Kinder- und Jugendbuch

Und wenn sie nicht gestorben sind

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2020

Dr. Barbara von Korff Schmising

Alte und neue Märchen für Kinder

Käthe Recheis, Friedl Hofbauer, Jana Walzcyk(Ill.): Das Lächeln der Mondfee, Feenmärchen aus aller Welt, Nilpferd Verlag, Wien 2019, 112 S., 24,95 €. Ab 6

 

Felicitas Hoppe (Hrsg.): Grimms Märchen für ­Heldinnen von heute und morgen, m. Abb. von Rosa Loy, Philipp ­Reclam Verlag, Ditzingen 2019, 190 S., 20 €. Ab 8

 

Chen Jianghong: Sohn des Himmels. Aus dem Franz. von Tobias Scheffel. Moritz Verlag, Frankfurt 2019, 44 S., 18 €. Ab 5

 

Mascha Kaléko (Text), Hildegard Müller (Ill.): Der König und die Nachtigall. Tulipan Verlag, München 2019, 36 S., 15 €. Ab 4

 

Jutta Richter: Frau Wolle und das Geheimnis der chinesischen Papierschirmchen. Mit Illustrationen von Günter Mattei. Hanser Verlag, München 2019, 144 S., 13 €. Ab 10

 

Die Zeiten prächtiger, aufwändig illustrierter Märchenbände scheinen vorerst vorüber zu sein. Ebenso still ist es um die pädagogische Diskussion über den Schaden oder Nutzen der Märchen für die kindliche Psyche geworden. Zwar spielen Figuren wie Aschenputtel und Dornröschen vor allem dank Walt Disney noch immer eine Rolle in der Kinderwelt, als Lesestoff in seiner traditionellen Form finden die Märchen jedoch bei vielen jungen Lesern von heute wenig Anklang. Oftmals fehlt es der jungen Generation an Geduld für die schlichten Helden, fremden Lebenswelten und altmodischen Formulierungen.

Umso mehr mag man sich über eine neue Sammlung Das Lächeln der Mondfee freuen, die alte Feenmärchen aus der ganzen Welt vorstellt. Die beiden österreichischen Kinderbuchautoren, Friedl Hofbauer und Käthe Recheis, letztere bereits als versierte Märchenerzählerin bekannt, haben die Geschichten neu aufgeschrieben und dabei einen gelungenen Ausgleich zwischen Authentizität und vereinfachter, kindgerechter Sprache gefunden. Es ist immer wieder faszinierend, wie sehr sich die Märchenmotive weltweit gleichen. Wer bedingungslos seine Liebe, seine Wünsche und Ziele verfolgt, dem helfen die Feen, das Unmögliche durchzusetzen. Ob aus dem Kulturraum der Chinesen, der Roma oder Schotten: meist bringen die Feen Reichtum und Glück. Die Illustratorin und Designerin Jana Walczyk hat die wundertätigen Frauen mit ihrer ganzen bezaubernden Schönheit in fließende Gewänder gehüllt, lässt sie zwischen Wolken, Sternen und üppiger Blumenpracht hervorschauen, weswegen dieses Märchenbuch eher Mädchen als Jungen zu empfehlen ist.

⯀ An den exakten Grimm’schen Wortlaut hält sich hingegen die Herausgeberin Felicitas Hoppe. Ihre Märchenauswahl Grimms Märchen für Heldinnen von heute und morgen folgt deren siebten Ausgabe von 1857. Hoppe hat die Märchen, deren Heldinnen immer Frauen oder Mädchen sind, unter fünf Stichworten gruppiert: Schönheit, Klugheit, Mut, Handwerk und Verwandlung. Dabei gelingt es ihr in ihrem Vorwort, nicht nur die eigene Begeisterung für die Märchenstoffe zu vermitteln, sondern auch die vielen Prinzessinnen, Bauernmädchen, die Schwestern und Töchter als willensstarke Frauen vorzuführen. „Jedes Märchen ist ein Zähmungsversuch der Welt und der Frauen, die ihr eine andere neue Gestalt geben wollen.“ Märchen lassen eben viele unterschiedliche Deutungen zu. Eigenwillig sind auch die Bilder, die Rosa Loy beigesteuert hat. Ihre fünf Aquarellmalereien präsentieren uns dominante, selbstbewusst schauende und unbeirrt agierende Frauen. Damit richtet sich diese Ausgabe auch an Erwachsene, insbesondere an Eltern, denen damit ein Kern deutscher Märchenliteratur als unverzichtbares Lese- und Vorlesegut ans Herz gelegt wird.

⯀ Der in Paris lebende Maler und Illustrator Chen Jianghong hat sich bereits mit mehreren Märchenbilderbüchern fernöstlicher Färbung hervorgetan. In Sohn des Himmels besucht eine himmlische Prinzessin die Erde und vermählt sich dort mit einem Menschen. Nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes schickt der erboste Vater seine Soldaten nach der Prinzessin aus und holt sie mit Gewalt in seinen Himmelspalast zurück. Später wird sich ihr Sohn auf eine gefährliche Suchwanderschaft begeben, um seine Mutter zu finden. Überirdische Kräfte in der Gestalt eines Kranichs bringen den Jungen ans Ziel. Mit Tusche auf Reispapier versetzt Jianghong seine Erzählung in eine dramatisch-bewegte Atmosphäre. Weiträumige Landschafts-, Himmels- und Wolkenbilder begleiten die Suchwanderung. Trotz aller Faszination und Exotik wird dieses Bilderbuch manchen jungen Betrachter nachdenklich stimmen, wenn auch seine Eltern aus ganz verschiedenen Kulturräumen stammen.

⯀ Ebenso fordert Mascha Kalékos kleines, gereimtes Märchen Der ­König und die Nachtigall zu individuellen Deutungen heraus. Auf alle Fälle erzählt es mehr als nur vom großen Leid eines kleinen Vogels. „Eine Nachtigall sang lieblich / In dem königlichen Hain, / Sprach der König: „Diesen Sänger / Will ich haben, fangt ihn ein!“ Aber der goldene Käfig, die üppigen Speisen und das geräuschvolle Leben am Hofe setzen der freiheitsliebenden Nachtigall derart zu, dass sie bereits am dritten Tag ihr Leben aushaucht. Unwillkürlich denken wir an Andersens „Chinesische Nachtigall“ und die Freiheit des Künstlers. Nur wurde Andersen tatsächlich am dänischen Hofe gepäppelt, während Mascha Kaléko zwar nicht eingesperrt, von den Nazis jedoch ausgesperrt wurde. Die großformatigen, mitunter sehr dominanten Illustrationen von Hildegard Müller lassen Karikatur und Übertreibung mit stillen, berührenden Blicken abwechseln. Sie führen die Überwältigung der Nachtigall überzeugend vor Augen. Somit halten wir ein wunderbares Bilderund Vorlesebuch auch für kleine Kinder in der Hand. ¡ Die alten Märchenfiguren, wundertätige Feen, hilfreiche Tiere und böse Zwerge, leben in unseren modernen Kinderbüchern unbehelligt fort. Jutta Richters Frau Wolle und Das Geheimnis der chinesischen Papierschirmchen ist der zweite Band einer Trilogie, die uns tiefe Einblicke in das wirkliche und das märchenhafte Leben der Geschwister Merle und Moritz gewährt. Der geliebte Vater ist auf Weltreise verschwunden, und die Mutter hat die geheimnisvolle Gesine Wolkenstein aus dem dunklen Spielzeugladen als Kinderfrau engagiert. Über Frau Wolkenstein sind allerlei üble Gerüchte im Umlauf, das beschert den Geschwistern obendrein Verdruss bei den Klassenkameraden. Keiner will mehr neben ihnen sitzen. Jutta Richter lässt offen, ob es das Wunderland der Murkelei wirklich gibt oder nur als Traumgespinst der Kinder existiert. Sein Eingang befindet sich übrigens genau in Frau Wolkensteins dunklem Laden. Dieses Verwirrspiel von phantastischen Abenteuern und kleinstädtischem Alltag spiegelt sich in den geheimnisvollen Illustrationen wider. Sie gleichen einer magisch beleuchteten Märchenkulisse voller Zauberwesen und verwunschener Dinge. „Fortsetzung folgt“ verspricht Jutta Richter ihren jungen Lesern. ●

Dr. Barbara von Korff Schmising arbeitet als Rezensentin und Publizistin überwiegend im Bereich Kinder- und Jugenliteratur. Sie ist als Referentin in der Erwachsenenbildung tätig und hat 25 Jahre lang die „Silberne Feder“, den Kinder- und Jugendbuchpreis des Dt. Ärztinnenbundes geleitet.

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