Wolfgang Hach und Viola Hach-Wunderle (2017) Von Monstern, Pest & Syphilis: Medizingeschichte in fünf Jahrhunderten. Schattauer GmbH, Stuttgart, 273 Seiten, 107 Abbildungen, ISBN 978-3-7945-3210-0, € 19,90
Die Medizingeschichte zählt an deutschen Universitäten zu den sog. Kleinen Fächern, womit deutlich wird, dass geisteswissenschaftlich-historische Aspekte weitgehend zugunsten einer rein naturwissenschaftlichen Ausbildung der Mediziner marginalisiert wurden. Von den Studierenden sind laut geltender Ärztlicher Approbationsordnung nur wenige, überwiegend optionale Leistungsnachweise im Querschnittsbereich Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin zu erbringen. Die Akzentuierung auf die medizinische Ethik führte zu Umwidmungen und Streichungen von Professuren, was spürbare Restriktionen für die medizinhistorische Forschung und Lehre nach sich zog. Aus diesem Grunde ist es sehr willkommen, wenn erfahrene und führende Mediziner nicht nur Interesse an der Historie ihres Faches entwickeln, sondern auch aktiv medizingeschichtliche Forschung betreiben. Das Autorenpaar des vorliegenden Bandes gehört dazu und steht damit ganz in der Tradition des legendären Freiburger Anatomen und Pathologen Ludwig Aschoff (1866–1942), der sich nach dem Motto „On revient toujours á son permier amour“ erst nach seiner Emeritierung mit Verve der Medizingeschichte widmete (vgl. K. Reinbolz, Med. Diss. Freiburg, 2009). Wolfgang Hach (geb. 1930), renommierter Chirurg und Internist, der von 1975–1995 Ärztlicher Direktor der William Harvey-Klinik in Bad Nauheim war, und seine Tochter Viola Hach-Wunderle, die als hoch reputierte Internistin und Angiologin/Phlebologin außer der Sektion Angiologie des Krankenhauses Nordwest auch eine Praxis in Frankfurt leitet, haben neben ihrer klinischen Forschung auch intensiv medizinhistorische Spurensuche betrieben. Erfreulicherweise haben sie sich entschlossen, ihre zuvor im Periodikum Phlebologie erschienenen medizinhistorisch relevanten Beiträge in Buchform zu veröffentlichen. Der Haupttitel klingt zwar arg plakativ, aber angeblich lassen die 14 Aufsätze, „doch ein verknüpfendes Fluidum erkennen, die venöse Zirkulation“ (S. VIII). Das Einstiegskapitel über Monster in Menschengestalt rekapituliert die Geschichte eines 1512 in Ravenna geborenen Monstrums, das zeitgenössisch „als ein von Gott gesandtes, warnendes Spiegelbild an das Papsttum, als eine Gottesgeißel“ (S. 2) gedeutet wurde. Es handelt ferner von den Prodigia (Wunderzeichen) im Alten Rom und der faszinierenden Monographie De Monstris des italienischen Arztes und Philosophen Fortunicus Licetus (1577–1657). Mit wenigen Beispielen gelingt es den beiden Frankfurter Professoren, die mittelalterliche und frühneuzeitliche Faszination der Monstren als Ausnahmen einer ansonsten als „weise verstandenen Welt“ (vgl. S. 3) zu beschreiben.
Die große Pest in Wien anno 1679 brachte tausendfachen Tod und verbreitete heillose Angst in der Bevölkerung. Das Autorenduo spürt im zweiten Kapitel zeitgenössischen Berichten nach, in denen als wichtigste Ursache eine göttliche Strafaktion angenommen wird. Wie verzweifelt versucht wurde, der Pest Herr zu werden, zeigt das Land-Stadt-Hauß-ArtznayBuch von Adamus Lebaldt von Lebenwaldt (1624–1692), der als Landschaftsmedicus die Rolle der Pestärzte, Wundärzte, Chirurgen und Pest-Barbiere beschrieb, die Lazarettordnungen auflistete und die Cura pestis therapeutica akribisch dokumentierte.
Die Syphilis, die sich wie „keine andere Krankheit auf Ethik und Moral, auf Umgangsformen und Körperpflege, soziale und politische Einflüsse, ja auf alle Bereiche des kulturellen Lebens“ (S. 35) ab dem 16. Jahrhundert ausgewirkt hat, steht im Mittelpunkt des dritten Beitrags. Obwohl es ausführliche medizinhistorische Abhandlungen dieser grauenhaften Geschlechtskrankheit gibt, die erst mit der Entdeckung von Penizillin ihren Schrecken verlor, erweist sich der hier vorliegende Aufsatz deshalb als besonders lesenswert, weil die beiden Phlebologen ihre spezifische Expertise im Zusammenhang mit der Krampfaderverödung und der Sklerosierung von Varizen detailliert einbringen.
Im Weiteren geht es um eine frühneuzeitliche Gratwanderung zwischen Magie und Zauberei, Die erste Beschreibung der Sympathetischen Salbe durch Paracelsus anno 1622, sowie um den Schritt Von der Physiognomie zur Pathophysiognomie, die Kunst der ärztlichen Blickdiagnose. Nach Ansicht der beiden Ärzte wird diese Hinweisdiagnostik auch in Zukunft „eine wichtige Säule […] der Arzt-Patienten-Beziehung bleiben“ (S. 90).
Der nachfolgende Beitrag Schillers Krankheiten und seine Bestattungen kompiliert die umfangreichen Befunde, vernachlässigt jedoch wichtige anthropologische Quellen. Zwar findet der beste Kenner der Materie, der Berliner Anthropologe Herbert Ullrich [mit zwei l], im Text zwar kurz Erwähnung, aber seine voluminöse Abhandlung [Friedrich Schiller: zwei Schädel, zwei Skelette und kein Ende des Streites; Forschungsgeschichte und Ergebnisse. VWF Berlin 2007] wird eigenartigerweise nicht zitiert.
Eine biografische Abhandlung über Johann Christian Stark (1756–1811), der Schillers Lungenembolie therapierte, Goethes Blatterrose behandelte und als Arzt der „Weimarer Klassiker“ Berühmtheit erlangte, schließt sich an, bevor es in der zweiten Hälfte des Bandes etwas spezifischer in die Historie der Phlebologie geht. Die weiteren sieben Kapitel fallen in das Spezialgebiet der beiden Fachärzte, was auch durch die profunde Abhandlung der Themen deutlich zum Ausdruck kommt. Es geht um die Aderlass-Therapien und das Schlahen der Rosenvenen, ferner um die Puerperalsepsis im 19. Jhdt. und die Trendelenburg’sche Venenligatur sowie Die Entdeckung der venösen Thrombose.
Den Struwwelpeter kennt fast jeder, die medizinische Doktorarbeit seines Schöpfers, des Frankfurter Psychiaters Heinrich Hoffmann (1809–1894), hingegen wohl nur wenige. Die Hachs legen eine beeindruckende Biografie des großartigen Arztes, der als Reformator der Sozialmedizin gilt, vor und ordnen seine Dissertation über die Phlegmasia alba (weiße Schenkelgeschwulst), eine tiefe Venenthrombose im Beckenbereich und am Oberschenkel, medizinhistorisch ein. Wer phlebologische Probleme hat, wird beim Lesen der folgenden Kapitel die ‚Gnade der späten Geburt‘ empfinden, denn es geht um Hundert Jahre Chirurgie der großen Venen, um dramatisch verlaufene Fälle, um erste Venennähte, septische Thrombosen, wechselvolle Konzepte der Thromboembolie-Prophylaxe und erste Thrombektomien, und um die Entdeckung der sekundären Leitveneninsuffizienz anno 1991, an der Wolfgang Hach maßgeblich beteiligt war. Von direkter Praxis- und Forschungserfahrung zeugt auch der abschließende Beitrag Wie es zur paratibialen Fasziotomie kam und wie das chronische venöse Kompartmentsyndrom entdeckt wurde; das ist Medizinhistorie aus Augenzeugenperspektive.
Der Verlagsdirektorin Dr. Sandra Schmidt gebührt besonderer Dank für den Anstoß zu diesem Buchprojekt. Durch die Zusammenführung der hervorragend illustrierten Einzelpublikationen, die Überarbeitung der Beiträge sowie die Ergänzung von Sach- und Personenverzeichnis ist ein Taschenbuch entstanden, das die oben erwähnte Leidenschaft zur Medizingeschichte spürbar werden lässt. Das wird insbesondere dort deutlich, wo Zitate in altdeutscher Schreibart übernommen und wo lateinische Texte zitiert und dazu akribisch übersetzt wurden, was denjenigen, deren Latinum längere Zeit zurückliegt, sehr entgegen kommen dürfte.
Die Sammelschrift eröffnet nicht nur Medizinern, sondern ebenso Humanbiologen, Anthropologen und Historikern sowie interessierten Laien einen streiflichtartigen Einblick in ein halbes Jahrtausend Medizingeschichte, in Wunderglaube, Heilkunst, zufällige Entdeckungen, bahnbrechende Erfindungen und beeindruckende Biografien von Pionierärzten. Die Geschichte der Medizin ist, und das macht der Band hinreichend deutlich, keine kontinuierliche Erfolgsgeschichte; sie ist auch eine Geschichte absurder Phantasien, fataler Irrwege und deprimierender Rückschläge, sie ist eine Geschichte von Pein und Plagen, von immerwährenden medizinischen und humanitären Herausforderungen. Die medizinhistorische Perspektive ist wichtig, denn sie schärft die Sensibilität für die geistige Einstellung zu Gesundheit, Krankheit, Sterben und Tod, lädt zur ‚Besinnung‘ (sensu Heidegger) ein und verleiht, wie die Autoren es ausdrücken, „der alltäglichen Arbeit [von Berufsgenossen] eine höhere Weihe“ (S. VII). (wh)