Neben vielem anderen ist die Moderne überall gekennzeichnet durch Hybridität, für die es vielleicht kein treffenderes Beispiel gibt als den deutschen Begriff des „Kunstliedes“, welcher wie der Ausdruck „Kindergarten“ seinen Weg in andere Sprachen fand. Nach China gelangte das Kunstlied in den 1920er Jahren: Xiao Youmei, einer der Mitbegründer des Shanghai Conservatory of Music, brachte das Wort aus seinem Promotionsstudium in Leipzig mit. Dem chinesischen Kunstlied widmen der Bariton Liao Changyong und der herausragende, international tätige Liedbegleiter Hartmut Höll nun nach einhundertjähriger Geschichte dieser Kunstform in China einen Band mit Liedern, die wir zum Anlass nehmen, einige Anmerkungen zu den Kompositionen mit Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Tonalität im Chinesischen zu verbinden.
Liao Changyong und Hartmut Höll, Hrsg., Three Wishes from a Rose. 16 ausgewählte chinesische Kunstlieder. Urtext. Edition Breitkopf 9398. Wiesbaden: Breitkopf&Härtel 2021. ISMN 979-0-004-18872-9. € 29,90.
Für die sehr sorgfältig ins Werk gesetzte Edition wurden 16 Kunstlieder von zehn Komponisten ausgewählt, die zwischen 1893 und 1954 geboren wurden. Somit wird ein Einblick in die Ausprägung dieser Kunstform in China von ihren Anfängen bis in die Gegenwart gegeben. Zugleich steht die Edition in einer in China seit Menschengedenken gepflegten Tradition, Texte zu Melodien zu verfassen sowie Melodien zu Texten zu ersinnen. Was die Lyrik angeht, greifen die Lieder auf Gedichte aus der Zeit zwischen 8. Jahrhundert (Tang Dynastie) und 20. Jahrhundert zurück. Die lange Tradition der chinesischen Poesie und westlich geprägte Kompositionstechniken verbinden sich zu expressiven Tönen über Abschied, Klage, Trauer, Sehnsucht, Jahreszeiten, Mondlicht, Wein, die Weite von (Fluss-)Landschaften. Es sind Themen auch des europäischen Kunstliedes – und dieses Gemeinsame beflügelt den chinesischeuropäischen Kulturaustausch, auf den diese Edition zielt. Denn zum einen, so Hartmut Höll im Vorwort, machen die chinesischen Kunstlieder deutlich, welch „ungeheures Interesse die chinesische Bevölkerung an westlicher Kultur hat“, zum anderen erhofft sich Liao Changyong, wie er in seinem Vorwort schreibt, „that more artists will be able to sing Chinese art songs on the international stage in the future“. Um das zu ermöglichen, enthält die Edition sowohl den chinesischen Text wie eine Übertragung der Aussprache in den internationalen IPA-Standard. Auf dieser Grundlage kann sich auch der Sänger, die Sängerin, die nicht des Chinesischen mächtig sind, den Liedvortrag in der fremden Sprache erarbeiten. Die vertonten Gedichte sind im Anhang zunächst auf Chinesisch mit einer englischen Übersetzung abgedruckt und mit Erläuterungen versehen (S. 60-65), dann auf Chinesisch mit einer IPA-Übertragung (S. 66-75). Dass dies so großen Raum einnimmt, zeigt die Ernsthaftigkeit um den Kulturaustausch zweier Lied-Künstler wie Liao Changyong und Hartmut Höll, denn Lieder kann man nur dann exzellent gestalten, wenn man versteht, worum es geht (englische Übersetzung) und wie man die Lyrik ausspricht (IPA). Wieviel Mühe haben sich chinesische Sänger gegeben, dies zu lernen, um deutsche Kunstlieder singen zu können. Was chinesische Kunstlieder angeht, haben wir im Westen nachzuholen. Die Edition macht dafür ein Angebot, verbunden mit der Anforderung, sich der Mühe um die für uns fremde Sprache zu unterziehen. Max Webers vor mehr als hundert Jahren geführte Rede vom „Gehör der Chinesen“ verweist auf die Notwendigkeit eines Abstandnehmens, vom vermeintlich Eigenen ebenso wie vom vermeintlich Fremden. Denn im Grunde sind die Musik in China wie im Westen immer schon Hybridformen gewesen und haben den ausschließlichen Bezug auf das Eigene längst verlassen, wenn es diesen überhaupt je gegeben hat. Diese Feststellung ist umso wichtiger in einer Zeit, in der neue Mauern gebaut und Abgrenzungen befestigt werden, statt Dissonanz als Normalzustand zu begreifen und damit zu leben und umzugehen. (Siehe auch Xuan Fang, Hrsg., Polyphonie und Hybridität. Musikaustausch zwischen China und Europa. Berlin: Metzler 2022.)
Dorothea Wippermann, Andreas Guder, JIN Meiling, WANG Jingling (Hrsg.), Hànyǔ Pīnyīn in der Didaktik der chinesischen Sprache und Zeichenschrift. München: iudicium 2022, 277 S., Kartoniert. ISBN 978-3-86205-066-6. € 27,00.
Als eine Brücke zu einem leichteren Erlernen der chinesischen Sprache und ihrer Verschriftlichung gilt inzwischen zu Recht die offizielle als Hànyǔ Pīnyīn ın bezeichnete Laut umschrift für das Chinesische. Bereits 1977 von der UNO anerkannt, wurde sie 1982 „als einziger internationaler Transkriptionsstandard des Chinesischen ausgewiesen (ISO 7098)“, so Peter Kupfer in seinem Beitrag im vorliegenden Band (S. 47). Inzwischen kommt dieser Umschrift „eine weit höhere Bedeutung zu als dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA)“, wie Kathleen Wittek (S. 144) hervorhebt. Hànyǔ Pīnyīn ist auch in China für den Chinesisch-Unterricht eine große Hilfe. Es gibt Sprachdidaktiker, welche die Kenntnisse des Chinesischen allein mit Hilfe dieser Lautschrift und ohne Verwendung der Schriftzeichen vermitteln, und manche von Ihnen favorisieren weiterhin eine Alphabetisierung des Chinesischen. Inzwischen aber hat sich das Festhalten an der Verwendung der hier als „Sinographeme“ bezeichneten Schriftzeichen durchgesetzt. Da ist es zu begrüßen, wenn Peter Kupfer, der von einer Überschätzung der chinesischen Schrift als „Symbol der ‚fünftausendjährigen‘ historischen Kontinuität und Identität“ (S. 47) spricht, vor der Wiedererrichtung einer „Großen Schriftzeichenmauer“ warnt. Kupfer plädiert im Anschluss an John deFrancis für die Digrafie (S. 63), also die gleichzeitige Verwendung von Buchstabenschrift (Hànyǔ Pīnyīn) und Sinographemen, und er warnt: China drohe sich wieder hinter seine Große Schriftzeichenmauer zurückzuziehen „und sich pragmatischen Lösungen bezüglich der schriftlichen Kommunikation mit dem Rest der Welt und der Erlernbarkeit der chinesischen Sprache für Angehörige anderer Kulturen […] zu verweigern.“ (ebd.) „Paradoxerweise“, fährt Peter Kupfer fort, sei „eine irrationale Xenophobie vor den ’westlichen‘ oder ’englischen‘ Buchstaben in der chinesischen Öffentlichkeit und vor allem unter den Kulturtraditionalisten feststellbar.“ Dabei ermöglichen die neuen digitalen Werkzeuge wie Smartphone und Tablet über Diktat und/oder manuelle Umschrifteingabe ein flottes Navigieren in gesprochenem ebenso wie in mit Schriftzeichen geschriebenem Chinesisch.
Thomas O. Höllmann, Erwartung & Melancholie. Sechzig Gedichte aus dem alten China. Schupfart: Engeler Verlage, 2022, 150 S., Broschiert. ISBN 978-3-907369-12-8. € 14,00.
Erst der umsichtige Umgang mit den geistigen Potentialen der Kultur eröffnet Freiheit und neue Horizonte, bei der subjektives Fühlen und Wollen sich mit der Welt verbinden können. Nicht nur im Lied, sondern auch in der Lektüre von Gedichten weiten sich solche Horizonte. In der vorliegenden Neuübertragung von sechzig Gedichten aus dem alten China, die Thomas O. Höllmann vorgelegt hat, steht der chinesische Text neben der Übersetzung. Es gibt bereits Apps, die einem den Text auf Chinesisch vorlesen. Doch trotz des Fortschritts in KI-Anwendungen bedarf es der informierten und sprachmächtigen Übersetzung durch den/ die KennerIn. So kann die neue Gedichtsammlung Thomas Höllmanns ein Begleiter für viele Lebenslagen werden. 🔴
Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann (srb) lehrt seit 2004 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, wo sie 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender gründete. Seit 2010 ist sie Präsidentin der Hochschule.
praesidentin@hmtm-hannover.de
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen.
Helwig.Schmidt-Glintzer@zentr.uni-goettingen.de