Buch- und Bibliothekswissenschaften, Gedächtnisinstitutionen

Eine ehrgeizige Trias zu Gedächtnisinstitutionen

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 3/2018

Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven / Hrsg. Konrad Umlauf, Stefan Gradmann. Stuttgart, Weimar: Verl. J.B. Metzler, 2012. IX, 422 S. ISBN 978-3-476-02376-6. € 69.95

 

Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven / Hrsg. Marcel Lepper, Ulrich Raulff. Stuttgart, Weimar: Verl. J.B. Metzler, 2016. X, 294 S. ISBN 978-3-476-02099-4. € 69.95

 

Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven / Hrsg. Markus Walz. Stuttgart, Weimar: Verl. J.B. Metzler, 2016. VII, 417 S. ISBN 978-3-476-02357-9. € 69.95

I.

Aleida und Jan Assmann prägen Ende des vergangenen Jahrhunderts den Begriff kulturelles Gedächtnis. Sie unterscheiden zwischen dem Funktions- und Speichergedächtnis, „wobei im Erstgenannten Staaten oder Nationen ihre bestimmte Vergangenheitskonstruktion zurechtlegen, während das Speichergedächtnis zu einer unendlichen Informationsmenge ohne unmittelbare Gebrauchsfunktion anwächst“ (Museum S. 27). Diese Struktur stützen entsprechende Institutionen wie Archive, Bibliotheken, Museen und Gedenkstätten sowie Forschungsinstitute und Universitäten.

Fast zeitgleich entsteht der Begriff Memory Institutions, etwas eingeengt von Lorcan Dempsey im Rahmen der Langzeitarchivierung und Zugänglichmachung insbesondere digitaler Informationen verwendet (Museum S. 26). Der deutsche Begriff Gedächtnisinstitutionen wird als Sammelbegriff für Organisationen verwendet, die Wissen bewahren und vermitteln. Ihre Aufgabe ist es, „Informationsträger in geschriebener, gedruckter oder gegenständlicher Form zu sammeln, zu erschließen, zugänglich zu machen.“ (Bibliothek in einem eigenen Kapitel „Die Bibliothek als Gedächtnisinstitution“ S. 33) Dazu gehören derzeit Archive, Bibliotheken und Museen, in naher Zukunft wird es sicher weitere geben wie Clearinghäuser, Stätten und Denkmäler und Datenaggregationsdienste.

II.

Der renommierte und in der Edition von Handbüchern sehr erfahrene und erfolgreiche Verlag J.B. Metzler hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gedächtnisinstitutionen in drei Veröffentlichungen darzustellen. 2012 erscheint das Handbuch Bibliothek (fachbuchjournal 5(2013)1, S. 15). Obwohl für 2013 angekündigt, folgen erst 2016 das Handbuch Archiv und das Handbuch Museum. Die Herausgeber Marcel Lepper und Ulrich Raulff weisen darauf hin, dass das Archiv-Handbuch „aufgrund seiner fächerübergreifenden Perspektive eine lange Entstehungszeit zu verzeichnen hat“ (Archiv S. X). Das Projekt ist eine große verlegerische Leistung, wenn man bedenkt, dass die Diskussionen um Begriff und Inhalt der Gedächtnisinstitutionen erst neueren Datums sind. Für alle Bände konnten erstklassige Herausgeber und Autoren gewonnen werden, die eine hohe Qualität garantieren. Die Bände sind unabhängig voneinander nutzbar. Die Redundanz hält sich trotz der hohen Anzahl an Autoren (über 130) in Grenzen, ist aber bei künftigen Auflagen weiter reduzierbar. Alle Bände haben umfangreiche Anhänge zur Erschließung, insbesondere verschiedene Register.

Der Leserkreis ist breit gefächert. Die Bände dienen insbesondere der weiteren Diskussion um die Standortbestimmung der Gedächtnisinstitutionen, der Schärfung ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit und dem Nachwuchs als Bereicherung und Weiterführung des in den Lehrbüchern vermittelten Wissens.

III.

Die hier vorgelegte fundierte Bestandsaufnahme aller Facetten der drei Gedächtnisinstitutionen wird helfen, den zukünftigen Erfordernissen noch besser gerecht zu werden, zumal die Archive, Bibliotheken und Museen allesamt vor enormen Herausforderungen stehen (Bibliothek S. 387-397, Archiv S. 237-255, Museum S. 300-303). Die Herausgeber und Autoren lösen dies konziliant, indem sie Idee, Theorie und Metapher auf der einen Seite und Praxis, Gegenwartsnähe und zukünftige Aufgaben auf der anderen Seite gekonnt zusammenführen und die unerschöpfliche Vielfalt ihrer Einrichtungen darstellen. Das Ergebnis ist ein erstaunlicher Umfang und eine große Diversität an Informationen.

Nur selten ist bei allen drei Einrichtungen dies bisher in einem Band zusammengeführt worden. Ansatzweise ist dies zu finden bei den Veröffentlichungen „Kleine Theorie des Archivs“ von Dietmar Schenk und „Die Geburt des Archivs“ von Markus Friedrich, beide 2013 (s. fachbuchjournal 7(2015)1, S. 58-65, im Rahmen der Sammelrezension „Archive als Gedächtnisinstitutionen“), „Einführung in die Archivkunde“ von Eckhart G. Franz (8. Aufl. 2010) und „Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland“ von Plassmann et al. (2. Aufl. 2011). Für die Herausgeber und Autoren des Handbuches Bibliothek ist es von großem Vorteil, dass in den letzten beiden Jahrzehnten eine Vielzahl von Veröffentlichungen erscheinen, die davon Zeugnis ablegen, dass Bibliotheken leben und auch im 21. Jahrhundert einen wichtigen Platz in der Gesellschaft einnehmen, dass die Diskussion um den Tod der Bibliotheken „nicht nur ein alter Hut der Zukunftsforscher, sondern ein weithin beliebtes Thema in Feuilletons“ (Bibliothek S. 390) ist. Derartige Existenzängste haben Archive und Museen nicht zu befürchten.

IV.

Die Bände unterscheiden sich in Struktur und Inhalt von den bisher erschienenen Hand- und Lehrbüchern, die in erster Linie eine innere Aufgabe zu erfüllen haben. Sie behandeln, jeder für sich mit Blick auf den anderen, das ganze breite Spektrum der Gedächtnisinstitutionen in der Wissensgesellschaft und beleuchten Geschichte, Theorie und Praxis interdisziplinär mit den in den Geisteswissenschaften gebräuchlichen Methoden. So will das Handbuch Archiv „kein Archivführer sein, auch kein Handbuch der Archivkunde … kein Lehrbuch für die archivarischen und archivwissenschaftlichen Studien- und Ausbildungsgänge … Das Archiv als Forschungsinstitution und als Forschungsgegenstand soll stattdessen nach Idee und Institution, Theorie und Praxis, Begriff und Metapher perspektiviert werden.“ (Archiv S. VIII) Die Herausgeber legen Wert auf „die Pluralität archivarischer Ansätze, Tätigkeiten und Objektbezüge“, (Archiv S. IX) sie setzen „auf die konzentrierte Einbeziehung aus den historischen und philologischen Fächern, aus Kultur- und Rechtswissenschaften, Ethnologie und Anthropologie“ (Archiv S. VIII-IX).

Mit Blick auf die anderen Gedächtnisinstitutionen heißt es bei den Museen: „Wenn Museen das optisch-geistige Erfassen von Dingen voraussetzen, lässt sich als die spezielle Basisfunktion der Museen folgern, die Fähigkeit zu sehen einzuimpfen, während Archive und Bibliotheken die Schrift-Lesefähigkeit voraussetzen“ (Museum S. 30).

V.

Aleida (in Bibliothek S. 37 fälschlicherweise Adelaide) Assmann erweitert und präzisiert ihre Vorstellungen in einem Beitrag aus dem vergangenen Jahr unter dem Titel „Das kulturelle Gedächtnis zwischen materiellem Speicher und digitaler Diffusion“ (In: Die Zukunft des Sammelns an wissenschaftlichen Bibliotheken S. 1-18, vgl. auch die Rez. dieses Bandes in fachbuchjournal 10(2018)2, S. 63-64) unter besonderer Berücksichtigung der Bibliotheken. Sie stellt u.a. fest: „Medienschwellen haben wie alle Schwellen etwas Janushaftes: an ihnen stoßen alte und neue Entwicklungen zusammen und reiben sich … Durch die allgemeine Votalität des Internets ist das Grundprinzip von Kultur, nämlich die Herstellung von Nachhaltigkeit durch Bestandssicherung für die Möglichkeit eines späteren Rückgriffs, grundsätzlich gefährdet … Die Bibliotheken müssen sich den aktuellen Herausforderungen stellen und tun gut daran, die neuen technischen Möglichkeiten der Wissenschaftsorganisation und des Datenmanagements zu nutzen. Sie haben aber obendrein noch eine weitere Aufgabe, und das ist die Erhaltung der Bibliosphäre und Infosphäre, nicht als Enklave einer abgehängten Tradition, sondern als andauernde Quelle geistiger Bewegung und neuer Wissensproduktion.“ (S. 1, 17, 18) Und das gilt m.E. für alle Gedächtnisinstitutionen.

Respekt für diese Trias mit der Hoffnung auf Weiterführung! (ds)

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Biblio theksdirektor an der Berg akademie Freiberg und von 1989 bis 1990 General direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin.

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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