Volker Matthies, Im Schatten der Entdecker. Indigene Begleiter europäischer Forschungsreisender, Ch. Links Verlag, Berlin, 2018, Klappenbroschur, 70 Abb., 1 Karte, 248 S., ISBN 978-3-86153-989-6, € 28,00
Sein halbes Leben lang trug Volker Matthies (Jg. 1945) den Plan mit sich herum, die Rolle indigener Begleiter europäischer Entdecker und Forschungsreisender bei der Eroberung und Vermessung der Welt in den Mittelpunkt einer Literaturstudie zu stellen. Erst im Ruhestand ist es dem Hamburger Professor für politische Wissenschaft gelungen, dieses Forschungsdesiderat zu erfüllen. Entstanden ist eine beeindruckende Korrektur der durch Kulturchauvinismus geprägten eurozentrischen Perspektive auf die Geschichte der Neuzeit, eine lesenswerte Hommage auf die indigenen Expeditionsbegleiter „als eigenständige und eigenwillige Persönlichkeiten und handlungskompetente Individuen“ (S. 23). Anhand des akribisch zusammengetragenen Quellenmaterials plädiert der früher am Deutschen Übersee-Institut (heute GIGA) sowie am Institut für Politikwissenschaft der Univ. Hamburg tätige Autor „[f]ür eine Entkolonisierung und Entheroisierung der europäischen Entdeckungsgeschichte“ (S. 9). Das Titelbild illustriert die himmelschreiend ungerechte Rollenverteilung zwischen angeblich wagemutigen Entdeckern und inferioren Indigenen. Es zeigt den Erforscher der Maya-Stätten, den Franzosen Desiré Charnay, der in strömendem Tropenregen in einem Sesselgestell, das an Kopftragegurten auf dem Rücken eines Indios hängt, die Anden überquert. Weniger Augenhöhe geht nicht! Nach Matthies sind Entdecker diejenigen, die erstmals eine „schriftliche, bildliche und kartografische Fixierung sowie universelle Verbreitung der Ergebnisse von Entdeckungsreisen [vorgenommen] haben“ (S. 11). Diese Definition trifft zwar auf europäische und angloamerikanische Forschungsreisende zu, jedoch waren sie eigentlich nur NachEntdecker. Die von ihnen beschriebene Terra incognita war bereits von vor- und frühzeitlichen Menschen betreten und nachfolgend von neuzeitlichen außereuropäischen Populationen besiedelt worden.
Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (um 1467– 1529) stieß in Indien auf hochstehende Kulturen, die bereits kontinentalweit Handel zwischen den Küsten des Indischen Ozeans betrieben. James Cooks (1728–1779) Expeditionen wären ohne die nautischen Kenntnisse der Polynesier in den Weiten des Pazifiks gescheitert. Wenn der Schotte David Livingstone (1813–1873) als ruhmreicher Entdecker Süd- und Ostafrikas gilt, ist das einer eurozentrischen Sichtweise geschuldet. Die Rolle seiner Begleiter David Abdullah Susi und James Chuma als unentbehrliche Organisatoren und eigentliche Führer seiner Expeditionen bleiben meistens unerwähnt.
Aus weit verstreuten Quellen hat Matthies die umfangreiche Geschichte europäischer Entdeckungs- und Forschungsreisen recherchiert und dabei speziell die Leistungen der indigenen Begleiter in den Fokus genommen – eine Kärrnerarbeit. Er beschreibt, dass viele der hochgelobten Expeditionen der Europäer und Angloamerikaner nur deshalb erfolgreich verliefen, weil die Protagonisten sich auf das geografisch-kartografische Wissen, die Kultur- und Reisetechniken und die Hilfe der Einheimischen stützten. Nicht selten wurden die europäischen Führer zu Geführten von indigenen Persönlichkeiten, die über natürliche Autorität und Durchsetzungskraft verfügten.
Volker Matthies zollt den indigenen Begleitern den gebührenden Respekt, holt sie aus dem Schatten der Entdecker heraus. Er betont ihre Bedeutung als ortskundige Führer und Beschützer, erfahrene Kundschafter, sprachkundige und diplomatische Vermittler, als unentbehrliche Träger, Proviantbeschaffer und Köche sowie in so manchen Fällen auch als Heiler und Lebensretter. Der besonderen Leistung von Frauen, Kindern und Jugendlichen ist ein eigenes Subkapitel gewidmet. Frauen „halfen bei der Logistik und dem Transport, sie kochten, nähten, ruderten oder trugen Lasten“ (S. 98), ihre Arbeitsleistung stand denen der Männer nicht nach.
Die Erkundungsreisen der europäischen Entdecker verliefen in Asien und Afrika meistens auf längst erschlossenen Routen von Handelskarawanen und denen der Sklaven- und Elfenbeinjäger. Die Entdecker stießen bei ihren Reisen auf schwierige politische Rahmenbedingungen. Die einheimischen Machthaber gewährten Schutz häufig nur für Gegenleistungen. Meistens mussten mit den regionalen Potentaten Kompromisse eingegangen werden, die deren Machtbereich erweiterten, was z.B. in Afrika zur Ausweitung des Sklavenhandels führte. Vielfach wurden die indigenen Helfer im Kolonialstil skrupellos rekrutiert oder einfach samt der Frauen versklavt, aber die Mehrheit der indigenen Begleiter schloss sich aus materiellen Motiven freiwillig an, um sich und ihre Familien zu versorgen und das Überleben zu sichern. Fairerweise pauschaliert der Autor nicht, sondern erwähnt sowohl Indigene, die egoistisch ihre regionalen Kenntnisse und ihre Stellung ausnutzten, als auch löbliche Ausnahmen unter meist herrischen Forschungsreisenden. Dazu zählt der grandiose Afrika-Forscher Heinrich Barth (1821– 1865), der in kürzester Zeit viele Sprachen lernte, sich den kulturellen Gepflogenheiten der Einheimischen anpasste und „ohne jeglichen Hochmut und akademischen Dünkel“ (S. 77) Freundschaften mit seinen Begleitern schloss, was sich mehrfach als lebensrettend erwies.
Ferner wird die bescheidene Haltung des Universalgelehrten Alexander von Humboldt (1769–1859) ausführlich gepriesen. Der geniale Forschungsreisende verwahrte sich gegen die Bezeichnung „Humboldtstrom“ mit der Begründung: „Die Strömung war 300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Pyta bekannt: ich habe bloß das Verdienst, die Strömung des […] Wassers zuerst gemessen zu haben“ (S. 13). Auf zwei systematische Kapitel, die das lange gereifte Buch in faktendichter, sachlich-nüchterner Wissenschaftlichkeit abhandelt, folgen ausgewählte Biografien indigener Begleiter in kurzweiligem Stil. Ausgewählt nach hinreichend verfügbarer Information und „signifikanter Bedeutung der indigenen Begleiter“ sowie „Prominenz der von den Indigenen begleiteten Entdecker und Forscher“ (S. 25f.), beschreibt Matthies neun Lebensläufe. Der aufklappbare vordere Innendeckel illustriert auf einer Weltkarte die Auswahl. Dazu gehören u.a. der Chipewyan Mantonnabbee, der Samuel Hearne (1775–1792) durch die kanadische Arktis führte, sowie die Shoshonin Sacagawea, die mit Meriwether Lewis (1774–1809) und William Clark (1770– 1838) den nordamerikanischen Kontinent durchquerte. Ferner werden die Aztekin Maliche, die dem Konquistador Hernán Cortés (1485–1547) bei der Eroberung Mexikos half, sowie die beiden zuvor bereits genannten „Bombay Africans“ Chuma und Susi, Livingstones Helfer, vorgestellt. Schließlich seien noch die Punditen (einheimische Vermesser) erwähnt, die im Auftrag des British Empire Zentralasien erforschten. Im Schlusskapitel fragt Matthies, welche Motive und Interessen der indigenen Begleiter hatten und ob sie Wegbereiter des europäischen Kolonialismus und Imperialismus waren. Er diskutiert die „Entwurzelungshypothese“ des Historikers Dane Kennedy, die für ihn in einigen Fällen „zweifellos eine gewisse Plausibilität [hat]“ (S. 187), aber insgesamt als Erklärung der Kooperationsbereitschaft nicht relevant erscheint. Soziologisch betrachtet verfolgten die Indigenen offenbar Bewältigungsstrategien, um „ein erträgliches Leben zu führen“, weshalb es „unangemessen [wäre], über ihre Kooperation und ihre Motive in Kategorien von Schuld und Moral zu reden“ (S. 191).
Der Band relativiert auf beeindruckend sachliche Art die Leistungen der indigenen Begleiter, ohne die Rolle der Entdecker anzuprangern oder herabzuwürdigen. Er leistet einen anspruchsvollen, wissenschaftlich fundierten Beitrag zu einem Perspektivwechsel in der Globalgeschichte der europäischen Expansion. Das mit souveräner Geschichtskenntnis verfasste und mit indigoblauen Abbildungen ästhetisch illustrierte Spätwerk weist neben einem perfekten Literaturverzeichnis auch ein detailliertes Personen- und Geografisches Register auf. Da es in dramatischen Zeiten der Neuorientierung der Wirtschafts-, Friedens- und Kulturpolitik einen wichtigen Beitrag gegen wachsende neokolonialistische und rassistische Vorurteile und für eine Integrationsgeschichte der europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften leistet, ist das Buch aller Ehren wert, sogar eine Nominierung als Sachbuch des Jahres! (wh) ●
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. henkew@uni-mainz.de