Landeskunde

Chinesische Horizonte und die Blickrichtung des Westens

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2019

China und den Westen verbindet seit langem, dass sie alles technisch Machbare realisieren, wobei in China als nachholendem Akteur die Prozesse seit einigen Jahrzehnten beschleunigt erfolgen. Deswegen hat China inzwischen in vielem, etwa bei Künstlicher Intelligenz und bei der Elektromobilität „die Nase vorn“. Wenn nunmehr gehäuft China als abschreckendes Beispiel für totale soziale Kontrolle, als aggressive Militärmacht und insgesamt als Gegenpol zur „westlichen liberalen Werteordnung“ bezeichnet wird, so wird dabei dreierlei übersehen: dass es erstens noch gar nicht ausgemacht ist, ob China nicht doch vorrangig den Schutz seiner vitalen Interessen im Auge hat statt aggressive Militäreinsätze anzustreben, dass es zweitens noch nicht entschieden ist, ob nicht die gesammelten Daten in China letztlich eher dem Gemeinwohlinteresse dienen als dies in der westlichen Welt zu erwarten ist, und dass drittens in China wie in keiner anderen Region der Welt im letzten Jahrhundert westliche Werte umgesetzt wurden. In der Werteorientierung hat sich China nämlich seit dem Ende der Kaiserzeit weitgehend auf die westliche Werteordnung eingelassen, stellt dabei aber inzwischen den wirtschaftlichen Anschluss Chinas an das Wohlstandsniveau der Welt in den Vordergrund und will sich nicht ein erneutes Mal demütigen lassen. Demokratie und Wissenschaft waren die Zentralbegriffe seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der dann mit der Zurücksetzung Chinas gegenüber Japan bei den Versailler Verträgen eine weitere Demütigung durch den Westen brachte. Dass sich Russland, die östliche europäische Flügelmacht, unter Lenin bereits an Chinas Seite stellte, hatte dann erhebliche, „den Westen“ bis heute irritierende Konsequenzen. Inzwischen, hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ist China ein ernst zu nehmender eigenständiger Akteur geworden. Dabei bildet dessen Aufstieg weniger eine Bedrohung als eine Chance, die es nur zu erkennen und zu ergreifen gilt.

Wolf D. Hartmann/Wolfgang Maennig/Walter Stock: Im Bann des Drachens. Das westliche Ringen mit dem Aufstieg Chinas. Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine 2018. 192 Seiten, Hardcover. ISBN 9783-96251-023-7. 20,00 €

Die aktuelle Lage fängt am besten das von drei Autoren vorgelegte Frankfurter Allgemeine Buch Im Banne des Drachens ein, welches in fünf Kapiteln und in flüssiger Darstellung einen unverstellten Blick auf China wagt. Solche Sätze wie „China entwickelt sich inzwischen vom Klimakiller zum Klimaretter“ (S. 7) fordern den Leser bzw. die Leserin heraus, werden aber fachkundig untermauert. Entsprechend fordern die Autoren eine „andere Dimensi­on der Weltsicht“ (S. 11) und betonen die Bedeutung „der globalen Friedenssicherung und des Klimawandels sowie der sozialen Ungleichheit und Armutsbekämpfung“ (S. 17). Bezogen auf Chinas Rüstungsanstrengungen konstatieren die Autoren, „dass China seinen weiteren Aufstieg ohne aggressive militärische Ausrichtung fortsetzen will“ (S. 33). Das Buch schließt mit dem Appell: „In Zukunft gilt es, mehr Kompetenz im Hinblick auf den Wettbewerb mit Chi­na in Deutschland zu entwickeln.“ (S. 170). Dem kann man nur zustimmen, und die folgenden beiden Titel scheinen dem zu dienen.

 

Jiajin Huang: Essays on Money and Finance: Evidence for China [Volkswirtschaftliche Schriften (VWS), Band 571]. Berlin: Duncker & Humblot 2019. 22 Tab., 108 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-428-15690-0. 49,90 €

 

Tobias Zuber: Das Antidumpingrecht und die Nichtmarktwirtschaft der Volksrepublik China. Eine Rechtsanalyse aus europäischer Perspektive [Schriften zum Internationalen Wirtschaftsrecht, Band 4]. Hamburg: Verlag Dr. Kovaˇc 2017. 232 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-8300-9286-5. 88,90 €

Gerade in sich abzeichnenden Finanz- und Währungskri­sen bietet das Wissen um Geld und Finanzierung Einsich­ten in wirtschaftliche Prozesse wie kaum ein anderer Be­reich. Die Frankfurter Dissertation von Jiajin Huang legt dar, welche Rolle informelle Finanzierungsformen beim Aufbau der chinesischen Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts spielten. In einem zweiten Teil wird die Geldpolitik der Chinesischen Staatsbank dargelegt, während im dritten Teil erörtert wird, welchen Einfluss die Schwankungen der chinesischen Währung auf die Volks­wirtschaften umliegender Länder hatte – er war, wie der Autor feststellt, gering. – In einer anderen Dissertation beschäftigt sich Tobias Zuber mit einem Thema, welches bei der Forderung nach gerechten und gleichen Wettbewerbsbedingungen, dem „equal level playing field“ seit langem diskutiert wird. Im Ergebnis bestätigt Zuber, dass die Anwendung des Antidumpingrechts im Falle Chinas weiterhin in vielen Fällen gerechtfertigt sein dürfte. Aller­dings benennt er auch die Lücken des Antidumpingrechts und behandelt insbesondere die definitorischen Schwie­rigkeiten ausführlich. Dankenswerterweise geht der Ver­fasser in einem Epilog (S. 209-214) auf die Entwicklung nach Abschluss der Arbeit ein, so dass die gesamte Arbeit, besonders bezogen auf die Beziehungen EU – China, ei­nen guten Einblick in die gegenseitige Antidumpingpo­litik eröffnet und dabei zugleich die Frage der Etikettie­rung von Chinas Wirtschaft als „Nichtmarktwirtschaft“ diskutiert.

 

Piotr Adamek: A Good Son is Sad if He Hears the Name of His Father. The Tabooing of Names in China as a Way of Implementing Social Values. Sankt Augu ­ stin: Institut Monumenta Serica 2015. xvii+392 Seiten, Hardcover. ISBN 978-1-9096-6269-8.

 

Rüdiger Breuer, Heiner Roetz (Hg.): Worüber man nicht spricht. Tabus, Schweigen und Redeverbote in China [Jahrbuch der Deutschen Vereinigung für Chinastudien 12]. Wiesbaden: Harrassowitz 2018. 242 Seiten, 4 Abb., 1 Tabelle, Broschur. ISBN 978-3-447-10807-2. 50,00 €

 

Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgenerationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. Gießen: Psychosozial-Verlag 2019. 543 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-8379-2829-7.

Die unterschiedlichen kulturellen Horizontlinien finden ihren Ausdruck in dem, worüber man nicht spricht, in der Tabuisierung ebenso wie in Konventionen, in Zensur und Aufführungspraxis. Die Verschränkung von historischer Rekonstruktion und zeitgenössischer Deutung ist dabei hoch komplex. Auf Parallelen zwischen dem alten Juden­tum und der chinesischen Tradition weist Piotr Adamek in seiner grundlegenden Studie zur Tabuisierung von Na­men hin (S. 35). Die Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Normen und Werte ist mit der Tabupraxis aufs engste verknüpft, und nur vor diesem Hintergrund las­sen sich Tabuisierungen, Redeverbote und Zensur im Zuge gesellschaftlicher Transformationen verstehen. Daher ist die Sammlung einzelner aus einer Jahrestagung der Deut­ schen Vereinigung für Chinastudien hervorgegangener Detailstudien zum Thema Worüber man nicht spricht äu­ßerst erhellend. Darin stellt u.a. Christian Soffel die Funk­ tion von nicht-öffentlichen Familienchroniken dar, die ein Beispiel für die fragmentierten Öffentlichkeitssphären dar­ stellen, die bis heute die KP Chinas mit mehr oder weniger Erfolg zu überwinden trachtet, eine Anstrengung, gegen die sich Partikularität und Eigensinn aber immer wieder behaupten. Wie schwierig dabei die Gewinnung eines aufgeklärten Selbstverständnisses vor dem Hintergrunderlittener Katastrophen bleibt, zeigt der Umgang mit der Erinnerung an die Kulturrevolution (1966–1976) bzw. mit deren Verdrängung. Auf diese von Traumatisierungen ge­prägte Zeit wirft Sascha Klotzbücher eine „transgenerati­onale Sicht“ und beschreibt den Einstellungswandel und die emotionalen Konsequenzen. Die methodologischen Überlegungen in den beiden ersten Kapiteln des Buches, so funktional notwendig sie sind, wären besser noch in einem gesonderten Band aufgehoben gewesen, weil so die Chancen zur Stimulierung einer reflexiven Neuorien­tierung der Chinawissenschaften gesteigert worden wären. Dort hätte auch ein Blick auf andere Positionen zu trans­generationaler Reflexivität erfolgen können, etwa unter Einbeziehung solcher Positionen wie der Ulrike Draesners in ihrem Werk Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014), während im anderen Teil der Studie noch künstlerische Verarbeitungen der Kulturrevolution wie, um nur ein Bei­spiel zu nennen, der Film Coming Home von Zhang Yimou (2014) hätte einfließen können. Das zentrale Verdienst dieser Wiener Habilitationsschrift aber ist eine umfassend angelegte Beantwortung der Frage „nach der Bedeutung der in der Kulturrevolution angelegten Muster für die Konstitution […] der heutigen Volksrepublik” (S. 13), dar­ unter auch nach der dadurch bedingten „Deformation von Gemeinsinn“. Den „Einfluss der Kulturrevolution auf die heutige Gesellschaft“ zu bestimmen ist immer noch ein Desiderat der Forschung. Die eine Vielzahl von Interviews aus der Zeit zwischen 2006 und 2012 einbeziehende um­sichtige Studie von Sascha Klotzbücher ist daher als ein großer Sprung nach vorn zu bezeichnen.

 

Mayke Wagner, Patrick Wertmann, Pavel E. Tarasov, Claus Massier: Chinas große Mauern [= Mitmach- und Entdeckerbücher zur Ostasiatischen Archäologie Bd. 2] Mainz: Nünnerich-Asmus Verlag & Media GmbH 2018. 80 Seiten, Broschur. ISBN 978-396176-075-6. 12,00 €

 

Mareile Flitsch, Maike Powrodznik, Marina Wernsdörfer (Hg.): Begegnung – Spur – Karte. Das ethnografische Erbe von Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter. Zürich: Völkerkundemuseum der Universität 2018. 207 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-89790-534-4.

 

Matthias Messmer, Hsin-mei Chuang: China an seinen Grenzen. Erkundungen am Rande eines Weltreichs. Aus dem Englischen von Ingrid FischerSchreiber. Ditzingen: Reclam 2019. 319 S. mit 48 Abb. Und 13 Karten, Hardcover. ISBN 978-3-15-011201-4. 28,00 €

 

Roderich Ptak: China und Asiens maritime Achse im Mittelalter. Konzepte, Wahrnehmungen, offene Fragen [Reihe: Das mittelalterliche Jahrtausend 5]. Berlin: de Gruyter 2019. 61 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-11-062295-9. 14,95 €

So wichtig die innere Verfasstheit ist, so spielen im interna­tionalen und diplomatischen Diskurs doch die Randzonen Chinas seit jeher eine wichtige Rolle. Diese und überhaupt die Grenzen Chinas sind in den letzten Jahren wieder stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, vor allem weil die Grenzregionen im Nordwesten, Tibet und Xin­jiang, aber auch die Küsten im Südosten, Hongkong und Taiwan, sowie das Südchinesische Meer seit einiger Zeit auf der internationalen Tagesordnung stehen. Da ist es lohnend, sich die über mehr als zwanzigtausend Kilo­ meter hinziehenden langen Mauern Chinas in den über die letzten zwei Jahrtausende sich verändernden historischen Zusammenhängen zu vergegenwärtigen. Dabei fällt auf, dass diese Mauern in Chinas Norden mehr als fünfzehn Provinzen durchziehen und längst keine Grenzen, sondern Zeugnisse früherer unterschiedlicher Grenzziehungen darstellen. Anhand dieser Mauern stellt eine von Mayke Wagner und anderen erarbeitete reich illustrierte Publikation die Kulturgeschichte Nord- und Nordwestchinas seit den frühesten Zeugnissen chinesischer Kultur dar. Wer in die aktuelle Forschung selbst einsteigen will, dem sei ein Artikel von Yuri Pines empfohlen („The Earliest ‚Great Wall‘. The Long Wall of Qi Revisited“, in: Journal of the American Oriental Society 138.4 (2018) S. 743-762). – Wie Chinas Grenzregionen von einer ganz anderen Seite ausgeschritten und erkundet wurden, zeigt eine von ei­nem Begegnung – Spur – Karte betitelten Buch begleitete mehrteilige Ausstellung im Völkerkundemuseum der Uni­ versität Zürich, in der die Funde und Erkundungen zweier politisch verstrickter Alpinisten, Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter, ausgebreitet werden, die nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Kaschmir interniert waren und nach ihrer Flucht 1944 in Tibet Zuflucht fanden, wo sie dann seit dem Januar 1946 für fünf Jahre in Lhasa leb­ten und arbeiteten. Sie waren nicht die einzigen Tibet-Reisenden jener Zeit, doch prägten diese beiden wie keiner sonst das Tibet-Bild in Europa. Dieses Bild erscheint im Lichte der in den Vordergrund gerückten Objekte in einem neuen Licht. – China von seinen Grenzen aus hat auch das Autorenpaar Matthias Messmer und Hsin-mei Chuang erkundet. In der reich illustrierten und thematisch vielfälti­gen Reportage aus Orten an der Grenzlinie zwischen China und seinen Nachbarländern in allen Himmelsrichtungen (verzeichnet auf der Karte Seite 8-9), finden sich solch beruhigende Sätze wie: „China hat kein Interesse daran, zwischen möglichen Unruhen zu Hause und Konflikten an seinen Grenzen aufgerieben zu werden. Deshalb wird es zwar manchmal vor Konfrontation nicht zurückschrecken, aber trotzdem alles versuchen, um militärische Konflikte mit seinen Nachbarn zu vermeiden.“ (S. 23). Warum aber wahrscheinlich doch Chinas Aufstieg „weniger friedlich verlaufen wird, als es seine Führung verkündet und hofft“ (S. 14), wird einem bei der Lektüre des Buches ersichtlich, da „China und seine Nachbarn sich gegenseitig vor Her­ausforderungen stellen, die die Region auf unbestimmte Zeit dominieren werden“ (ebd). – Von Chinas Grenzen in die Ferne schweift der brillante, auf eine Berliner Akademierede zurückgehende Essay des Münchner Sinologen und Kenners der Maritimen Seidenstraße Roderich Ptak. Er beansprucht gerade nicht, die vielen noch unaufgelösten historischen Nebel und Ungewissheiten zu lichten, son­dern stellt eher erhellende Fragen, wie die eine: „Wie tief sitzt die Angst, mit Hilfe Braudel’scher Kategorien könnten ganze Segmente der chinesischen Küste aus dem Einheits­staat entfernt, gar als etwas Eigenständiges betrachtet oder, schlimmer noch, zugunsten Fremder […] nutzbar ge­macht werden?“ (S. 50).

 

Hans Holländer: Europas chinesische Träume. Die Erfindung Chinas in der europäischen Literatur. Hrsg. und mit einem Vorwort von Ernst Strouhal. Berlin: de Gruyter 2018. 447 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-11-061061-1. 49,95 €

 

Karl-Josef Kuschel: Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Laotse und Zen. Ostfildern: Patmos 2018. 713 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-8436-1042-1. 55,00 €

Denn Konzepte von außen haben das Bild von China ebenso geprägt wie die in China selbst geprägten Begrif­fe, und zwischen beiden Seiten hatte es Austausch und Beeinflussung gegeben. Inzwischen ist daraus erneut ein Deutungsstreit hervorgegangen. Den daraus resultieren­ den Konflikten wird man nicht ausweichen können. Doch ein mehrschichtiger Blick und vor allem eine gelassene angstfreie Haltung verschafft man sich am besten dadurch, indem man bisherige geistige Vermessungen rekon­struiert und kennt, zumal die außerhalb Chinas ebenso wie die in China selbst entstandenen Weltordnungsmuster in der Vergangenheit wirkmächtig waren und dies vielleicht auch in Zukunft sein werden. Auf welche Seite man sich auch schlägt, man wird gut beraten sein, sich dessen zu vergewissern, in welche Tradition man sich begibt. Hier­ zu hilfreich sind zwei soeben erschienene Bücher. Eines ist die postum herausgegebene letzte Arbeit des Aache­ner Kunsthistorikers Hans Holländer (1932–2017) über Europas chinesische Träume, den Berichte von Leerstellen wie die Erzählung von dem in seinem eigenen Bild verschwindenden Maler Wu Daozi dazu geführt hatten, detektivisch dem Beziehungsgeflecht zwischen China und Europa nachzugehen. Dies tut er in drei Teilen, sich zuerst China und seinen Höhlen und Tuschespielen, so­ dann Europa und seinen Chinoiserien und schließlich den Chinaerfindungen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts zuwendend. Letztgenanntes Thema vertieft Karl-Josef Kuschel in seinem Buch Im Fluss der Dinge, in dem er Hermann Hesses und Bertolt Brechts Wendung nach Osten verfolgt und dabei nachzeichnet, wie sie ihren Eigensinn behielten und natürlich abhängig blieben von den Blicken der „Mittler“, aber auch, wie sie nach eher enttäuschenden Reisen nach Ostasien, wie im Falle Hesses, dann das Fremde lieber im Eigenen suchten. So erhellt Kuschel die Kontexte und nimmt den Leser mit auf eine Reise der Sinnsuche und Bewusstseinserweiterung.

 

Li Xuetao: Die Übertragung buddhistischer Sˉatras ins Chinesische. Theorie und Praxis am Beispiel von Zanning (919-1001). Gossenberg: Ostasien Verlag 2019. IX+406 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-946114-44-4. 58,00 €

Um dem Labyrinth und Verblendungen zu entkommen, haben die Gebildeteren in China seit jeher ihre eigenen Traditionen hinterfragt. An solcher Hinterfragung beteiligt sich auch die Sinologie, ursprünglich die Wissenschaft der europäischen Beschäftigung mit China. Auch wenn von chinesischer Seite eine gewisse Reserviertheit gegenüber solchem Blick von außen demonstriert wird, so verbindet doch die historisch-kritische Beschäftigung die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr, als sie ihre kulturelle oder nationale Herkunft trennt. Als ein Beispiel sei hier nur die Bonner Dissertation des Pekinger Professors Li Xuetao von der dortigen Fremdsprachenuniversität (BFSU) angeführt. Ausgehend von der inzwischen international verstärkt ins Blickfeld gerückten engen Austauschbezie­hung zwischen den chinesischen und den verschiedenen buddhistischen Traditionen untersucht Li die Überset­zungstheorie des großen Historikers und Vinaya-Experten Zanning (919–1001) und bewertet sie im Lichte moderner linguistischer Theorien, namentlich jener von Eugene Ni­ da (1914–2011). Damit gibt er zugleich einen Einblick in die Übersetzungspraxis und die Verständigung zur Frage der Übersetzbarkeit überhaupt, wie sie im 20. Jahrhundert ganz prononciert Walter Benjamin im Rahmen seiner Bau­delaire-Übersetzung in dem Die Aufgabe des Übersetzers betitelten Vorwort (1923) formuliert hat.

 

Wei Ling: Der Traum der roten Kammer. Die erzählerische Komplexität eines chinesischen Meisterwerks. Wiesbaden: Harrassowitz 2019 [Lun Wen. Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China 23]. XVI, 416 Seiten, 13 Abb., 14 Grafiken, 10 Tabellen. Broschur. ISBN 978-3-447-11155-3. 78,00 €

Nicht Fragen der Übersetzung, sondern textimmanenten und intertextuellen Beziehungen ist die Aufklärungsbemü­hung Wei Lings zu dem großen literarischen Meisterwerk der chinesischen Literatur, dem Honglou meng („Traum der Roten Kammer“) gewidmet. Dieser in vorzüglichen Über­ setzungen vorliegende Roman ist immer wieder kommen­tiert worden, wobei es für die chinesische Tradierung von Texten von zentraler Bedeutung ist, dass dort Kommentare stets im Zusammenhang des Kommentierten erscheinen, so dass eine Lösung des Kommentars vom Text weniger leicht möglich ist als in der abendländischen Tradition, wo Kommentare leicht zu Werken eigenen Rechts zu mutie­ren neigen. Diese (S. 69) wie viele andere Beobachtungen trägt die umfangreiche Analyse der Struktur und Erzähl­technik des Romans in dieser Hamburger Dissertation vor, wobei sich der Autor ausdrücklich auf Anregungen aus der (germanistischen) Erzählforschung bezieht und zu dem Ergebnis gelangt, dass „eine allegorische Lesart“ wegen der Autor sowie Titel einschließenden Fiktionalität zwin­gend geboten ist. Dass er in seiner Danksagung betont, dass ihm durch den Weg nach Deutschland sein „Wunsch nach freiem Denken erfüllt wurde“, verdient besonderer Erwähnung!

 

Shen Fu: Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben. Aus dem Chinesischen und mit einem Kommentar von Richard von Schirach. Originaltitel: 浮生六記 (Chinesisch). Berlin: Matthes und Seitz 2019. 208 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-95757-690-3. 22,00 €

 

Thomas O. Höllmann (Hrsg. u. Übers.): Unzertrennlich, sorglos und verrückt. Chinesische Gedichte über die Freundschaft. Chinesische/Deutsch. Göttingen: Wallstein 2019. 160 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-8353-3589-9.

 

Kai Marchal: Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens. Berlin: Matthes & Seitz 2019. 349 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-95757-702-3. 28,00 €

Statt wissenschaftlicher Analysen versprechen einen an­ scheinend unmittelbaren Zugang zur Seele Chinas Übersetzungen von dort häufig gelesenen Werken. Dazu ge­hören Shen Fus Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben, eine als autobiografischer Bericht gefasste Erzählung, die Richard von Schirach in neuer Übersetzung und angemessener Kommentierung vorgelegt hat. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte, in der viele Tabus des traditionellen China gebrochen werden, weswegen dieser Text seit seinem ersten Erscheinen Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder nachgedruckt und zur Vorlage von Bühnen­stücken sowie für Filme wurde. Die Bildungswelt des tra­ditionellen China, die in diesem Bericht als Folie dient, ist aufs engste mit der Gattung der Lyrik verknüpft, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Europa verehrt wird und Anhänger hat. Eine überzeugende Auswahl von Gedichten zum Thema Freundschaft, der in der chinesischen Kultur einzigen nicht hierarchischen der Fünf Bezie­hungen, hat Thomas O. Höllmann vorgelegt, zweisprachig, was für jeden, der sich einmal auf die chinesische Schrift eingelassen hat, einen besonderen Reiz hat. – Einen ganz anderen Zugang sucht Kai Marchal mit seinem Buch Auf den Spuren des chinesischen Denkens, dessen Haupttitel sich an die Übersetzung des Titels Wumen guan („Pass ohne Tor“) in der Fassung Walter Liebenthals (Zutritt nur durch die Wand, 1977) anlehnt. Marchal nimmt den Leser mit auf eine lange Reise mit mehreren Stationen durch die chinesische Welt, dabei aber auch japanische Eindrücke einbeziehend, wie solche während seiner Beschäftigung in einer Sprachenschule in Osaka gewonnene, etwa zu dem Freitod Yukio Mishimas. Immer wieder werden Reflexionen und Erwägungen eingestreut, und so bewegt sich Mar­chal, ausgehend von den Kommentierungen des Philosophen und Kommentators Wang Bi, zwischen vielen Polen chinesischen Denkens und Bezugnahmen auf westliche Denktraditionen.

 

Steffen Rimner: Opium‘s Long Shadow. From Asian Revolt to Global Drug Control. Cambridge, Mass.: Harvard U.P. 2018. x+373 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 9780674976306. 31,95 GBP

Ganz andere Horizontlinien beschreibt die Studie von Steffen Rimner über den „langen Schatten“ des Opiums, in der er entlang der Geschichte des Handels mit dieser Droge und der Widerstände gegen ihren Gebrauch die Entstehung internationaler Netzwerke und Initiativen schildert, die schließlich mit der Gründung des Völkerbundes 1920 in einer internationalen Vereinbarung zur Ächtung des Opiumhandels mündeten. Diese Geschichte ist zugleich ein Lehrstück wie selbst unter ungünstigen Bedingungen und trotz großer Hindernisse Protestbewegungen zur Revision alter Normsysteme führen können. „Anti-drug opposition challenged an imperial practice rather than empires or im­ perialism per se.“ (S. 283). Die Folgen sind bekannt. Es ist dies ein Beispiel für die Durchsetzung von Regeln auf internationaler Ebene trotz des Fortbestehens von Weltmächten, die auch als „Number Ones“ von ihrer Reputa­tion abhängig sind. So schließt das Buch mit dem Hoff­nung weckenden Satz (S. 284): „Short of independence and open revolt against imperialist institutions, there were causes worth fighting for, some of which – as this book hoped to show – introduced new norms of conduct into international society before empires had come to an end.”

 

Eckhardt Fuchs, Tokushi Kasahara, Sven Saaler (Hrsg.): A New Modern History of East Asia. Göttingen: V&R unipress, 2018, 840 Seiten, 139 Abbildungen in 2 Bänden. ISBN 978-3-8471-0708-8.

Dabei werden in Zukunft neue Werthorizonte zunehmend außerhalb Europas und gelegentlich auch ohne die USA ausgehandelt werden, weil sich in Ostasien selbst ein neuer politischer Aggregatzustand herausbildet, der über China hinausweist und neue Formen der Koopera­tion möglich erscheinen lässt. Dies veranschaulicht die auf Anregung von Experten des Braunschweiger Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung zustande gekommene Kooperation zwischen Fachleuten aus China, Japan und Korea zur Erstellung einer gemein­samen „Neuen Geschichte des modernen Ostasien“. Während der erste Teilband dieses unsere Aufmerksamkeit verdienenden Projektes die historischen Phasen von der Destabilisierung der alten Ordnungen in Ostasien durch den Kolonialismus des Westens schildert, befasst sich der zweite Teilband in transnationaler Perspektive mit den Themen: Verfassung, Urbanisierung, Eisenbahnbau, Mig­ration, Geschlechterrolle und Familie, Erziehung, Medien, Krieg sowie Aufbruch in die Zukunft. Die Verschiebung des Gewichts der Weltwirtschaft nach Ostasien führt zu Horizontverschiebungen und neuen Fragestellungen. Die neuere Geschichte Ostasiens bildet den erhellenden Rah­men zum besseren Verständnis der einzelnen Länder die­ser Region, einschließlich ihrer wechselseitigen Beziehun­gen, die durch Kooperationen gekennzeichnet sind, aber auch durch vielfältige, zum Teil aus der Vergangenheit herrührende Spannungen. (hsg) ˜

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er ist Professor Emeritus für Ostasiatische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Göttingen. Seit 2016 ist er als Seniorprofessor Gründungsdirektor des China Centrum der Universität Tübingen und Präsident des ErichPaulun-Instituts. Zuletzt erschien von ihm im Verlag Matthes & Seitz Berlin „Chinas leere Mitte. Die Identität Chinas und die globale Moderne“ sowie in neuen Auflagen „Das alte China“ (2018) und „Der Buddhismus“ (2019), beide in der Reihe C.H.Beck Wissen.

Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de

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