Die Polykrisen unserer Zeit und die nicht länger zu ignorierenden globalen Wandlungen und Herausforderungen sind auch Herausforderungen der freiheitlichen Verfassungsordnung des Grundgesetzes als einer sich wandelnden und in das globale und europäische Umfeld gestellten normativen Ordnung. Ungeachtet dieser Dynamisierungsfaktoren zeigt sich auch im Wandel die stete Sehnsucht nach Ordnung und Struktur, der auch die hier angezeigten Novitäten in besonderer Weise verpflichtet sind.
Kischel, Uwe / Hube, Hanno (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Neuausgabe ab 2023 in 12 Bänden, Band 1: Grundlagen, Wandel und Herausforderungen, Heidelberg 2023, C. F. Müller, 1046 S., ISBN 978-3-8114-5968-7, € 250,00.
Die Enzyklopädie ist eine Form der Literatur und der Wissensordnung der Aufklärung. Ihre Hochzeit ist lange vergangen. Auch im Staats- und Verfassungsrecht prägen Ausdifferenzierung und Spezialisierung den Phänotyp der Rechtswissenschaft. Und doch gibt es aufklärerische Findlinge mit dem Anspruch, das Rechtsgebiet und das „Fach“ in einer geordneten Handbuchstruktur mit einem umfassenden Abbildungsanspruch zu versammeln. Gerade der C.F. Müller Verlag hat sich um solche Projekte schon immer verdient gemacht. Das bis in die dritte Auflage von Paul Kirchhof und Josef Isensee herausgegebene Handbuch des Staatsrechts war so ein Projekt, das einen fast aus der Zeit gefallenen wissenschaftlichen Ordnungsanspruch mit durchaus traditionellem Ausgangspunkt verkörperte. Im bewundernswerten Jahreszyklus wurde in schöner Regelhaftigkeit das Staatsrecht vermessen und damit auch der Staat als basale Entität fast trotzig der Europäisierung und Globalisierung, der Entstehung neuer normativer Ordnungen gegenüber behauptet. Fast ein Jahrzehnt nach Abschluss der Edition markiert die Neuausgabe unter den Herausgebern Kube und Kischel nicht nur einen Generationswechsel in dieser Funktion, sondern auch eine stärkere Betonung der europäischen und internationalen Bezüge des Verfassungs- und Staatsrechts sowie der interdisziplinären Zugänge zum Staat und seinem Verfassungsrecht. Englischsprachige Zusammenfassungen der einzelnen Handbuchbeiträge können sicherlich die Sichtbarkeit des Projektes erhöhen, ohne die weitgehende nationale Schließung der Diskursräume mehr als kaschieren zu können. Die Herausgeber wagen sich an eigenständige und in-novative Zugänge. Statt der erwartbaren Ausbreitung allzu bekannter historischer Entwicklungen zum geltenden Verfassungsrecht, die noch den Auftakt der dritten Auflage bildeten, tritt der erste Band des Handbuches gleich in die aktuellen Diskursfelder ein. In einem ersten Teil widmet sich der Band dem Wandel der Staatlichkeit unter den Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung. Der zweite Abschnitt wendet den Blick nach Innen und rekonstruiert die basalen Strukturen des Staatsrechts als normativer Ordnung. Verfassungsdogmatik und Akteure der Verfassungsinterpretation kommen ebenso in den Blick wie die alte Rede vom Verfassungsrecht als Wertordnung. Der dritte Teil des ersten Bandes widmet sich Querschnittsthemen und gibt mit diesen eine übergeordnete Gliederungsstruktur weitgehend auf. Migration, Demographie, Ehe und Familie, Vielfalt und Einheit, Vertrauen, Sicherheit und Freiheit, Wettbewerb und Gemeinwohl, natürliche Lebensgrundlagen und Ressourcenverbrauch, Digitalisierung und Informationsgesellschaft, Gesundheitsschutz und Biotechnologie werden in dichten Beiträgen essayistisch entfaltet. Man mag einerseits die Entscheidung zum Abschied von einer traditionellen systematischen Struktur bedauern, andererseits aber macht der Band gerade mit seiner Technik der Ausklammerung deshalb Appetit auf mehr. Wie in einem Pilotfilm einer Serie finden sich die großen Themen des Verfassungsrechts angerissen. Der Leser jedenfalls wartet voller Spannung auf mehr – mag der Ordnungsanspruch auch kontrafaktisch sein. Die Themen und Motive sind gesetzt, die Ouvertüre ist gelungen.
Dreier, Grundgesetz-Kommentar, hrsg. v. BrosiusGersdorf, Frauke, 3 Bände mit Gesamtabnahmeverpflichtung, Band I: Präambel, Art. 1-19, 4. Aufl. 2023, Mohr Siebeck, Tübingen, 2039 S., ISBN: 978-3-16-158215-8, € 269,00.
Im Jahr 1996 hat mit dem Erscheinen der ersten Auflage des „Dreier“ eine neue Zeit der Grundgesetzkommentare begonnen. Eine klare Ordnungsstruktur der Kommentierung, die Betonung historischer und vergleichender Grundlagen sowie der Ausweis weniger ausgewählter Quellen und ausgesuchter Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeichneten den Dreier aus. Auch als Projekt einer Wissenschaftsgeneration mit einem klaren Profil hat der Dreier den Goldstandard der Grundgesetzkommentare markiert. Mit dem ersten Band der vierten Auflage beginnt für den Kommentar unter der Herausgeberschaft von Frauke Brosius-Gersdorf eine neue Zeit. In der Autorenschaft tritt eine neue Generation mit dem Kommentarprojekt an. Die Grundstrukturen der Kommentierungen der Grundrechte, die den ersten Band ausmachen, sind gleichgeblieben. Erfreulich ist die Beibehaltung der klaren Gliederungsstruktur von Entstehungsgeschichte, Vergleichung, Einzelerläuterung und systematischer Einbettung. In manchen
Kommentierungen zeigen sich auch textliche Kontinuitäten zur Vorauflage. Einige Kommentatoren haben leider die Bedeutung des Begriffs „Auswahl“ in den vorangestellten Literaturzusammenstellungen nicht verstanden, seitenlange Quellenangaben sind für Nutzerinnen und Nutzer des Kommentars ebenso entbehrlich, wie ungefilterte Ketten vermeintlicher Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Aber das sind Ausnahmen. Die Kommentierungen zeugen allesamt von der wissenschaftlichen Positionierung und dem Selbststand ihrer Verfasserinnen und Verfasser. Die Qualität ist durchweg hoch, die Meinungsfreude ist groß, die Rezeption der Rechtsprechung gelungen. Es verbietet sich, einige Kommentierungen herauszuheben, brillant sind viele. Besonders klar und stringent sind aber die Ausführungen zur Menschenwürde und zur Berufs- und Eigentumsfreiheit. Etwas kurz gekommen ist vielleicht die Versammlungsfreiheit, wenngleich in der Kürze die aktuellen Diskurse um das Grundrecht auch deutlich werden. Die Dynamik der verfassungsrechtlichen Leitbilder von Ehe und Familie wird sehr schön entfaltet. Das Register erleichtert die Arbeit mit dem Kommentar ebenso wie die Verschlagwortung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Reichweite des Kommentars wird seine Einbettung in ein Fachmodul der Datenbanken des Beck-Verlages sicher nochmals steigern. Eine Erfolgsgeschichte findet ihre glänzende Fortsetzung.
Pechstein, Matthias / Nowak, Carsten / Häde, Ulrich (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Band 1-4, 2. Aufl. 2023, Mohr Siebeck, Tübingen, 7301 S., ISBN 978-3-16-161479-8, € 829,00.
Die Europäische Union ist kein Verfassungsstaat. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages von Rom im Jahr 2004 hat die Lissabonner Reform der Union aber ganz unzweifelhaft ein Verfassungsäquivalent im funktionalen Zusammenspiel von Unionsvertrag, Arbeitsweisenvertrag und Grundrechtecharta. In funktionaler Perspektive ist der Frankfurter Kommentar zum unionalen Primärrechts nichts anderes als ein Verfassungskommentar. Nicht nur sein Umfang, sondern auch sein Inhalt weisen ihn als Großkommentar aus. Die zweite Auflage bringt das Werk nach der Premiere im Jahr 2017 wieder auf den aktuellen Stand der Primärrechtsentwicklung und vor allem auch der dieses interpretierenden Rechtsprechung. Der Aktualisierungsbedarf war erheblich: Nicht nur Brexit und Corona forderten die Union, sondern vor allem auch die Energiekrise und die Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit in östlichen Mitgliedstaaten. Die hier von der EuGH-Rechtsprechung seit 2018 gegebenen Antworten im Kontext der Rechtsstaatlichkeit und der basalen Unionswerte des Art. 2 EUV formieren einen Verfassungskern der Union, den der Kommentar aufgegriffen hat. Neu auszutarieren und zu bewerten waren auch die Verschiebungen in der Tektonik des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds vor dem Hintergrundrauschen der sich mit den Auseinandersetzungen um das Anleihekaufprogramm der EZB verschärfenden Konfliktlage zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH. Der Kommentar wird diesem Anpassungsbedarf in jeder Weise gerecht. Der unveränderte und damit aus ausgewiesenen Kennern des Fachs bestehende Autorenkreis hat sorgfältig gearbeitet. Der erste Band entfaltet mit dem Unionsvertrag und der Grundrechtecharta gekonnt das Fundament des Unionsrechts, während die übrigen Bände im Nachvollzug des AEUV die Architektur des europäischen Hauses ausziselieren. Qualität zeigt sich in der formalen Struktur des Kommentars. Hier ist eine Art Handschrift des Verlages unverkennbar. Ausgewähltes Schrifttum, wichtige Leitentscheidungen und – anders als im Verfassungsrecht – eine Übersicht des konkretisierenden Sekundärrechts leiten alle Kommentierungen ein. Diese sind zwar nicht durchweg identisch gegliedert, sie lassen aber mit Entstehungsgeschichte- und Entwicklung, Systematik und Teleologie und einer anschließenden Kommentierung der Normtatbestände eine klare Grundstruktur erkennen. Diese erleichtert die Arbeit mit dem Kommentar ungemein. Inhaltlich bietet der Kommentar eine gut lesbare, systematische und verlässliche Erläuterung der primärrechtlichen Kernbestimmungen des institutionellen und materiellen Unionsrechts, die sich in intensiver Weise zugleich mit dem einschlägigen europarechtlichen Schrifttum sowie mit der Rechtsprechung insbesondere des Gerichtshofs der Europäischen Union auseinandersetzt. Wer hier die Probe machen will, der lese nur einmal die Kommentierung zum unionalen Finanzrecht, die das komplexe Normmaterial in einem Guss präsentieren. Im Zuschnitt auf Vertragsrecht und Charta kann der Kommentar seine Stärken ausspielen. Wer eine ausgereifte und ausgewogene Kommentierung des Unionsrechts sucht, muss nicht mehr weitersuchen. Die Primärrechtstrias der unionalen Verfassungsarchitektur hat ihren Verfassungskommentar gefunden.
Bundesverfassungsgericht / Graßhof, Karin (Hrsg.), Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Loseblatt, Grundwerk mit 222. Ergänzungslieferung, Stand: Oktober 2023, C. F. Müller, Heidelberg, 5 Ordner, 9162 S., ISBN 9783-8114-3977-1, Grundwerk ohne Fortsetzung € 480,00, Grundwerk mit Fortsetzung € 240,00.
Die grundgesetzliche Verfassungsordnung empfängt wesentliche Impulse durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diesen Befund mag man als Weg in den Jurisdiktionsstaat und als Tendenz eines Bundesverfassungsgerichtspositivismus kritisieren, in Abrede stellen kann man ihn nicht. Der überschaubare Textkörper der Verfassung, von der Präambel bis Art. 146 GG, ist längst von mehrfachen Schichten ausformender, konkretisierender und letztlich fast unüberschaubarerer Verfassungsrechtsprechung überzogen. Wer nicht nur in der Verfassungsrechtswissenschaft, sondern vor allem in der Verfassungsrechtspraxis reüssieren und nicht zuletzt vor Gericht überzeugen will, braucht verlässliche Kenntnis der Verfassungsrechtsprechung. In dem Nachschlagewerk der Rechtsprechung wird sie ihm erschlossen. In der Ordnung der Grundgesetzartikel und darin in einem thematischen Zugriff, der in systematischen Inhaltsübersichten jeweils erschlossen wird, werden Kernaussagen der einschlägigen Judikate des Bundesverfassungsgerichts in Auszügen und unter Ausweis der jeweiligen Fundstellen wiedergegeben. Präjudizienketten werden in der Alltagspraxis des Verfassungsrechts so handhabbar. Entkleidet vom Kontext der gerichtlichen Entscheidung schält sich der dogmatische Kern der Rechtsprechung heraus. Es ist der Redaktion hoch anzurechnen, dass das Werk im Rhythmus des Erscheinens der jeweiligen Rechtsprechungsbände in der sog. amtlichen Sammlung (BVerfGE) deren Entscheidungen zeitnah in Ergänzungslieferungen einpflegt. Das Register ist tief und verlässlich. Das Nachschlagewerk dürfte im Übrigen durch die Einbindung in das Datenbankangebot bei juris eine hohe Reichweite haben. Es hat keine Konkurrenz, ist in seiner Struktur einzigartig und für die Verfassungsrechtspraxis schlicht unverzichtbar. Wer vor einer Regalwand mit den mittlerweile 163 Bänden der Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts steht, bekommt einen Eindruck, welchen Beitrag Verfassungsrechtsprechung zur Formation der Verfassungsordnung leisten kann. Wer vor der beeindruckenden Fülle der Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts steht, der kann sich aber auch beruhigt dem Nachschlagewerk zuwenden: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst nicht 163 Bände, sondern fünf Ordner. (md)