Literatur-und Kulturwissenschaften

Charles Darwin’s Debt to the Romantics

Charles Morris Lansley, Charles Darwin’s Debt to the Romantics: How Alexander von Humboldt, Goethe and Wordsworth Helped Shape Darwin’s View of Natur ­ e. Oxford, Bern, Berlin, etc., Peter Lang Ltd., 2018, Hardback, 273 Pp., 10 Figs. ISBN 978-1-78707-138-4, CHF 86,90.

Wer Charles R. Darwins (1809–1882) Bücher liest, stößt stets auf die Einbindung seines fruchtbaren Denkens in den europäischen Kultur- und Zivilisationskreis. Auch der «stille Revolutionär» (sensu F. M. Wuketits) war ein Kind seiner Zeit und nicht der zeitlose Denker und Wissenschaftler, wie populärwissenschaftliche Studien gerne unterstellen. Während die Wirkung von Darwins Theorie auf das moderne Denken Gegenstand unzähliger Studien ist und auch der viktorianische Kontext seines Werkes wissenschaftshistorisch und biographisch eingehend analysiert wurde, ist der kulturelle Einfluss, den Darwins intellektuelle Vorläufer der Romantik (inkl. Klassik) auf sein Werk ausgeübt haben, bislang weniger gut erforscht. Aber es gibt wichtige einschlägige Studien, u.a. von Gillian Beer: Darwin’s Plots (1983), Robert J. Richards: The Romantic Conception of Life: Science and Philosophy in the Age of Goethe (2002) und The Impact of German Romanti­ cism on Biology in the Nineteenth Century (2013), George Levine: Darwin the Writer (2011) und Ruth Padel: Dar­ win: A Life in Poems (2010) sowie wichtige, leider nicht zitierte Aufsätze von Frank Baron: From Alexander von Humboldt to Charles Darwin: Evolution in Observation and Interpretation (2010) sowie von Petra Werner: Zum Verhältnis Charles Darwins zu Alexander v. Humboldt und Christian Gottfried Ehrenberg (2010, https://www. uni-potsdam.de/romanistik/hin/hin18/werner.htm) u.v.a. Der hier vorliegende Band des britischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Charles M. Lansley baut auf einigen dieser Studien auf, um das Forschungsdesiderat zu mindern. Der Band ist die eingehend überarbeitete Fassung seiner an der University of Winchester 2016 vorgelegten PhD-Dissertation. Im Fokus steht die Frage, wie die Geistesgrößen Alexander von Humboldt (1769–1859) und Johann Wolfgang v. Goethe (1749–1832) sowie der berühmte britische Dichter William Wordsworth (1770– 1850) durch ihre romantische Naturbetrachtung Darwins Blick auf die Natur (mit)formten.

In einer ausführlichen Einleitung weist Lansley darauf hin, dass der Ausdruck ‚romantisch‘ vom Kulturphilosophen Friedrich Schlegel (1772–1829) geprägt wurde, der darunter «a specific kind of poetic and morally valued lite­ rature» verstand, resp. einen bestimmten Wissenschaftsstil «that retains this aesthetic and moral heritage» (n. R. J. Richards in Lansley, S. 1f.).

Nach der umwälzenden Epoche der Aufklärung mit einer neuen Weltsicht, dem Glauben an die Vernunft und bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Erfindungen folgte die Sehnsucht nach einem neuen Naturverständnis, nach der Vereinigung von Natur und Geist, nach der Freiheit des Individuums und seines schöpferischen Handelns. Lansley greift das ‚rastro‘-Konzept auf, das Darwins Kontemplation und Reflektion der Natur im Reisewerk The Voyage of the H.M.S. Beagle (1838–43) beschreibt, um damit seinen eigenen Forschungsansatz zu illustrieren. Den Begriff ‚rastro‘ (= span. für Spur, Fährte) versteht der Autor nicht nur im Sinne von aufschlussreichen Fossilien, sondern auch als „layers of fossils indicating different periods or traces of history which can also include biographical traces of Darwin’s own history, his published and unpublished works and his correspondence. This can also include traces of influence of others on his ideas […] (S. 8).

Dass Lansleys Spurensuche erfolgreich sein würde, daran bestand aufgrund der ausgewählten Protagonisten kein Zweifel, denn Darwin hatte sich nachweislich intensiv seit der Jugend mit ihren Werken befasst und schätze sie. So war Humboldts Personal Narrative of Travels to the Equi­ noctial Regions of America Darwins inspirierender Begleiter auf der Beagle, und wie datierte Randbemerkungen in Darwin‘s Library in Cambridge belegen, endete sein Interesse an diesem Werk erst kurz vor seinem Tod.

Lansleys vergleichende Analyse von Humboldts und Darwins Schriften belegt, dass Humboldts ‚Ansichten der Na­ tur‘, in denen er Wissenschaft und Ästhetik verband, sich schon in den frühen Schriften Darwins in der imaginativen Sichtweise der Natur wiederfinden. Das ging sogar so weit, dass Darwins Schwester Caroline ihm 1833 brieflich riet: „As to your style. I thought […] that you had, probably from reading so much of Humboldt, got his phraseology […] instead of your own simple straight forward & far more agreeable style” (S. 13, FN 18). Gibt es eine klarere Bemerkung zum Einfluss von Humboldts Methode der ästhetischen Analyse?

Die Kapitel Organic and One Reality Nature und The Forces of Nature exemplifizieren, wie Humboldts Personal Narrative und dessen Opus magnum Kosmos Darwins Perspektive formten. Seine Leitsprüche – „alles ist Wech­selwirkung“, „alles verändert sich ständig“ – wurden für Darwins Denken prägend und mündeten letztlich in seinen Vorstellungen vom Artenwandel via natürliche Selektion und einem gemeinsamen Ursprung aller Organismen. Das romantische Konzept der „One Reality Nature“ begründete Darwins Haltung, alle Menschen sind „poten­ tially equal“ (S. 55), und folgerichtig verurteilte er – wie schon Humboldt – die Sklaverei. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass Darwin in seinem intellektuellen und sittlich-moralischen Überlegenheitsdenken gegenüber „Wilden“ (engl. savages) im Ethnozentrismus des Vikto­ rianischen Zeitalters verhaftet war und nach heutigen Standards rassistische sowie sexistische Einlassungen in seinem Werk nicht zu übersehen sind.

Bezüglich der Kräfte der Natur konstatiert Lensley: „Darwin’s forces of Nature come from Nature and act upon Nature, and do not come directly from external power” (S. 60).

Im Kapitel Darwin’s Romantic Theory of Nature befasst sich der Autor mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Literatur „and how they are used to describe the expe­ rience of nature“ (S. 62). Es geht um die ‚Humboldtsche Methode‘ der Einbeziehung ästhetischer Erfahrungen in die Interpretation der Natur, wobei die vorromantischen Schriften von Thomas Malthus (1798) und Joseph Townsend (1788) mit den Konzepten des Existenzkampfs (struggle for life) und der Selbstverbesserung (self-impro­ vement) nicht unberücksichtigt bleiben.

Ferner befasst sich Lansley in Darwin’s Romantic Theory of Mind mit Goethes ‚Genetischer Methode‘ und dessen Vorstellungen vom Wirbeltier-Archetypus, der Urpflanze sowie dessen Begriff ‚chains of affinities‘. Diese Verwandtschaften (affinities) reflektieren die Bewegungen von der Vergangenheit zur Gegenwart sowie aus der Gegenwart zur Vergangenheit (vgl. S. 114), entsprechen Darwins ‚tree of life‘, woraus schließlich das Narrativ von Darwins Ori­ gin wurde (S. 114) – womit die Rolle eines allmächtigen Schöpfers “as a first cause“(S. 116) obsolet wurde.

Dass sich moralische Vorstellungen – ebenso wie ästhetische – als eine der höchsten Formen geistiger Reflektionen allein aus ‚material Nature‘ über lange Zeiträume entwickeln, wird im Kapitel Darwin’s Concepts of Morality and Romantic Materialism ausgeführt. Lansley diskutiert über Darwins eigene moralische Werte im Viktorianischen Zeitalter, die Kontextualisierung der Begriffe ‚Nature‘ und ‚Mind‘. Er beschreibt in einem differenzierten Exkurs zu Darwins Einlassungen zum doppelten Bewusstsein (double consciousness) vor dem Hintergrund von Goethes Genetischer Methode und Humboldts ästhetischer Methode im Zusammenhang mit Wordsworths Poems seine Auffassung „the imagination is given free rein to move between the particular and the universal, between the subjective observer and the observed, between empirically based fact and the imaginative possible“ (S. 130). „The mind’s excursive power“ ermöglicht es somit Darwin, “to trace the morality of Man from humble physical beginnings” (S. 131).

Schließlich geht es noch um The Transmutation of Darwin’s Romanticism, eine vergleichende Textanalyse über diachrone Veränderungen in Darwins romantischem Konzept seit den Notebooks, gefolgt von einer Studie über Erasmus Darwin (1731–1802), Charles Darwins Großvater, und den vermutlich doch vorhandenen, aber von seinem Enkel stets bestrittenen Einfluss dessen Vitalismus-Konzepts.

Das Schlusskapitel mit dem launigen Titel «Die Ballade des alten Naturforschers» ist im eigentlichen Sinne keine erwartete Conclusion, sondern – salopp formuliert – eine Kür, denn es zeigt nach Einschätzung des Autors die Kraft des Mystischen und Übernatürlichen in seiner ganzen Schönheit und Erhabenheit anhand Ruth Padel’s Darwin: Life of Peoms (S. 239), „enabling the reader to find sym­pathy with and optimism in Nature“ (S. 254). Fazit: Wer sich für die Romantik in Darwins Evolutionstheorie interessiert, findet in Lansleys Band eine großangelegte Abhandlung über das Zusammenspiel von Wissenschaft und Kunst, beginnend mit der wohlüberlegten symbolischen Collage des Covers (von Julia Dobson) und einem mal scharfsinnig ausgefeilten, mal feinfühlig interpretierten und bisweilen recht eigenwillig formulierten Text bis zu den poetischen ‚Balladen‘ zum Relaxen. Für Literaturwissenschaftler ist die Studie ein Muss und für Naturwissenschaftler eine Herausforderung, während interessierte Laien sich bei der Wahl der Lektüre deren gehobenen Anspruchs bewusst sein sollten. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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