Franziska Meier (2016): In ein Mühlwerk geworfen. Zum autobiographischen Schreiben in der Französischen Revolution. V&R unipress, Göttingen, 287 Seiten, 22 Abb., gebunden, ISBN 78-3-8471-0461-2. € 50,00
Die Romanistik hat sich eingehend und komplementär zur geschichtswissenschaftlichen Forschung mit der Französischen Revolution beschäftigt. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei – etwa in den Arbeiten von Brigitte Schlieben-Lange und Jürgen Trabant – die idéologues, jene Gruppe von aufgeklärten Philosophen und Wissenschaftlern, die die Revolution mit einem kulturpolitischen Impetus verknüpft haben. Ihr Kampf für ein einheitliches Bildungssystem und gegen Regional- und Minderheitensprachen konnte weit über die napoleonische Ära und die Restauration hinaus eine enorme Wirkungsmacht entfalten. Der Zentralismus, der Frankreich bis heute prägt, geht wesentlich auf diese Initiativen zurück. Über die Beschäftigung mit derartigen sprachpolitischen, epistemologischen, semantischen und rhetorischen Aspekten der revolutionären Praxis wurde die Literatur der Revolutionsjahre bislang vernachlässigt. Franziska Meier hat diese Forschungslücke erkannt: In dem hier anzuzeigenden Band beschäftigt sie sich mit dem autobiographischen Schreiben der 1790er Jahre, die – mit Ausnahme der Arbeiten von An toine Lilti und Hans-Jürgen Lüsebrink – bislang kaum beachtet wurden. Dabei wird deutlich, dass vor dem Hintergrund der Revolutionswirren in einer Nische zwischen Aufklärung und Frühromantik Texte von einer bemerkenswerten Modernität entstanden sind. Ging man bislang davon aus, dass die sich überstürzenden politischen Ereignisse der künstlerischen und insbesondere literarischen Aktivität eher abträglich waren, so kann die vorliegende Studie auf Grundlage eines breiten, allerdings recht heterogenen Textkorpus ganz im Gegenteil aufzeigen: Gerade das fehlende otium, vor allem aber prekär gewordene politische und lebensweltliche Gewissheiten und der Verlust heilsgeschichtlicher Fundierung führen bei den Autoren zu einem „Bedürfnis nach einer autobiographischen Fundierung des Schreibens“ (S. 32). Zwischen den mal provozierenden, mal eskapistischen autobiographischen Schriften Rousseaus und den frühromantisch-solipsistischen Texten Chateaubriands entstanden so in den Revolutionsjahren zahlreiche Selbstzeugnisse, die bislang kaum beachtet wurden. Meier spricht nachvollziehbar von einer „außerordentlichen Blüte autobiographischen Schreibens, zu der es in der und dank der Französischen Revolution kam“ (S. 15). Kennzeichnend für nahezu alle diese Texte ist das Ineinandergreifen von Selbstrede und Geschichtsdarstellung, dem die Verfasserin in subtilen Textanalysen nachgeht.
Besonders überzeugend sind diesbezüglich die Ausführungen zur Selbstrechtfertigung als Anlass autobiographischen Schreibens. Der apologetische Duktus verbindet Texte von Autoren unterschiedlicher politischer Lager: Sowohl revolutionäre Girondisten als auch Verfechter des Ancien Régime greifen zur Feder, um ihre Überzeugungen und ihr Handeln vor den Zeitgenossen und vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Dieser sorgfältig erhobene philologische Befund wird leider nicht verknüpft mit neueren Forschungen zu Autobiographie und kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung. Dabei eignen sich gerade einige apologetische Texte der von Franziska Meier ausgegrabenen minores hervorragend dazu, Autobiografie als Gedächtnisgattung in einem performativen Rahmen zu kennzeichnen.
Von grundsätzlicher literarhistorischer Bedeutung hingegen sind Meiers Ergebnisse zur Gattungshybridisierung: Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse und in dem Bestreben, Selbstrede und Historiographie miteinander zu verknüpfen, wird das bestehende Gattungssystem durch Vermischung vorhandener Formen wie z.B. Portrait, Mémoires, Anekdote gesprengt. Autobiographisches Schreiben ist, da nicht in der normativen Regelpoetik fixiert, nicht an einen speziellen Darstellungsmodus geknüpft. Lebensgeschichtliches Erzählen kann daher gerade in der Transgression bestehender Formen einen Spielraum neuer literarischer Möglichkeiten eröffnen. Besonders deutlich wird dies etwa in Bezug auf Merciers zweite Stadtbeschreibung Le Nouveau Paris, die Meier sehr gut nachvollziehbar zwischen Historisierung und subjektivem Blick verortet und damit eine Ahnung davon vermittelt, wie sehr gerade hier Grundlagen für die Literatur des 19. Jahrhunderts gelegt werden. Dabei kommt den Texten mehr oder weniger „kanonischer“ Autoren wie Chateaubriand, Mercier oder Madame de Staël eine besondere Bedeutung zu: Im Gegensatz zu den „Wortergreifungen“ (Lüsebrink) der minores, die häufig ganz in pragmatisch-apologetischen Kontexten gefangen sind, zeigt sich gerade bei diesen Autoren das innovative Potential. An der einen oder anderen Stelle hätte man sich daher gewünscht, dass die „große Bandbreite autobiografischen Schreibens der 1790er Jahre“ (S. 31) nach Relevanzkriterien geordnet und gruppiert worden wäre. Fazit: Franziska Meier legt eine sorgfältig recherchierte und durch ihre argumentative Vorgehensweise sowie ihre Ergebnisse überzeugende Darstellung zu einem bislang vernachlässigten Textkorpus vor. Die sehr gut nachvollziehbare Gliederung, ein sorgfältig erstelltes Personenregister und sinnvoll ausgewählte Abbildungen erleichtern die Orientierung. Französischsprachige Zitate werden – mit Ausnahme der Fußnoten – allesamt übersetzt. (fh)
Dr. phil. Florian Henke, Studiendirektor i.H., Fachrichtung Romanistik, Philosophische Fakultät, Universität des Saarlandes.
f.henke@mx.uni-saarland.de
Sylvia Kesper-Biermann/Bettina Severin-Barboutie (Hrsg.), Verflochtene Vergangenheiten: Geschichtscomics in Europa, Asien und Amerika. In: Komparative Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, 24 (2014), H. 3, Leipziger UniversitätVerlag, Leipzig 2014. 148 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86583-897-1. € 12,00
Schon in ihrem in die Thematik einführenden Beitrag schreiben die Herausgeberinnen: „In der akademischen Forschung sind Comics bislang über ein Nischendasein nicht hinausgekommen. Das gilt insbesondere für Deutschland“ (S. 12,16); dem wollen sie mit dem vorgelegten Sammelband abhelfen. Schon der Titel deutet an, worum es gehen soll, nämlich um Comics in Europa, Asien und Amerika, die Geschichtliches im Auge haben, und um verflochtene Vergangenheiten, was gewisser Erläuterung im Weiteren bedarf. Zunächst werden Comics anhand einer Definition (von Scott McCloud) umschrieben als „angeordnete Kombinationen von Bild, Text und Symbolen, die Informationen vermitteln sowie ästhetische und emotionale Wirkungen beim Betrachter erzeugen“ (S. 9), also „Bildergeschichten“ als „Inszenierungen von Wirklichkeit“. Für „Geschichte“ nun gibt es (hier) keine abstrakt-blutleere Definition, sondern den zum Thema hinführenden erinnernden Hinweis, dass Comics „in der Vergangenheit … immer wieder für politische Ziele vereinnahmt und hierbei je nach Bedarf stigmatisiert (für Zeitgenossen: Klaus Staeck in seinen frühen Jahren) oder gefördert, „imperialisiert“ oder „nationalisiert“ wurden (S. 10 mit Begründung). Zeitweise galten sie als „Schmutz-und Schundliteratur“, als kinder-und jugendgefährdend, kriminogen und gewaltfördernd (ältere Leser werden sich noch an Mickey Maus, Fix und Foxi u.A.m. erinnern, freilich auch an die bebilderten „Landser“-Heftchen und anderen kriegsverherrlichenden Schrott). Unter Geschichtscomics versteht man Comics mit historischem Inhalt. Geschildert wird sodann die Verflechtung des Fremden mit dem Eigenen, als Beispiel dient „Das Tagebuch der Anne Frank“ in Japan, dem Land der Mangas (=japan. für Bildergeschichten) als Teil deutsch/europäischer Geschichte. Sie wurde dort adaptiert und popularisiert, ins Englische übersetzt, in die USA exportiert und gelangte schließlich als DokuComic „in einer kulturspezifischen Form nach Deutschland und Frankreich“ (S. 7, 11). Mit diesen Befund verbindet sich eine Reihe von Fragen, etwa: Warum ist Anne Frank in Japan so populär, und wie hängt das mit der dortigen kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zusammen (S. 7)? Im Mittelpunkt stehen „der Weg, die Spurensuche und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Europa und Asien (S. 7 f.). Inzwischen hat man von den USA bis zu den Philippinen insgesamt 18 AnneFrank-Comics aufgespürt. Das Comic ist mithin eine Form, Geschichte zu präsentieren (was m. E. etwas an Zeiten des Analphabetismus erinnert, in denen Geschichtenerzähler anhand von Bildtafeln auf Märkten und bei Festen Moritaten, aber auch Heldenerzählungen [z. B. Richard Löwenherz auf dem Trifels, und Blondel der „Sänger“ auf der Suche nach ihm] zum Besten gaben; im 20. Jahrhundert sind das u.A. dann die großen Kriege und der Holocaust). Dass diese Art Verbreitung „von Transfers, Verpflichtungen und Interdependenzen geprägt“ ist, überrascht nicht (S. 8). Die Vielfalt der Bezeichnungen, Comic, Manga, Bande déssinee [franco-belge oder francophone], verweist auf „verschiedene Comic-Kulturen“ (S. 13). Das wird im Weiteren noch näher entfaltet (für Deutschland S. 16 ff.). Der instruktive Beitrag schließt mit einem Blick auf „Perspektiven für ein Forschungsfeld“, gemeint: „Geschichtscomics als verflochtene Vergangenheiten“ (S. 24-28). Im zweiten Beitrag geht es Dolle-Weinkauff um historisches Erzählen im Comic, Manga und Grafic Novel unter der Leitfrage: „Was ist ein Geschichtscomic“? (S. 29-46). Hiermit hätten sich bisher hauptsächlich Historiker „mit durchaus bemerkenswerten Ergebnissen“ befasst, und hierbei „immer wieder neue und andere Definitionen und Typologie hervorgebracht“, was zeige, dass die Eingrenzung des Textkorpus „Geschichtscomic“ noch nicht befriedigend gelungen sei. Nach einem ausführlichen Überblick über „Geschichtscomic als Gattung der graphischen Literatur“ (S. 32-44), verbunden mit einer nach meinem Empfinden „exklusiven“ Sprache, resümiert der Autor, dass die von ihm vorgestellten Typen historischen Erzählens unter anderem nicht erfassen Prinz Eisenherz, Sigurd, auch die meisten Western-, Seefahrer- und Piratenserien nicht, und erläutert kurz, warum das so ist (S. 44: Historisch sei nur das Bühnenbild, nicht die hierin eingebettete Geschichte). Auf die Spuren der „Digedags“ im DDR-Comic MOSAIK begibt sich Lobmeier (S. 47-58). Für Wessis: Dig, Dag und Digedag sind drei Kobolde, seinerzeit, wie die Autorin versichert, „im Osten Kult“. Sie schildert die Gründung durch Johannes Hegenbarth alias Hannes Hegen und dessen interessanten Werdegang, sowie, nach 223 Heften von 1955–1975, das „überraschende Aus“ für das „MOSAIK“ (S. 48 ff., 53), und betrachtet in kürzeren Abschnitten das MOSAIK als Geschichtscomic und als historische Quelle.
„,Der Krieg sind wir‘ – eine vielschichtige Debatte um den Ersten Weltkrieg in Notre Mère la Guerre“ überschreibt Susanne Brandt ihren Beitrag (S. 59-79), der in wesentlichen Teilen aus Gesprächen stammt, die sie mit dem Autor Kris, der Geschichte, und dem Autor Maël, der Politikwissenschaft studiert hat, geführt hatte (S. 59 Fn.1). Dieser, im Mai 2014 gedruckte, vierbändige Comic beruhe auf intensiver Recherche, das Ergebnis verflechte Forschung und Fiktion. Die beiden, 1972 und 1976 Geborenen hätten die einschlägigen Werke zum Ersten Weltkrieg, und nicht nur sie, gelesen (näher S. 62). In Frankreich und Belgien seien solche Werke „im Unterschied zu Deutschland weitaus akzeptierter als eigenständige Kunstform, aber auch als glaubwürdige Form der journalistischen Berichterstattung“. Sie füllten viele Regale. Für Kris sei der Erste Weltkrieg die Mutter aller Konflikte des 20. Jahrhunderts. Ob die von Maël ins Bild gesetzte Geschichte der „Wahrheit“ dieses Kriegs und Allem, was ihn bedingt hat, nahekommt? Die Autorin scheint dies glauben zu wollen.
Jeannette van Laak thematisiert speziell „Dissidenz im Comic“ anhand von Comics zur DDR-Geschichte (nach dem Ende der DDR) am Beispiel von „drüben!“ (S. 80-96). Wenn Derartiges gelingt, ist es sicher bestens geeignet, den Nachgeborenen ihre eigene Vorgeschichte nahezubringen. Ob es dann gelungen ist, bleibt freilich die oft umstrittene Frage. Die Autorin ist jedenfalls von dem Ego-Erzähler von „drüben!“, Simon Schwartz, sehr angetan (S. 95.).
Das Themen-Heft schließt mit „Bewegte Erinnerung. Zur ‚autofiktionalen‘ Erinnerungskonstruktion in den Comics emigrierter Grafic Novel-Autorinnen“ von Barbara Eder (S. 97-111). Wenn er das anfängliche Feuerwerk, zwei Sätze mit sechs Fußnoten, überstanden hat, erfährt der Leser, dass „ein offensiver Umgang mit Comics als Quellen für bisweilen noch ungeschriebene Geschichte(n) eher selten ist“, was bedauerlich sei. Eders These: Die „infolge der simultanen Anordnung unterschiedlicher Zeitebenen im selben Raum stattfindende Kollision von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft“ werfe „die theoretisch weitreichendere Frage nach der eigentlichen Zeit der im Medium Comic dargestellten Geschichte(n) auf“ (S. 98). Ein „konstruktivistisch orientiertes Geschichtsverständnis“ impliziere das Infragestellen der Annahme, Geschichte habe „ihren zu konstituierenden Gegenstand in der Vergangenheit“. Verstehe man Geschichtsschreibung als einen auf die Rekonstruktion der Genese der Gegenwart gerichteten Prozess, komme letzterer die entscheidende Rolle zu. Im Folgenden will Eder (sehr „anspruchsvoll“ formuliert) zeigen, wie Zeitgeschichte im Kontext dieser (hier nur zum Teil wiedergegebenen) Überlegungen „subjektiv angeeignet wird“ (S. 99). Gewiss, möchte man einwerfen, schon deshalb, weil uns „Subjekten“ mit unseren beschränkten Erkenntnisfähigkeiten eine „rein objektive“ Aneignung gar nicht möglich ist. Die Subjekte können sich nur darüber verständigen, was sie als „objektive“ Deutung gelten lassen wollen. Im Weiteren geht es der Autorin dann um die „autofiktionale“ Erinnerungskonstruktion im Sinn des Titels (zur Bedeutung des „Terms der ‚Autofiktion‘“ siehe Fn. 12). Drei Grafic-Novels stellt Eder dann vor und analysiert sie, weniger als generationenübergreifende Rekonstruktionen einer Familiengenealogie als im Hinblick auf die Biografien der Erzählerinnen (S. 100 ff.). Das wie auch den Schluss sollten Interessierte selbst lesen. Sprachlich ist „Durchhaltevermögen“ erforderlich.
Am Ende ist man durchaus etwas erstaunt über die Fülle an Gedanken, die den Comics hier gewidmet worden sind. Aber wenn der Anspruch erhoben werden sollte, per Comic „über“ die Geschichte nicht nur in der üblichen Weise zu schreiben, das Gewesene im Gewordenen nachzuweisen, das Hineingelesene auf- und auszuweisen und mittels der Form des Comics einen neuen Zugang zu legen, dann besteht insoweit wohl ein Bedarf. Was man mit Bildern, auch mit bewegten, machen kann, „wissen“ wir heute mit (noch) größerer Deutlichkeit als unsere Vorfahren. Und doch gehen wir ihnen immer einmal wieder auf den Leim (ich besonders gern bei „Asterix“; freilich ist dessen Typus nicht Gegenstand dieses durchaus interessanten Projekts gewesen). Das gilt es eben auch zu bedenken. (mh)
Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh).
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