Alexander von Humboldt: Von Spanien nach Cumaná (1799/1800). Tagebücher der Amerikanischen Reise Bd. 1, Hg. Carmen Götz, mit Vorworten von Cécile Wajsbrot und Ottmar Ette, 1. Aufl. 2022, Hardcover, J.B. Metzler, Springer Nature, Berlin, XLIV, 528 S., 61 Abb., davon 10 in Farbe, ISBN 978-3-662-64273-3, € 74,99.
Der hier angezeigte Band gehört zur edition humboldt print, die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) im Rahmen des Langzeitprojekts »Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung« durch Ottmar Ette (*1956, Literaturwissenschaftler, Univ. Potsdam) herausgegeben wird. Er ist Teil des Hybridvorhabens aus digitaler Edition [ehd] und Printausgabe [ehp] von Alexander von Humboldts (1769–1859) kompletten Manuskripten »zum Themenkomplex Reisen an der Schnittstelle zwischen Kultur- und Naturwissenschaften« (s. https://edition-humboldt.de/). Die wissenschaftsgeschichtliche und editionsphilologische Schlüsselquelle des seit 2015 laufenden und bis 2033 konzipierten Akademievorhabens sind die Reisetagebücher der Amerikanischen Forschungsreise (1799–1804) und die Fragmente der Tagebücher der Russisch-Sibirischen Expedition (1829) sowie damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Briefe, Dokumente, Notizen, Skizzen und Karten.
Dass das riesige Konvolut überhaupt erhalten blieb, ist dem 1853 gefassten Entschluss des bereits hochbetagten AvH zu verdanken, seine »6-9 grossen Reisejournale« sorgfältig binden zu lassen und »nicht […] wie so vieles andere zu verbrennen, sie bleiben eine Erinnerung an Fleiss und guten Willen«, wie er dem Astronom Franz J. Encke (17912–1865) in höflicher Untertreibung schrieb (zit. n. T. Kraft, Humboldt-Handbuch, Hg. O. Ette, 2018, VII, 37, S. 278; Rez. FBJ 5/2019, S. 20-22, wh). Nach einer wahren ‚Odyssee‘ der Reisepapiere gelang der Staatsbibliothek zu Berlin – SPK 2014 deren Ankauf. In Kooperation mit der BBAW und der Univ. Potsdam wurde 2015/16 AvHs wiss. Nachlass konserviert, digitalisiert und im Netz greifbar gemacht (https://humboldt.staatsbibliothek-berlin.de/werk/). Die »Kärrnerarbeit« war Voraussetzung für das erwähnte editorische Hybridvorhaben. Dazu muss man wissen, dass AvH seine Tagebücher selten linear schrieb, d.h. die Einträge sind nicht kontinuierlich datiert, sondern machen immer wieder Textsprünge, brechen abrupt ab und setzen sich unvermittelt andernorts fort. Die Notizen folgen weder einer strikten Chronologie, noch einer gezielten Auswahl, sondern sind eine Abfolge von Beobachtungen und Skizzen der Natur, akkuraten experimentellen Messungen zur Geographie, Geologie, Mineralogie, Ozeanographie, Meteorologie, Geophysik und Astronomie, verbunden mit Essays zur Biologie, Anthropologie, Ethnologie, Sprachkunde und Humanmedizin, nachträglich ergänzt durch Annotationen und Querverweise auf jüngere Erkenntnisse und das alles in Deutsch, Französisch oder Latein sowie sporadisch weiteren Sprachen.
Herausgeberin ist die Germanistin Dr. Carmen Götz (*1963), die auf dem Humboldt-Tag 2022 der BBAW bzgl. der Rekonstruktion der Tagebücher G. E. Lessing (1729–1781) zitierte: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren«. Dank ihrer ausgewiesenen Kompetenz und langjährigen wiss. Erfahrung am Düsseldorfer Institut für die Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin sowie als MA an der Leopoldina-Ausgabe der Goethe-Schriften zur Naturwissenschaft gelingt es Götz mit ihrem Team, AvHs enigmatische Unordnung von „Reisejournal, Feldbuch und Notizbuch“ (S. XXVI) in eine bibliophile, (in weiten Teilen) flüssig zu lesende, systematische Erzählweise zu formen.
Wie das bei dem »Flickenteppich« an Informationen möglich wurde, wird neben einer methodischen Einleitung mit anschließender editorischer Notiz in einem breiten Anhang über Konkordanzen der Reiseberichte, Erläuterungen von Maßangaben und Symbolen, einem Glossar sowie umfänglichen Quellen und Registern zugänglich.
Das Werk hat zwei Vorworte; zunächst ein poetisches (in dt. und frz.) von der hochgeehrten Schriftstellerin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot (*1954, Paris, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste (Berlin)). Der Titel „Le garde-temps“/„Der Gardetems“ (S. IX) steht als Metapher für den „Vermesser der Welt“, der mit dem Aufbruch in die Neue Welt mit zunehmender Entfernung von Europa, wo Gewalt, Kampf und Krieg herrschen, nicht nur den Kontinent geographisch verlässt, sondern auch „im intellektuellen, kulturellen Sinne, einen Denk- und Zivilisationszusammenhang“ (S. IX). Wajsbrot schildert, wie sich gleich in den ersten Tagen „der Ernst des Gelehrten, die Begeisterung des Forschers und das Gefühl des Menschen mischen“, schwärmt von AvHs typischer „Verbindung von Poesie und sorgfältiger Beobachtung, […] genauso wie dem Beobachten, Bericht erstatten“ und erwähnt „die Momente der Unsicherheit […], das Bewusstsein fortwährender Gefahr, die völlige Hingabe an die Sache des Wissens“ (S. X f.).
Das Vorwort des Projektleiters Ottmar Ette schildert Humboldts „kometenhaften Aufstieg […] zu einer der großen europäischen Figuren des 19. Jahrhunderts mit dieser transkontinentalen Reise“. Es ist sein Weg aus „einer europäischen Enge […] in eine Freiheit, die zunächst vor allem Freiraum war“ (S. XVII). Otte erwähnt, wie der Reisende in der Fremde „[u]m diese Enge glücklich hinter sich lassen zu können, […], „sein europäisches Rassedenken verändern und versuchen [musste], den indigenen amerikanischen Kulturen, auch den altamerikanischen Zivilisationen, möglichst unvoreingenommen gegenüberzutreten“ (S. XVIII).
Es folgen zwei Einführende Studien; die erste stammt von der Mathematikhistorikerin Dr. Ulrike Leitner (*1952), betitelt nach einem AvH-Zitat: »Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle angestellten Beobachtungen ohne Auswahl in mein Tagebuch einzutragen«.
Die Seniorenwissenschaftlerin berichtet über die digitale Neuausgabe der amerikanischen Reisejournale. Sie illustriert AvHs präzises Messen mit damals neuesten technischen Geräten, die unentwegte Erfassung empirischer Daten und deren ständige Validierung. Ihre Abhandlung umreißt „Humboldt’sche Charakterzüge: sich für alles zu interessieren, ruhelos das nächste, vielleicht noch interessantere Ziel anzusteuern, sich nicht von Schwierigkeiten auf dem Weg beirren zu lassen […]“ (S. 39).
Die zweite Studie mit dem Titel »Linnés Normen, Willdenows Lehren und Bonplands Feldtagebuch« hat die Herausgeberin verfasst. In der überarbeiteten ehd-Fassung von 2018 geht es um AvHs Pflanzenbeschreibungen und die intertextuelle Vernetzung der drei unterschiedlichen Ansichten sowie Humboldts Anteil im Vergleich mit dem seines Partners und Reisebegleiters Aimé Bonpland (1773– 1857, frz. Arzt und Naturforscher). Nach hilfreichen Empfehlungen zur Annäherung an die „komplexe, in Teilen rätselhaft-undurchdringliche Struktur“ (S. 79) des Textes bzgl. Materialität, Zeitlichkeit und Sprache folgt an einem Laien kryptisch bleibenden Digitalisat eines Tagebuchblattes dessen editorische Rekonstruktion; ein Respekt einflößendes Exempel. Das entschlüsselte und intensiv kommentierte erste Tagebuch der Amerikanischen Reise beginnt mit dem Auslaufen der span. Fregatte »Pizzaro« aus dem galizischen Hafen La Coruña am 5. Juni 1799; ihr Ziel sind die spanischen Kolonien in Amerika. Nach einem Zwischenhalt auf den Kanarischen Inseln erreichen Humboldt und Bonpland am 16. Juli 1799 die Neue Welt in Cumaná, wo die beiden Forscher mit Unterbrechungen durch ihre legendären abenteuerlichen Exkursionen ins Landesinnere bis zum 16. Nov.1800 Quartier nehmen.
In neun ausführlichen Kapiteln werden AvHs von »entgrenzender Neugier« (sensu A.W. Daum, *1963, Historiker) gekennzeichneten naturwissenschaftlichen Messungen und Interpretationen zur Dichte des Meerwassers, zum Kalibrieren der Längenuhr, zur Refraktion des Lichts, zu Luftspiegelungen, Luftelektrizität und Luftfeuchtigkeit sowie Sonnenstärke, Himmelsbläue, Barometer- und Temperaturschwankungen u.v.a. Parametern detailliert wiedergegeben. Ferner werden seine scharfsinnigen geographischen, botanischen, zoologischen und anthropologischen Beobachtungen zur Natur- und Landeskunde, darunter die beeindruckenden Notizen über eine Sonnenfinsternis sowie ein Erdbeben und Meteor-Schauer, dargelegt. Wir werden Zeuge, wie durch die ständigen Perspektivwechsel des gerade erst 30-Jährigen, seine verblüffend vielfältigen »Ansichten der Natur«, denen auch immer Ehrfurcht innewohnt, zu einer »Wissenschaft aus der Bewegung« werden, und verstehen dabei sein späteres Diktum: »Alles ist Wechselwirkung«.
Die Reise in die Neue Welt wurde zum lange ersehnten Aufbruch in AvHs »vielbewegtes Leben«, bei dem er zum Vordenker einer vernetzten Welt wurde, der eine umfassende physische Weltbeschreibung anstrebte, eine von Empirie geleitete Gesamtschau.
Als wohl renommiertester Kenner von AvHs Leben und Werk bringt der Projektleiter O. Ette die Wirkung des die Welt erfahrenden »Gardetems« (s.o.) auf den Punkt: „Die Amerikanischen Reisetagebücher zeigen uns nicht die Monumentalität seiner Grundsätze, seiner Einsichten und seiner Theorien. Aber sie zeigen uns auf sehr genaue, geheimnisvolle Weise, wie sich diese Vorstellungen entwickelten und ein umfassendes Weltbewusstsein entstand“ (S. XX). Zudem wurde AvH in der Fremde der Neuen Welt als überzeugter liberaler Humanist „zu einem Kämpfer gegen Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei, von denen es in der deutschen Geschichte nicht ausreichend viele Vertreter gab“ (S. XIX).
Fazit: Für all jene, die sich in unserer von wissenschaftlichen und technischen Revolutionen geprägten Welt, die unseren Planeten zu einer »Blue Marple« und einem »globalen Dorf« schrumpfen ließen, das wissenschaftshistorische Interesse an dem »Gründungsmoment moderner Wissenschaft – und […] noch weit mehr« (Einführung, Humboldt-Hdb. 2018, S .7, s.o.) bewahrt haben, ist die faszinierende Lektüre des 1. Bandes der »Tagebücher der Amerikanischen Reise« ein Muss!
Wenn auch die meisten Forschungsergebnisse des zweiten, wissenschaftlichen Entdeckers der Neuen Welt längst gestrig sind, so ist Humboldts »Wissenschaft aus der Bewegung«, so sind seine permanente Neugier, seine multidisziplinäre Suche zum Verstehen unserer komplexen Welt und seine kosmopolitische Ethik bleibend beispielgebend. Ein großer editorischer Wurf, der kein Solitär des Editionsprojekts bleiben wird. Chapeau! (wh)
Eric Gray Forbes: Tobias Mayer (1723–1762). Pionier der Naturwissenschaften der deutschen Aufklärungszeit. [Aus dem Englischen übersetzt von Maria Forbes und Hans Heinrich Voigt unter Mitwirkung von Erwin Roth. Hrsg. Erhard Anthes] Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1. Ed. 2023, 306 S., 34 s/w-Abb. u. 21 z.T. farb. Tafeln, kart., ISBN 978-3-525-31145-5, € 35,00.
2023 jährt sich der Geburtstag des in Marbach a.N. geborenen Astronomen, Geographen, Kartographen, Mathematikers und Physikers Tobias Mayer (1723–1762) zum 300. Mal. Das Multitalent wurde mit 28 Jahren Professor für Ökonomie und Mathematik an der Georgia Augusta, der Universität Göttingen. Carl Friedrich Gauß (1777–1855), der Principes mathematicorum, würdigte den begnadeten Naturwissenschaftler posthum als »Mayer immortalis«. Da Wissenschaft ein »Selbstkorrekturprozess der kollektiven Vernunft« ist (n. Erhard Oeser, Wissenschaftstheoretiker, *1938), verblasst der Ruhm von Forschern jedoch schnell; nur wenige wohnen dauerhaft im »Tempel der Wissenschaften« [n. A. Einstein (1879–1955)].
Dem Vergessen einstiger »Leuchttürme« wirken Wissenschaftshistoriker und Kulturbeflissene entgegen – und manchmal glückliche Zufälle. So auch im vorliegenden Fall, als der Schotte E. G. Forbes (1933–1984) als Doktorand der Astronomie der Univ. of St Andrews in der GaußBibliothek der Göttinger Sternwarte auf einen Nachlass stieß, dessen Bedeutung er jedoch nicht sofort erkannte. Erst nach seiner Promotion über die »Sonnenrotverschiebung«, als er Dozent am Lehrerkolleg in Twickenham war und parallel an der Univ. of London ein Zweitstudium in Geschichte absolvierte, also seine „Karriere als Astronom zugunsten der eines Historikers geopfert hatte“ (Forbes’ Vorwort 1979, S. 11), wurde ihm bewusst, dass es sich um den Hauptnachlass von Mayer handelte, der auch das Göttinger Observatorium leitete.
Als Postdoktorand der Wissenschaftsgeschichte an der Univ. of Edinburgh widmete sich Forbes über ein Jahrzehnt der Herausgabe und Übersetzung von Mayers – vorwiegend in Latein verfassten – Schriften und erhielt dort 1978 eine Professur für Geschichte der Naturwissenschaften. 1980 erschien die Originalausgabe seiner Mayer-Biographie bei V&R, wobei es vermutlich auch geblieben wäre, hätte nicht wieder der Zufall mitgespielt. Zu dieser Zeit wurde Erwin Roth, Professor für Technik an der PH Ludwigsburg, bei seiner Suche nach einem Mal atelier ein Fachwerkhäuschen in Marbach angeboten, verbunden mit der Auflage, darin ein kleines Museum für einen berühmten Bürger der Schillerstadt einzurichten. Als er erfuhr, dass es um Mayers Geburtshaus ging, gründete er umgehend einen Museumsverein. 1987 wurde das zugesagte Museum eröffnet, dem 2018 ein neues Museums-Ensemble folgte (s.https://tobias-mayer-museum.de/). Durch die Museumsinitiative lernte Roth Eric Forbes kennen und vereinbarte mit ihm 1983, die Biographie erweitert auf Deutsch zu veröffentlichen. Da Forbes ein Jahr später verstarb, scheiterte der Plan. Doch dank der Mitarbeit der Witwe, der deutschstämmigen Linguistin Maria Forbes, und des ehem. Direktors der Göttinger Universitätssternwarte, Prof. Hans-Heinrich Voigt (1921–2017), konnte Roth 1992 nach »schwere[r] Geburt« (Vorwort, S. 8) ein weitgehend werkstreues Computer-Typoskript herausgeben. Dass die Übersetzung jetzt, 31 Jahre später, als hochwertiges Fachbuch vorliegt, ist insbesondere dem Engagement des Herausgebers Erhard Anthes (*1943), Prof. i.R. für Mathematik und Didaktik an der PH Ludwigsburg, zu verdanken.
In zehn Kapiteln werden Leben und Werk der Koryphäe geschildert, eine Vita per aspera ad astra. Eingangs ist Mayers zwei Jahre vor seinem Tod verfasste Autobiographie über die Kindheit wiedergegeben. Er wurde als 6. Kind eines „fleißigen“ und „verständigen“ (S. 23) Wagners und Brunnenmeisters und dessen zweiter Frau geboren.
Wenig später verzog die in bescheidenen Verhältnissen lebende Familie nach Esslingen, wo Mayer sen. aufgrund seiner beruflichen Wertschätzung von der Stadt eingestellt wurde. Schon als kleiner Junge wich Tobias seinem Vater bei dessen Zeichnungsarbeit nicht von der Seite und bemühte sich, das Gesehene akribisch nachzuahmen, und „[m]ein Vater, der diese außerordentliche Lust zu mahlen bey mir bald wahrnahm, unterdrückte dieselben keineswegs“ [sic] (S. 25).
Neben dem besonderen Zeichentalent fiel die außerordentliche Lernfähigkeit des Knaben auf, der bereits als Vierjähriger lesen und schreiben konnte und bald zur Schule ging, denn „der Schulmeister, der Nicolai hieß, hatte bereits von meinem guten Kopfe, wie man sich auszudrücken pflegte, gehöret“ (S. 28).
Warmherzig beschreibt Mayer seine Zeit als Junge, dessen Hochbegabung zwar sehr bald gefördert wurde, aber auch die erwartbaren Probleme bereitete: „[I]ch glaube, es hat nicht leicht jemand so viel mit so wenigem Lust und Geschmack gelernet als ich“ [sic] (S. 31).
Forbes nennt Mayers „Antipathie gegen irrelevantes und unnützes Wissen, sein großes Zeichentalent und seine Faszination für das Militärwesen“ (S. 32) als wesentliche Charakterzüge, die die Karriere des früh verwaisten Jungen bahnten. Unterstützt vom Esslinger Magistrat wurde das »Wunderkind« im Collegium alumnorum untergebracht und durfte die Lateinschule besuchen. Da Tobias‘ besonderes Interesse auf der Mathematik lag, bildete er sich autodidaktisch fort und verblüffte als Jugendlicher mit »Erstlingen« über Geometrie und Mathematik sowie einem geometrisch korrigierten Stadtplan Esslingens. Detailliert und anekdotenreich verfolgt Forbes, wie Mayer 1745 ohne Schulabschluss als Schriftenstecher nach Augsburg geht und einen beeindruckenden »Mathematischen Atlas« erstellt. Wenig später tritt er beim Landkartenverlag Homann in Nürnberg eine leitende Stelle als Kartograph an und veröffentlicht 1750 mit dem Kartenwerk Germaniae Mappa Critica einen Meilenstein der Kartographie. Mayer erkannte, dass die „Astronomie die Dienerin der Geographie“ (S. 51) ist und entwickelte bahnbrechende Vermessungsmethoden und eine neue „Kartographie der Erde und des Mondes“.
Anspruchsvoll legt Forbes das Wirken des „mathematischen Kosmographen“ dar, beschreibt „Mayers Jahre in Göttingen“ und dessen Aktivitäten als „Professor“, die weit über die nominelle Bezeichnung des Lehrstuhls (s.o.) hinausgingen. Laut Vorlesungsverzeichnissen behandelte Mayers Lehre u.a. angewandte Mathematik, Algebra, praktische Geometrie, Kartographie, Astronomie, Mechanik, Militärtechnik, Befestigungsbau, Pyrotechnik und Hydrographie (vgl. S. 126ff.).
Wie Forbes in den Kapiteln „Der Wiederholungskreis und das verbesserte Astrolabium“, „Der praktische Astronom“ und der „Längenpreis“ zeigt, versiegte Mayers Forschung nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Der geniale schwäbische »Vermesser des Meeres, der Erde und des Himmels« [lt. Nekrolog von Abraham G. Kästner (1719–1800), Mathematiker] betrieb praxisbezogene Forschung. So erhielt Mayer 1765 posthum den vom Britischen Parlament ausgelobten »Längenpreis« für die exakte Bestimmung der geographischen Länge, wodurch die Schifffahrt entschieden sicherer wurde.
Wie innovativ der aufklärerische Pionier dachte, wird im 10. Kap. „Erdbeben-, Magnetismus- und Farbentheorie“ deutlich; und was hätte die mit 39 Jahren an Typhus verstorbene Koryphäe nicht noch alles leisten können! Mag Mayers Werk durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt auch überholt sein, so ist sein wegweisendes Schaffen bedeutsam gemäß dem Diktum: »Nanos gigantum humeris insidentes« (n. Bernhard von Chartres, gest. n. 1124).
Fazit: Da Englisch die Lingua franca der Wissenschaften ist, war Forbes’ Originalpublikation für Fachwissenschaftler hinreichend informativ, schloss aber jene aus, die sie nicht beherrschen. Somit liegt der Wert der um jüngere Literatur erweiterten Neuausgabe zum einen im Zugang für eine breitere Leserschaft und zum anderen in der späten Würdigung des in der öffentlichen Wahrnehmung marginalisierten Pioniers der Aufklärungszeit, wofür den an der Herausgabe Beteiligten und dem sich seiner Tradition verpflichtet fühlenden Göttinger Verlag besonderer Dank gilt! (wh)
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
henkew@uni-mainz.de