Buch- und Bibliothekswissenschaften

Ein eindringliches Plädoyer Bedrohte Bücher

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Richard Ovenden: Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens.Berlin: Suhrkamp Verl., 2021. 416 S., ISBN 978-3-518-43007-1, € 28,00.

Der Autor des Buches Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens ist der 25. Bodley`s Librarian der 1598 gegründeten Bodley`s Library in Oxford Richard Ovenden. Aufgrund seiner langjährigen bibliothekarischen Erfahrung und der Aufbereitung der neuesten Forschungsliteratur präsentiert er ein eindringliches Plädoyer für den Erhalt und die Erweiterung und Modernisierung von Bibliotheken, Archiven und Museen, denn diese Einrichtungen erwerben, speichern, bewahren und vermitteln Wissen, und deshalb verdienen sie große Aufmerksamkeit. Und sie verdienen Schutz, weil sie in ihrer langen Geschichte vielfach bedroht sind. Diese Bedrohungen – aber auch Auswege und Zukunftsideen – stehen im Mittelpunkt dieses Buches.

Der Verfasser „untersucht eine Reihe von historischen Schlüsselepisoden …, um verschiedene Motive für die Zerstörungen dieser Wissensspeicher sowie die Schutzmaßnahmen aufzuzeigen, die einschlägige Berufsgruppen dagegen entwickelt haben.“ (S. 19).

Das Kaleidoskop enthält u.a. die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria und die Vernichtung von Büchern durch die Reformation als Begleitung des Glaubenswechsels. Die größten Gefahren drohen in Kriegen. Während der Herrschaft des Nationalsozialismus fallen über 100 Millionen Bücher der willentlichen Zerstörung anheim. Hier anzusiedeln ist die zweifache Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwen 1914 und 1940 durch deutsche Truppen und die Zerstörung der National- und Universitätsbibliothek Sarajewo, um die kulturelle Identität der Bosnier auszulöschen. Nur selten finden sich Retter von Bibliotheksund Archivgut wie Kanan Makija, der die Unterlagen der Baath-Partei aus Bagdad in Sicherheit bringt, mit denen die Brutalität des irakischen Regimes dokumentiert werden kann. Oder die Weigerung von Max Brod, den letzten Wunsch seines Freundes Franz Kafka zu entsprechen und den Nachlass zu vernichten – so sind bedeutende Romane der Moderne erhalten.

Ein besonders beeindruckendes Kapitel ist mit „Die digitale Flut“ überschrieben. Hier stellt Ovenden pressante Fragen und sucht Antworten für das 21. Jahrhundert wie beispielsweise „Was bedeutet für die Bewahrung von Wissen, dass sich unser Alltag zunehmend in digitaler Form abspielt? Sollten Bibliotheken und Archive noch eine Rolle bei der Verwaltung und Weitergabe des digitalen Gedächtnisses von einer Generation in die nächste spielen, wie sie es seit den antiken Zivilisationen Mesopotamiens getan haben?“ (S. 280) „In hundert Jahren werden Historiker, Politologinnen, Klimaforscher und andere nach Antworten suchen, wie die Welt von 2120 so geworden ist, wie sie ist. Noch ist es nicht zu spät für Bibliotheken und Archive, diese digitalen Wissensbestände des frühen 21. Jahrhunderts unter ihre Kontrolle zu bringen, um dieses Wissen vor Angriffen zu bewahren und damit die Gesellschaft zu schützen.“ (S. 294) Großartig!

Aus den vielen Beispielen ergibt sich für den Verfasser ein Manifest, das die fünf unverzichtbaren Aufgaben der Bibliotheken und Archive enthält: Sie unterstützen die Bildung für die gesamte Gesellschaft – Sie stellen die große Bandbreite an Wissen und Ideen zur Verfügung – Sie sind die Stütze einer offenen Gesellschaft – Sie sind ein fester Bezugspunkt im Verifizieren, Zitieren und Reproduzieren, sie helfen mit bei der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit – Sie helfen, Gesellschaften in ihrer kulturellen und historischen Identität zu verwurzeln. Ovenden präsentiert eine kleine Kulturgeschichte der drei großen Gedächtnisinstitutionen Bibliothek, Archiv und Museum. Auf diesen Zusammenhang weist der Autor nicht explizit hin. Aleida und Jan Assmann prägen Ende des vergangenen Jahrhunderts den Begriff kulturelles Gedächtnis. Sie unterscheiden zwischen dem Funktions- und Speichergedächtnis. Diese Struktur stützen entsprechende Institutionen wie Archive, Bibliotheken, Museen und Gedenkstätten sowie Forschungsinstitute und Universitäten. Fast zeitgleich entsteht der Begriff Memory Institutions, der deutsche Begriff Gedächtnisinstitutionen wird als Sammelbegriff für Organisationen verwendet, die Wissen bewahren und vermitteln. Ihre Aufgabe ist es, „Informationsträger in geschriebener, gedruckter oder gegenständlicher Form zu sammeln, zu erschließen, zugänglich zu machen.“ (Handbuch Bibliothek, 2012. S. 33) Dazu gehören derzeit Archive, Bibliotheken und Museen, in naher Zukunft wird es sicher weitere geben wie Clearinghäuser, Stätten und Denkmäler und Datenaggregationsdienste. Aleida Assmann erweitert und präzisiert ihre Vorstellungen in einem Beitrag unter dem Titel „Das kulturelle Gedächtnis zwischen materiellem Speicher und digitaler Diffusion“ (Die Zukunft des Sammelns an wissenschaftlichen Bibliotheken. Wiesbaden, 2017, S. 1, 17, 18). Sie stellt u.a. fest: „Medienschwellen haben wie alle Schwellen etwas Janushaftes: an ihnen stoßen alte und neue Entwicklungen zusammen und reichen sich … Durch die allgemeine Votalität des Internets ist das Grundprinzip von Kultur, nämlich die Herstellung von Nachhaltigkeit durch Bestandssicherung für die Möglichkeit eines späteren Rückgriffs, grundsätzlich gefährdet … Die Bibliotheken müssen sich den aktuellen Herausforderungen stellen und tun gut daran, die neuen technischen Möglichkeiten der Wissenschaftsorganisation und des Datenmanagements zu nutzen. Sie haben aber obendrein noch eine weitere Aufgabe, und das ist die Erhaltung der Bibliosphäre in der Infosphäre, nicht als Enklave einer abgehängten Tradition, sondern als andauernde Quelle geistiger Bewegung und neuer Wissensproduktion.“

Bei aller Euphorie über dieses Buch darf nicht der Eindruck entstehen, dass diese Publikation von Ovenden die erste und einzige Darlegung zu diesem Thema ist. Dem ist nicht so. Da ist zuerst die Trias Handbuch Bibliothek (2012), Handbuch Archiv (2016) und Handbuch Museum (2016). Über bedrohte Bücher berichten u.a. sachkundig und ausführlich Matthew Battles „Die Welt der Bücher“(2003), Nicholson Baker Der Eckenknick (2005) mit dem Untertitel „Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen“, Michael Hagner Zur Sache des Buches (2. Aufl. 2015) mit einem Appell zur Balance von gedrucktem Buch und digitalen Medien sowie Michael Knoche Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft (2018). In der Bibliographie am Ende von Ovendens Veröffentlichung sind sie nicht erwähnt. Vergesst mir die Altvorderen nicht!

Trotzdem: Dieses Feuerwerk an Ideen verdient als Sachbuch zur Buch-, Archiv-, Bibliotheks- und Museumsgeschichte und zur Zukunft dieser Einrichtungen Aufmerksamkeit und Verbreitung. (ds)

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­bliotheksdirektor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin.

­dieter.schmidmaier@schmidma.com

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