumt, China fühle sich militärisch „eingekreist“ (S. 298). Doch die Informiertheit, unterstrichen durch die Berufung auf eine Reihe akademischer sinologischer Lehrer, bricht sich nicht selten an der Optik des Autors und führt gelegentlich zu Widersprüchen, wenn er einerseits China als Regionalmacht und „noch kein Rivale“ (S. 261) und „nicht nach der Weltmacht“ greifend (S. 293) beschreibt, dann aber doch im Titel den „Aufstieg zur Weltmacht“ adressiert, den es nun, so fragt sich der Leser, zu verhindern gilt? Auch wenn Naß China „auf einem Irrweg“ sieht (S. 298) und meint, es hätte „mehr Freiheit wagen müssen“ (ebd.), vermisst man eine Beschreibung der für ein Land von den räumlichen Dimensionen Europas keineswegs trivialen inneren Zwänge und Politikkonzepte. Wären er sowie der Autor des zuvor besprochenen Buches dem Begriff des Drachen etwas nachgegangen, statt ihn nur als drohendes Element im Titel zu beschwören, hätte dies vielleicht ihren Blick für Ambivalenzen und Spielarten geschärft.

 

Clive Hamilton und Mareike Ohlberg, Die Lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020. 495 S., Hardcover. ISBN 978-3-421-04863-9. € 26,00.

An Informationsdichte und in der Aggressivität des Tones übertrifft das von einem australisch-deutschen Auto­ renteam verfasste Buch über die „lautlose Eroberung“ die beiden vorgenannten um Längen. Das Buch ist eine Reaktion darauf, dass sich China inzwischen als globale Gestaltungsmacht versteht und daraus Ansprüche zur Mitgestaltung internationaler Politik ableitet. Weil diese Entwicklung als Bedrohung verstanden und der Kommunistischen Partei Chinas unterstellt wird, seit 30 Jahren, seit dem Zerfall der Sowjetunion, einen geheimen Plan zur Erringung der Weltherrschaft zu verfolgen – der Titel der englischen Originalausgabe ist da viel klarer: Hidden Hand. Exposing how the Chinese Communist Party is Reshaping the World –, kann das Buch mit reinem Gewissen als Streitschrift und laute Warnung auftreten. Im Ton tritt es wie Stephen Bannon auf, der Wahlkampfberater Donald Trumps, der bis heute dafür wirbt, man müsse das chinesische Volk von der Kommunistischen Partei befreien. All denjenigen, die für eine solche Rhetorik, die manche Rezensenten als „kriegerisch“ bezeichnen, empfänglich sind, ist das Buch ein wunderbarer Quell der Bestätigung, zumal zahlreiche Details durchaus korrekt dargestellt werden und so diese Streitschrift einen wissenschaftlichen Anstrich erhält. Das Buch bleibt aber eine als Enthüllung auftretende Polemik und vermittelt das Bild eines bedrohlichen China. Dass dabei all jene, die einen nachdenklichen und durchaus von eigenen Interessen geleiteten Umgang mit China verfolgt haben oder noch verfolgen, auf eine „schwarze Liste“ der „Freunde Chinas“ gesetzt werden, ist mehr als bedenklich. Dabei sind die Autoren nicht zimperlich, und neben Henry Kissinger, Bill Clinton, John Kerry und Joe Biden finden sich Helmut Schmidt (S. 120), Gerhard Schröder (S. 122), Angela Merkel („Unterstützerin Chinas“) und viele andere, nicht zu schweigen von den kollektiv verdächtigten Akteuren in Wirtschaft, Medien, Kultur und Wissenschaft. Viele werden als „gekauft“ dargestellt, wie Michael Schaefer, 2007 bis 2013 deutscher Botschafter in China (S. 93). Leider und vielleicht bezeichnenderweise gibt es kein Personenregister. So wird das Buch, welches mit Unterstellungen hantiert, in der Summe trotz der vielen Details zu einem polemischen Machwerk.

 

Nele Noesselt, Hrsg., China’s Interactions with Latin America and the Caribbean. Conquering the US’s Strategic Backyard? Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021. 320 S., Softcover. ISBN 978-3-82884547-3. € 58,00.

Dabei bleibt es unstrittig, dass Chinas Suche nach einer neuen Rolle in der Welt im eigenen Interesse allseitige Aufmerksamkeit und Umsicht erfordert. Inzwischen sind alle Weltgegenden betroffen – und damit auch Südamerika, wo China allein schon zur Sicherung von Rohstoffen einschließlich von Agrarprodukten massive eigene Interessen verfolgt. Ein von Nele Noesselt herausgegebener Band beleuchtet in zwölf Einzelbeiträgen die Entwicklungen der Beziehungen zwischen den Staaten Südamerikas mit China, zugleich vor dem Hintergrund der fortbestehenden Dominanz der USA, die etwa bei der 5GTechnologie weiterhin alles daransetzen, die Beteiligung von Huawei zu verhindern und immerhin eine Verschiebung der Entscheidung in Brasilien bewirkt haben. Brasilien als einer der sich als aufstrebende Volkswirtschaften verstehenden BRICS-Staaten (China, Russland, Indien, Südafrika) steht bei der US-amerikanischen Politik unter besonderer Beobachtung, weil vor allem China und Russland als Feinde der „freien“ Welt gesehen werden. Diese Sicht und die Betonung des Konfliktes zwischen freier Welt und den angeblichen illiberalen Weltbeherrschungsinteressen Chinas bzw. Russlands führen dazu, dass China besondere Anstrengungen unternimmt, seine Interessen in Lateinamerika ebenso wie dies bei Europa der Fall ist, auf bilateraler Ebene zu verfolgen. Im Ergebnis trägt dies zur Schwächung des europäischen ebenso wie des lateinamerikanischen Zusammenhalts bei, auch wenn sich, wie Victor Jeifets in dem Beitrag „Russia and China in Latin America“ feststellt, Lateinamerika eine größere Selbständigkeit gegenüber den USA errungen hat, eine Entwicklung, die in Europa nicht übersehen werden sollte. Chinas weltweite Wirtschaftsinteressen werden von manchen begrüßt, von anderen als bedrohlich empfunden, doch auf Gebieten wie Klimaschutz, Ressourcenschonung und Sauberkeit der Weltmeere könnten dadurch bei multilateraler Verständigung neue Brücken und Allianzen befördert werden.

 

Michael Dowling u.a., Deutsch-chinesische Innovationspartnerschaft: Rahmenbedingungen, Chancen und Herausforderungen. Die Policy Briefs der deutschen DCPI Expertengruppe 2017-2019. Marburg: Metropolis-Verlag 2020. 416 S., Broschiert. ISBN 978-3-7316-1430-2. € 48,00.

Die nach der Finanzkrise 2011 für das Forum „DeutschChinesische Plattform Innovation“ (DCPI) eingerichtete deutsche Expertengruppe wurde im Jahr 2017 neu gebildet und war tätig bis 2019. Die in diesem Rahmen für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) verfassten und veröffentlichten „Policy Briefs“ liegen nun gesammelt vor. Die Beiträge sind deswegen hochaktuell, weil sie ein sehr differenziertes Bild der sonst oft nur verkürzt vorgetragenen Themenfelder ausbreiten. Bemerkenswert sind dabei vor allem jene Beiträge, in denen die unterschiedlichen Strategien auf chinesischer und deutscher Seite herausgearbeitet und bewertet werden. Dabei wird deutlich, dass die häufig anzutreffende Entgegensetzung von staatlich gelenkt einerseits und freiheitlich andererseits den Blick oft verstellt. So richtet beispielsweise Markus Taube sein Augenmerk auf Regulierungsfreiräume in China, ausgehend von der Feststellung: „ohne die treibende Kraft dezentraler polit-ökonomischer Unternehmer, die die bestehenden Ordnungsstrukturen immer wieder in Frage gestellt haben […] wäre das chinesische ‚Wirtschaftswunder‘ nicht realisiert worden.“ (S. 225f.) Als Resultat hat China längst eine Zentralverwaltungswirtschaft hinter sich gelassen und dabei ein System entwickelt, in dem die Eliten von Partei und Staatsregierung und die Unternehmenslenker der führenden Firmen aller Branchen auf der Grundlage gleichgerichteter Zielvorstellungen in einem lebendig kommunizierenden Miteinander agieren. Die Zulassung von Innovationsfreiräumen und staatliche Regulierungsabstinenz bedingen hier immer wieder einander. Die „Policy Briefs“ tragen alle auf unterschiedliche Weise dazu bei, die Debatte um Innovation und Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ differenziert zu führen, ohne schwer oder vielleicht auch gar nicht auszuräumende Hindernisse zu verschweigen, die sich etwa aus den unterschiedlichen Besitzverhältnissen ergeben. Erfrischend lesen sich dabei auch Sätze, welche die eigenen Potentiale adressieren, wie jener des BDI-Repräsentanten Friedolin Strack „We can’t beat China in creating a European state-driven economy. Our strength is the dynamism of a market-driven economy. The same holds true for innovation.“ (S. 314)

 

Michael Szurawitzki, Die chinesische Messaging-App WeChat als virtuelle Sprachinsel. Studien zur WeChat-Nutzung deutschsprachiger Expatriates in China. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2020. 233 S., Hardcover. ISBN 978-3-8233-8312-3. € 49,90.

Neben solchem Wissen ist es für ein erfolgreiches Bestehen im chinesischen Umfeld hilfreich, sich der dort üblichen Orientierungsmittel bedienen zu können. Für die Lebenspraxis von etwa 30.000 Deutschsprachigen, die sich vor der Covid-19-Epidemie in China aufzuhalten pflegten, war WeChat zumeist unverzichtbar. Deren Nutzung dieser App untersucht der Sprachwissenschaftler Michael Szurawitzki in einer medienlinguistischen auf Online-Erhebungen basierenden Forschungsarbeit, deren Lektüre alles andere als „trocken“ ist. Die zur Einbettung gedachten ersten Kapitel „Deutschsprachiges Engagement in China historisch“ und „zur deutschsprachigen Expat-Community in China heute“ geben vorzügliche knappe Überblicke. Die Forschungsdaten, die weiterhin öffentlich zugänglich bleiben, werden umsichtig ausgewertet, und man kann sich durchaus vorstellen, dass diese Studie zu Folgestudien anregt.

 

Karl Pilny, Praxiswissen China. Verhandlungsstrategie – Normen – Vertragsgestaltung. Mit Mustervorlagen und Arbeitshilfen. München: Carl Hanser Verlag 2021. 11+309 S., Hardcover. ISBN 978-3-44646479-7. € 79,99.

Weniger analytisch oder beschreibend, sondern handlungsorientiert ist der von Karl Pilny vorgelegte Ratgeber „Praxiswissen China“ gedacht, der allerdings im ersten Teil sehr weit ausholt und bis Seite 102 „Basiswissen“ präsentiert, welches in einem umfassenden Überblick die Transformation Chinas bis zur Gegenwart nachzeichnet. Während hier manche Verallgemeinerungen unvermeidlich sind, könnten sie sich im zweiten Teil „Praxiswissen“ als problematisch erweisen. Zwar ist nicht ganz falsch, dass sich Chinesen als solche verstehen, wo immer sie sich befinden, aber es ist doch nicht das Gleiche, ob man in Kanton oder in Peking oder aber in Chongqing oder „nur“ in Shanghai seinen Geschäften nachgeht. Und doch sind die Ratschläge und Hinweise Pilnys durchweg zu beherzigen. Dabei sollte jedoch das oberste Gebot bleiben, entspannt und freundlich und zurückhaltend, durchaus auch selbstbewusst, aber nicht abweisend oder zugeknöpft aufzutreten und die von Pilny aufgeschriebenen Ratschläge nicht einfach als feste Rezepte mit sich herumzutragen. Dann wird man nach einer Lektüre des Buches gut fahren. Die immer wichtiger werdenden rechtlichen und finanztechnischen Fragen werden ebenso angesprochen wie dann im dritten Teil praktische Vertragsmuster sowie Adressen von Anwälten und andere nützliche Hinweise mitgeteilt. Ein gelungener Ratgeber.

 

Andreas Berndt, Der Kult der Drachenkönige (longwang) im China der späten Kaiserzeit. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020. 483 S., Broschiert. ISBN 978-3-96023-100-4. € 33,00.

China-Kompetenz lässt sich auf verschiedenen Gebieten entwickeln und ausbauen. Einer der Königswege ist dabei ohne Zweifel, sich auf China gänzlich einzulassen und in einem Sachgebiet Expertise aufzubauen. Wie dies in nahezu allen Wissensbereichen der Fall ist, haben auch in den Chinawissenschaften Doktorarbeiten in der Vergangenheit die Wissenshorizonte wesentlich weiterentwickelt. Dies gilt bis heute. Ein Beispiel ist die Darstellung des Kults der Drachenkönige durch Andreas Berndt. Dieser führt uns nicht nur zu den Orten dieser zumeist als Regengottheiten verehrten Drachen, sondern klärt zugleich auf über den Königsbegriff sowie den Begriff des Drachen in China und die dort besondere Ausprägung des Verhältnisses von Sakralität und Profanität. Überlegungen hierzu von Reinhard Bendix («Könige oder Volk», 1980) könnten hier weiterentwickelt werden. So erweitern sich die Zugänge zu China und seinen Regionen und seiner spirituellen Vielfalt, zu der neben den Dimensionen Raum und Zeit wegen des Wassers natürlich auch das jeweilige Klima gehören. Veranschaulicht werden die Darlegungen durch die Wiedergabe von Inschriften und literarische Zeugnisse, deren Kenntnis die Gesprächsmöglichkeiten „vor Ort“ auf zugleich unterhaltsame Weise erweitern.

 

Iwo Amelung, Hrsg., Discourses of Weakness in Modern China. Historical Diagnoses of the „Sick Man of East Asia”. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2020. 586 S., Broschiert. ISBN 978-3-593-50902-0. € 45,00.

Der von außen im 19. Jahrhundert erzwungene Eintritt Chinas in die Weltgesellschaft hat zu einem bis heute anhaltenden Diskurs über Chinas Schwäche und zugleich seine Bemühungen um Stärke und Wohlstand geführt. Bei den weiteren Anstrengungen und der Verfolgung des „Chinesischen Traumes“ wird dieser Zusammenhang leider zumeist unterschlagen, vor allem von solchen Autorinnen und Autoren, welche China Weltmachtstreben unterstellen. Wenn sie dann auch noch von China als dem Drachen sprechen, vergegenwärtigen sie sich weniger die möglichen Kenntnisse von Drachenkönigen noch das Wissen um den Drachen im „Buch der Wandlungen“, dem I Ging, wo es heißt: Bei der fünften yang-Linie im Hex ­agramm qian 乾: Wenn sich ein Fliegender Drache am Himmel findet, kann ein Großer Mann erscheinen“ 飛龍在天利見大人. Dabei lässt sich die politische und intellektuelle Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert ohne die Rede vom „kranken Mann Ostasiens“ nicht verstehen. Nationalismus, Militarismus und Mao Zedong-Ideen entstammen diesem Kontext. Es ist ein großes Verdienst von Iwo Amelung, die15 Beiträge zu einer Frankfurter Konferenz vom Dezember 2015 nun in vorzüglicher Redaktion herausgegeben zu haben. So ist ein facettenreiches Bild zum besseren Verständnis des chinesischen ebenso wie des von außen projizierten Chinabildes im 20. Jahrhundert entstanden, zu dessen gezielterer Erkundung ein Register hilfreich gewesen wäre.

 

Achim Aurnhammer – Chen Zhuangying (Hrsg.), Deutsch-chinesische Helden und Anti-Helden. Strategien der Heroisierung und Deheroisierung in interkultureller Perspektive. Baden-Baden: Ergon 2020. 314 S. Hardcover. ISBN 978-3-95650-608-6. € 58,00.

Ebenfalls einer Tagung, die im Oktober 2018 in Shanghai stattfand, entstammt der Band über Strategien der Heroisierung und Deheroisierung, dessen Beiträge gewissermaßen als Bausteine zu einer Versuchsanordnung verstanden werden können. Es sind Fallstudien zu literarischen Typen wie zu historischen Gestalten, darunter jesuitische Missionare ebenso wie der in China verehrte Richard Wilhelm, der am Vorabend des Ersten Weltkrieges in der deutschen Kolonie Kiautschou (Qingdao) vom Missionar zum Vermittler zwischen China und Deutschland wurde. Die „fremden Helden des Sozialismus“ Karl Marx und Friedrich Engels, die zu den am meisten verehrten und heroisierten Deutschen in der Volksrepublik zählen, werden ebenso thematisiert wie Heldinnen in Filmen und Unternehmer als Helden am Beispiel von Jack Ma. Dabei werden manche Grenzen des Hinterfragbaren deutlich, die zu verschieben zukünftiger gemeinsamer interkultureller Arbeit vorbehalten bleibt.

 

The Songyang Story. Architectural Acupuncture as Driver for Rural Revitalisation in China. Zürich: Park Books 2020. 263 S. und Fototafeln. Hardcover. ISBN 978-3-03860-186-9. € 38,00.

Da die Eliten Chinas sich traditionell in der Landschaft beheimateten, was in der Landschaftsmalerei seinen Ausdruck fand, und zugleich eine Ähnlichkeit zwischen menschlichem Körper und Landschaftsvorstellungen seit langem kultiviert wird, hat es seine Plausibilität, von architektonischer Akupunktur als Treiber für die Wiederbelebung des ländlichen Raumes zu sprechen. Von grandiosen ganzseitigen Fotos von Landschaften mit Siedlungen eingerahmt, wird von Hans-Jürgen Commerell und Kristin Feireiss das Projekt der Songyang Story vorgestelllt, welches von dem Pekinger Architekten Xu Tiantian initiiert wurde und die gelingende Rivitalisierung eines südwestlich von Hangzhou gelegenen ländlichen Raumes beschreibt. Es handelt sich um einen „sozioökonomischen Heilungsprozess“ durch interventionistische Architekturprojekte, in dessen Folge Landflucht nicht nur gestoppt, sondern geradezu umgekehrt wird. Aus einer Ausstellung zu diesem Projekt entstanden, stellt das opulent gestaltete Buch nun unter anderem ein Teehaus, ein PavillonEnsemble, ein Theater, ein Dorfzentrum und eine Zuckersowie eine Doufu-Factory vor. Es werden Orte sozialen und kulturellen Lebens präsentiert, die mit ihrer gestalteten Attraktivität Anziehungsorte für ein neues ländliches Lebensgefühl und nicht zuletzt für Touristen werden. Die anschaulichen Präsentationen werden durch kurze Reflektionen ergänzt, zuletzt dann durch den Beitrag „The Future Is Now“ von Eduard Kögel, der das Projekt als Vorbild dafür bezeichnet, „how small architectural interventions can be used to bring hope back into village communities“ (S. 257). Ein inspirierender Ausflug in ein selten wahrgenommenes China.

 

Kai Vogelsang, China und Japan. Zwei Reiche unter einem Himmel. Eine Geschichte der sino-japanischen Kulturbeziehungen. Stuttgart: Kröner Verlag 2020. XXI+505 S., Hardcover. ISBN978-3-520-25601-0. € 28,00.

Zwar ist China weitläufig genug, um dort zu verweilen und nicht in die Ferne zu schweifen, und doch ist es nicht zu verstehen ohne die Interaktion mit seiner Umgebung und seinen Nachbarländern, unter denen Japan eine Sonderrolle einnimmt, nicht nur weil es im 20. Jahrhundert zur Zerstörung und dann auch zur Transformation ­Chinas mehr beitrug als irgend ein anderes Land, sondern weil es seit mehr als 1500 Jahren in regem Austausch mit China steht. Der Geschichte dieser Beziehungen geht K ai V ­ ogelsang nach und erzählt damit eine „gemeinsame Geschichte dieser beiden Länder“, von der Zeit der Vor- und Frühgeschichte an bis zur Gegenwart, immer wieder die sich verschiebenden Horizonte nachzeichnend und gelegentlich konzentrierte Kurzessays zu Orten oder Personen einstreuend, wie etwas zu Nait ¯o Konan, der die ­„Sinologie stärker beeinflussen sollte als alle seiner Zeitgenossen“ (S. 328-340). Der erweiterte Blick auf Japan und China ­erleichtert dem westlichen Leser auch ein Verständnis dafür, dass man das 21. Jahrhundert im Rückblick einmal ­weder als Jahrhundert Amerikas noch als Jahrhundert Europas, sondern als Jahrhundert Ostasiens bezeichnen wird.

 

Hans-Günter Wagner, Buddhismus in China. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Matthes & Seitz 2020. 1104 S., Hardcover. ISBN 978-3-95757-844-0. € 128,00.

Eine Geschichte Chinas von Innen dagegen verspricht die Darstellung der Geschichte des Buddhismus in China aus der Feder von Hans-Günter Wagner, der in seinem multiperspektivisch gefassten Buch der Ausbildung der buddhistischen Lehren in China in den vergangenen zweitausend Jahren nachgeht und damit das Bild von einem „religionslosen“ China zurechtrückt und überdies zeigt, dass ohne seine Blüte in China der Buddhismus weder in Japan, noch in Korea und auch nicht in Tibet vorstellbar ist. So sehr die Lehren des Buddhismus und auch dessen schriftliche und mündliche sowie in Werken der bildenden Künste festgehaltenen Überlieferungen eigentlich keine nationalen Grenzen kennen, so gerechtfertigt ist doch die Beleuchtung der vielfältigen Ausprägungen des Buddhismus in der chinesischen Welt – zumal es keineswegs ausgeschlossen ist, dass die einmal aus dem „Westen“, nämlich aus Indien über die alten sogenannten Seidenstraßen nach China eingedrungene Lehre des Buddha dort einen längeren Bestand haben und Wirksamkeit entfalten könnte als andere Lehren aus dem „Westen“.

 

Erika Taube, Briefe aus der Mongolei (1966-1987). Herausgegeben von Manfred und Jakob Taube. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020. 256 S., Hardcover. ISBN 978-3-96023-357-2. € 32,00.

Zonen des Transfers und der Berührung waren für China seit es historische Erinnerung gibt die nördlichen Weidezonen und darunter jene Gegend, die wir heute die Mongolei nennen, benannt nach einem Zusammenschluss aus dem nördlichen Zentralasien nach Süden eindringender Reiternomaden unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die unter dem legendären Dschinghis Khan und dessen Nachfahren nach Süden dringend China unterwarfen und ein bis nach Europa hinein reichendes Weltreich, das „Mongolische“, gründeten. Die Geschichte dieser Mongolen war ein bevorzugter Gegenstand deutscher Orientalisten, darunter Walter Heissig, fand aber immer auch das Interesse von Sinologen und Sinologinnen, die bei der Berührung mit der mongolischen Kultur und ihrer aus dem Soghdischen über das uighurische Alphabet entlehnten Schrift eine gesteigerte Sensibilität für die Zusammengesetztheit der chinesischen Welt entwickelten. Eine davon war Erika Taube (1933– 2020), die sich nach Abkühlung der Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik China dem Mongolischen zuwendete und 1964 mit einer Dissertation über mongolische Märchenstoffe promoviert wurde. In der Mongolischen Volksrepublik, wo das Mongolische in kyrillischem Alphabet verschriftet wurde, widmete sie sich seit 1966 dann über fast zwei Jahrzehnte besonders den Tuwinern, deren Sprache den sibirischen Turksprachen zugerechnet wird. Die Briefe von den Forschungsreisen und Aufenthalten sind ein Stück Wissenschafts- und Begegnungsgeschichte und werfen einen lebendigen Blick auf das Leben einer Märchenforscherin in den von sprachlicher und ethnischer Vielfalt gekennzeichneten Gegenden Zentralasiens.

 

Patrick Rohr, Chinas Weg zur Weltmacht. Die neue Seidenstrasse. Eine fotojournalistische Reise. Zürich: Orell Füssli AG 2021. 246 S., Hardcover. ISBN 978-3-280-05731-5. € 36,00.

Diese Zonen kultureller Vielfalt schrumpfen seit der Verkündung der Neuen Seidenstraßen-Initiative des chinesischen Staatspräsidenten im Jahre 2013 im Westen zur Projektionsfläche der eigenen Abstiegsängste und werden in dem Fotoband von Patrick Rohr, der einsame Landschaften mit Orten einer schrillen Moderne verknüpft unter dem Slogan „Die Schwäche der anderen ist Chinas Stärke“, zu einem an Europa gerichteten Appell, es bedürfe eines „eigenen Plans“. Eher unzusammenhängende Stationen über Kirgisistan, Türkei, Rumänien, Ukraine und Polen enden mit der in Zweifel mündenden Frage, ob Xi Jinpings Seidenstraße tatsächlich „den angeschlossenen Ländern zu Prosperität und Frieden“ verhilft. Für eine Beantwortung solcher Fragen wären die Kenntnisse von Landeskennern und Forscherinnen wie Erika Taube eine gute Grundlage.

 

Yang Mu, Lange und kurze Balladen. Gedichte chinesisch – deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Susanne Hornfeck und Wang Jue. München: iudicium 2020. 143 S., Broschiert. ISBN 978-3-86205-530-2. € 19,80.

Gegen solche eingangs und auch in dem gerade vorgestellten Reportageband geschilderte Schreckensszenarien ist es heilsam, sich auf die Wirklichkeit nachdenklichen Geistes zu besinnen, wie er in den Gedichten des Lyrikers Yang Mu (1940–2020) zum Ausdruck kommt und in kongenialer Weise von Susanne Hornfeck und Wang Jue ins Deutsche übertragen wurde. Neben dem chinesischen Text übersetzte Zeilen wie im Gedicht «Griechisches» „Die Götter zanken nicht länger um Rang und Namen.//In die felsigen Abhänge der Bergspitzen sind Zeichen gemeißelt//im Stil irgendwo zwischen Konzept- und Kurrentschrift.//Es sind die ihnen zugewiesenen Namen, über denen die ewig// schwebenden Wolken eine unvergängliche Halle bilden.“ In solchen Zeilen sind sich bereits Ost und West begegnet, und die darin eingebetteten Erfahrungen sind eine gute Grundlage für weitere Gespräche und Verständigungen.

 

Zishi Zhou, Das Sexualstrafrecht in Deutschland und China. Eine vergleichende Darstellung von Geschichte, Stand und Entwicklungen. Berlin: ­ Duncker&Humblot 2020. 270 S., Paperback. ISBN 978-3-428-15992-5. € 35,00.

Ebenso wie in den Sphären der Dichtung oder der erinnerten Geschichte so gibt es auch im Bereich gesellschaftlicher Normen und ethischer Grundsätze Parallelen und Unterschiede. Gerade auf den verschiedenen Gebieten der Rechtswissenschaft gibt es seit über hundert Jahren einen engen Austausch zwischen China und Europa, der bis in die Gegenwart in Symposien und der Begegnung von Richtern, nicht zuletzt aber auch in zahlreichen Forschungsarbeiten mit Leben erfüllt wurde. Der nach seiner Ausbildung in China und der Promotion an der Universität Freiburg nun seit 2017 an der Universität Hunan in Changsha lehrende Zishi Zhou gibt am Ende seines Buches nach einem ersten rechtsgeschichtlichen Teil und einem Vergleich des gegenwärtigen Sexualstrafrechts und der Strafrechtsreformen in Deutschland und China eine kurze Zusammenfassung. In der deutschen Reform des Sexualstrafrechts seit den 1990er Jahren und der Tendenz zur Verschärfung sind aus seiner Perspektive, er spricht von einer „Perspektive Chinas“ (S. 232), folgende vier Faktoren am Werk: „Die öffentliche Meinung in Verbindung mit Massenmedien, eine demokratische Politik, der Bestimmtheitsgrundsatz [siehe Art 103 Abs. 2 GG] und konservative Richter“. In diesem Zusammenhang geht er dann dem Phänomen des „Populismus“ besonders nach und problematisiert mit Hans-Jörg Albrecht (Jahrgang 1950) den Umstand, dass in Deutschland „das Strafrecht ein Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung und eine politische Waffe geworden sei, was dem rechtsstaatlichen Grundsatz widerspreche.“ (S. 238) Der Autor kommt dann aber doch zu dem Schluss, dass populistische Politik die deutsche Strafgesetzgebung im Vergleich zum anglo-amerikanischen Rechtskreis „wesentlich schwächer“ beeinflusst habe, auch wenn er mit anderen Kritikern die Tendenz zu einem „moralisierenden Strafrecht“ (S. 239) und damit einer Abschwächung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht verkennt. Diskussionen über Rechtsstaatlichkeit sind nicht denkbar ohne solche profunde Sachkenntnis, und man kann nur staunend bewundern, dass, wie im vorliegenden Fall, sich junge chinesische Rechtswissenschaftler so intensiv auf Gebiete des deutschen Rechts einlassen. (hsg)

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen.

Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de

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