Ulrich Päßler (Hrsg., 2020): Alexander von Humboldt: Geographie der Pflanzen. Unveröffentlichte Schriften aus dem Nachlass. Reihe: edition humboldt print no 1, Reihe III: Forschungen im Umfeld der Reisen. 2020, 1. Aufl., S. XXIII, 381, 35 Abb., Hardcover. J.-B.-Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, ISBN 978-3-476-04964-3, € 74,99.
Der Hype zum 250. Geburtstag der preußischen Ikone Alexander v. Humboldt (14.09.1769–06.05.1859), der von den Medien als »Universalgelehrter«, »Forschungsreisender«, »erster Klimaforscher«, »überzeugter Liberaler, »Demokrat«, »Verfechter der Menschenrechte«, »Denker der Globalität« und gar »Weltweiser« gefeiert wurde, als jemand, der heute »als Vorbild dringend gebraucht« werde, fand im Fokus (Fachbuchjournal 5/2019, S. 8-18) in neun ausführlichen Rezensionen von Prof. em. Dittmar Dahlmann (dd) Beachtung. Mittlerweile ist die Flut populärwissenschaftlicher Biographien und Bildbände, die die Verdienste des wissenschaftlichen Leuchtturms mit der »entgrenzenden Neugier« (nach A.W. Daum, Rez. dd, 5/2019, S. 10) zum Jubiläum verkaufsorientiert heroisierten, abgeebbt und nüchternen wissenschaftshistorischen Analysen gewichen.
Der hier angezeigte Band gehört zur Schriftenreihe des laufenden Akademievorhabens Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft in Bewegung, die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch den international renommierten Romanisten Ottmar Ette (*1956; Universität Potsdam) herausgegeben wird, der bereits das 2018 erschienene Metzler-Handbuch Alexander v. Humboldt Leben – Werk − Wirkung editiert hat (s. Fachbuchjournal 5/2019, S. 20-22, Rez. wh). Der mit staatlichen Geldern geförderte Band mit dem seitenverkehrten Gemälde des gealterten Alexander v. Humboldt in Berlin, Arbeitszimmer in der Oranienburger Str. 67 von Edward Hildebrandt (1818–1858; gemalt um 1845) auf dem Cover enthält eine Auswahl von Schriften zum Themenschwerpunkt »Pflanzengeographie und Biowissenschaften« sowie anspruchsvolle Expertisen.
Herausgeber und Bearbeiter des größten Teils der »Pflanzengeographie« ist Ulrich Päßler (*1975), promovierter Historiker an der BBAW, der durch glänzende wissenschaftshistorische Publikationen ausgewiesen ist [s. https://edition-humboldt.de/register/personen/detail. xql?id=H0001805&l=de]. Hier stellt er die »Geographie der Pflanzen «vor, die für Alexander v. Humboldt (f. AvH) »empirisches Forschungsprogramm und ästhetische Anschauungswissenschaft« zugleich war [Projektdetails s. https://www.bbaw.de/forschung/ alexander-von-humboldt-auf-reisen-wissenschaft-aus-der-bewegung]. Nach zwei aufschlussreichen Exkursen zur »Ästhetik der Natur und Natur der Ästhetik« (von O. Ette) sowie zu Humboldts Geographie der Pflanzen – Fragmente des Lebenswerkes« (von U. Päßler) folgt eine Editorische Notiz, die als Anleitung zum Lesen (oder sollte man besser sagen Studium) der Print-Version in Verbindung mit der edition humboldt digital dient.
Das Mammutprojekt der BBAW wurde 2015 für eine Laufzeit von 18 Jahren angelegt, nachdem sich bereits zuvor im Zusammenhang mit der Planung des Humboldt-Forums und der wachsenden Aufmerksamkeit für die Rolle der beiden namengebenden Brüder eine breite wissenschaftliche und öffentliche Diskussion entwickelt hatte. In Lateinamerika erwachte das Interesse an AvHs Schriften zunehmend vom 19. zum 21. Jahrhundert, während sich in den beiden deutschen Staaten erst in der Nachkriegszeit zwei immer gegensätzliche, aber komplementäre Traditionslinien entwickelt hatten, die nach der Wiedervereinigung zusammengeführt wurden, was „als eine der Sternstunden innerhalb der deutsch-deutschen Forschungsgeschichte angesehen werden darf“ (S. XI), wie Ottmar Ette betont.
Inhaltlich ist der Band in drei große Teile gegliedert, beginnend mit »Die Pflanzengeographie als Humboldt’sches Lebensprojekt«. Im Kap. »Im freyen Spiel dynamischer Kräfte« interpretiert Päßler die pflanzengeographischen Schriften, Manuskripte und Korrespondenzen AvHs von den »Wurzeln« her. Er zitiert sein bereits 1796 formuliertes Programm einer »physique du monde« (S. 4), das an die Metapher von einer agilen Spinne im selbst gewobenen Netz der Wissenschaften anknüpft, wie Karl Ludwig Willdenow (1765–1812) als AvHs Hallenser Botanik-Lehrer es beschrieb und ihm die Anschauung eines dynamischen Naturganzen vermittelt hat. Humboldt löste sich sehr früh von vitalistischen Vorstellungen und erkannte die Aufgabe des Naturgelehrten darin, den dynamischen Kräften „mittels Experimenten und präzisen Messungen auf den Grund zu gehen“ (S. 4).
Schwungvoll beschreibt Päßler, wie AvH schon 1794, also lange vor seiner südamerikanischen Forschungsreise zusammen mit dem frz. Naturforscher Aimé J. A. Bonpland (1778–1858) »Die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer« plante. Dass AvH bei seiner berühmten Visualisierung der Geographie der Pflanzen in den Tropenländern durchaus die Vorarbeiten der um 1800 entstandenen pflanzengeographischen Profile des frz. Diplomaten und Naturforschers Jean-Louis Giraud-Soulavie (1752–1813) und anderer Wissenschaftler und Künstler berücksichtigte, hebt Päßler zwar ausdrücklich hervor, da Plagiatsvermutungen erhoben wurden, was aber kontrovers gesehen wird (s. u.). Humboldts »Botanische Arithmetik«, die alle Daten zusammendachte und zusammenfügte, nennt Päßler AvHs »kollaborative Forschungspraxis« der ganzheitlichen Betrachtung der Natur.
Es folgen zweisprachig Humboldts 1814 im Institut de France in Paris gehaltenen »Considérations générales sur la végétation des îles Canaries«, gefolgt von den von AvH 1816 auf Englisch gestellten (und übersetzten) Fragen an den schottischen Arzt und Botaniker Robert Brown (1773–1858) und dessen Antworten an den Baron A. Humboldt als ein Beleg für die damalige höfliche Kommunikation und enge briefliche Vernetzung. Dem »Netzwerke botanischer Forschung« ist der zweite Abschnitt gewidmet, der vom Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille (* 1964, Hon.-Prof. an der Univ. Lübeck) und der Fachkollegin Katrin Böhme verfasst wurde und den durch AvH eingeleiteten Generationenwechsel in der Naturbetrachtung verdeutlicht. Mit der servilen Floskel »Jederzeit zu Diensten« betitelt sind die kommentierenden Beiträge zum Briefwechsel Humboldts mit seinem erwähnten Lehrer und Freund K. W. Willdenow, einem »elenden Registratoren« und »streng specifisch unterscheidenden Mann«, sowie mit dessen Schüler Carl Sigis mund Kunth (1788–1850), dem späteren Vize-Direktor am Botanischen Garten zu Berlin, einem Kurator mit dem »Ethos der Dienstbarkeit« (S. 76).
Der dritte – meist zweisprachige – Teil ist der »Géographie des plantes dans les deux hémisphères« gewidmet und gibt einen profunden Einblick in die durch Empirie und Synthese geprägte »Humboldtian Science« (S. 161). In seinem Beitrag »Un peu de géographie des animaux« macht Matthias Glaubrecht (*1962), Direktor des Centrums für Naturkunde in Hamburg, deutlich, dass zwar kein Zweifel besteht, dass „Humboldt […] eine der großen Gestalten des Übergangs [war]“ (S. 163), dass seine Leistung aber unzulässig idealisiert wurde, da zum einen dabei „[ü]bersehen wurde, […] dass in Humboldts Begriffen von »Kosmos« und von »Harmonie« eine alte geisteswissenschaftliche Tradition fortlebte“, [und] „zum anderen, dass die konkrete Verflechtung alles Seienden in der Natur auf den französischen Naturforscher Giraud-Soulavie zurückgeht […]“ (S. 164). Glaubrecht weist in der akribischen Recherche »Humboldts geistige Ahnen: Zur Begründung des Forschungsprogramms« (S. 179) auf AvHs nur marginales Interesse an der Tierwelt hin und kritisiert im Kap. »Begründung der Tiergeographie durch Eberhard A.W. von Zimmermann« (1743–1815) mit sachlichen Argumenten die Überhöhung von Humboldts wissenschaftlicher Leistung und seiner überzogenen Glorifizierung als »Superstar«. Es folgt von Päßler eine ausführliche Aufarbeitung der Dokumente zur Neuausgabe der »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen«, in der es nicht nur um die Flora der Neuen Welt sondern der „beiden Festlande“ geht, denn oft wird AvHs Reise durchs Baltikums nach Russland und Sibirien (1829) übersehen. Auch der Beitrag aus der Südsee-Forschungsreise von Adelbert von Chamisso (1781– 1838), den die meisten nur als Dichter aber nicht als Naturforscher kennen dürften, findet Beachtung.
Besonders erwähnenswert ist noch der Briefwechsel mit dem Ausburger Kunstmaler Johann Moritz Rugendas (1802–1858), der – angeregt durch AvH – die exotische Natur Südamerikas, der Einheimischen und deren Sitten illustrierte.
Ein 80-seitiger Anhang mit Maßangaben und Symbolen, Forschungsquellen, Literatur, geogr. Namen und Institutionen, Personen- und Abbildungsverzeichnis schließt das gelungene Werk zwischen Fach- und Sachbuch ab. Für Wissenschaftler einschlägiger Disziplinen ist der stattliche Band eine unentbehrliche wissenschaftshistorische Fundgrube aufgrund der erstmals editierten Manuskripte, Notizen und Briefe und der exzellenten Kommentare durch hervorragende Experten. Für ein breites Lesepublikum bietet das Buch einen anspruchsvollen, lehrreichen und kurzweiligen Einstieg in Humboldts »Wissenschaft aus der Bewegung«, seinen dynamischen Arbeitsstil und die enge kommunikative Vernetzung sowie das über drei Forschergenerationen verfolgte, ständig aktualisierte Lebensprojekt.
Der wertig und hochprofessionell gestaltete Band mit beeindruckenden pflanzengeographischen Illustrationen und aufschlussreichen wiss. Arbeitsblättern zeigt, dass AvH ein äußerst dynamischer Denker war, aus dessen „Weltbewusstsein“ […] „etwas Neues und bis in unsere Tage Unabgegoltenes [entstand]: die Notwendigkeit, Natur und Kultur zusammenzudenken und mit einer Ästhetik der Natur zu vereinen“ (E. Otte, S. XIII). Aber auch das ist deutlich geworden, A. v. Humboldt war kein »Teufelskerl«, kein »Tausendsassa« oder heldenhafter wissenschaftlicher »Superstar«. Ohne Zweifel jedoch war er ein herausragender Wissenschaftler, der im ursprünglichen und heute etwas antiquiert klingenden Sinn bewandert, erfahren und belesen war, ein begüterter und hochgebildeter Privatgelehrter, der das Privileg nutzte, auf großen Forschungsexpeditionen neue Perspektiven zu gewinnen und im engagierten Kontakt mit zeitgenössischen Naturforschern durch kombinatorisches Denken eine innovative Sichtweise von der Natur zu entwickeln und zu vermitteln, die wir heute als Transdisziplinarität bezeichnen. –
Fazit: Besonders lesenswert! Und an die BBAW und die Projektverantwortlichen des Akademievorhabens: Bitte mehr in Zeiten, in denen die Sonne der Kultur tief steht! (wh) 🔴
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
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