Literaturwissenschaften

Handbuch ­Kinder- und Jugend­literatur

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Kuhrwinkel / Schmerheim (Hg.): Handbuch ­Kinder- und Jugend­literatur. Berlin: J.B. Metzler im Springer Verlag 2021, Hardcover, 422 S., ISBN 978-3-476-04720-5. € 109,99.

Gemeinhin beanspruchen Handbücher bzw. Kompendien, einem breiteren Fachpublikum die Summe der aktuellen Erforschungen eines Gegenstands in Geschichte und Gegenwart zu bieten. Nach einer bestimmten Zeitspanne werden sie gewöhnlich durch aktuellere Nachfolger ersetzt. Solche Überblickswerke sind auch auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft anzutreffen, wobei auch hier im Abstand von etwa zwei Jahrzehnten jeweils neue Handbücher auf den Markt gekommen sind. Für die 1970er Jahre stehen das nach dem Herausgeber Klaus Doderer so genannte Doderer-Lexikon (1975-82; Beltz Verlag) und das Handbuch von Gerhard Haas (1974; Reclam Verlag). Gut zwei Jahrzehnte später trat ein nächstes Überblickswerk in Erscheinung: Es handelte sich um das von Günter Lange herausgegebene Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur (2000), welches eigentlich ein Handbuch ist und dem 2012 eine auf die Gegenwart beschränkte Kurzversion folgte (jeweils im Schneider Verlag Hohegehren). Nun ist nach Ablauf von zwei weiteren Jahrzehnten erneut ein Handbuch Kinder- und Jugendliteratur (angegebenes Erscheinungsjahr 2020, herausgekommen aber 2021; Metzler Verlag) anzuzeigen, dessen Herausgeber Tobias Kurwinkel und Phillipp Schmerheim sind. Alle erwähnten Handbücher stellen eine überaus beachtliche Kollektivleistung der jeweiligen Forscher*innen-Community dar, die sich im Fall Günter Langes auf 1015 und 550 Seiten erstreckt und beim neuen Handbuch 426 Seiten umfasst, die aber aufgrund des kleingedruckten Spaltensatzes auf 850 verdoppelt werden müssten.

Gegenstand des jüngsten Handbuchs ist allein die Kinder- und Jugendliteratur nach 1945, was seltsamerweise nicht im Titel angegeben wird. Es handelt sich also um ein Gegenstück allein zum zweiten Handbuch von Güner Lange aus dem Jahr 2012, das korrekterweise den Titel Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart trägt. Die einleitend gegebene Begründung für die Begrenzung auf die Zeitspanne nach 1945 lautet, dass die früheren Epochen bereits in voluminösen Bänden dokumentiert seien, die aus Forschungsprojekten in Köln und Bielefeld hervorgegangen seien (S. VIII). Die genannten Epochendokumentationen weisen jedoch einen gänzlich anderen Charakter auf und wenden sich nicht zuletzt an einen hochspezialisierten Forscher*innenkreis. Ihr Vorhandensein befreit ein Handbuch für ein breiteres Fachpublikum nicht von der Verpflichtung, auch die historische Dimension von Kinderund Jugendliteratur zu berücksichtigen. Glücklicherweise wird in mehreren Artikeln die zeitliche Begrenzung nicht eingehalten – bspw. in „Phantastisches Erzählen“ oder in „Geschichte der Didaktik der KJL“). Selbstverständlich spricht nichts gegen die Einschränkung auf eine Epoche bzw. auf die Gegenwart; nur sollte dies deutlich bereits im Titel markiert werden.

Handbücher stellen stets auch Visitenkarten der an ihnen beteiligten Forscher*innengenerationen dar. Gewiss sind in ihnen immer auch Angehörige älterer und jüngerer Generationen vertreten, doch scheint eine der Generation für deren Gesamtcharakter verantwortlich zu zeichnen. So sind etwa die Handbücher Günter Langes das Werk der zweiten Generation der Kinder- und Jugendliteraturforscher der Nachkriegszeit, und zwar vorwiegend ihrer älteren Vertreter, die überwiegend von den damaligen Pädagogischen Hochschulen kamen. Reich vertreten sind jedoch auch die jüngeren Vertreter dieser zweiten Generation, die überwiegend von der Universität kamen und mittlerweile auch schon das Ruhestandsalter erreicht haben. Das jüngst erschienene Handbuch ist nun das Werk einer dritten, seit kurzem oder längeren aktiven For­ scher*innengeneration, wobei deren jüngere Ver­treter*innen mit ihrer medienwissenschaftlichen Ausrichtung hervorstechen. Hierfür stehen die Artikel „Medien- und Produktverbund“, „Transmediales Erzählen“, „Computerspiel“, „Digitales erzählen“ und „Digitales Geschichtenerzählen“. Die genannten Artikel beziehen sich auf ein digitales Zeitalter, von dem allerdings erst seit den 1990er Jahren gesprochen werden kann. Die viereinhalb Jahrzehnte davor weisen mediengeschichtlich noch ein anderes Profil auf und muten Jüngeren bereits wie eine ferne Vergangenheit an. Das Handbuch deckt also im Grunde genommen zwei unterschiedliche Epochen ab. Dass die jüngeren Mitwirkenden ganz im digitalen Zeitalter verwurzelt sind, hat zur Folge, dass in einer Reihe von Artikeln die früheren Jahrzehnte bis einschließlich der 1980er Jahre unterbelichtet bleiben (so bspw. in „Medien und Produktverbund“ und „Jugendroman“). Unter den Grundlagenartikeln sei hier der Beitrag der Buchwissenschaftlerinnen Corinna Norrick-Rühl und Anke Vogel über den „Buch- und Medienmarkt“ hervorgehoben, dem ein doppelter Umfang eingeräumt wurde und der gegenüber den bisherigen Handbüchern einen Gewinn darstellt. Neu ist auch der gedrängte Überblick über die „Kinderund Jugendliteraturforschung nach 1945“ von Sebastian Schmideler. An vorderer Stelle vermisst man einen Beitrag über die grundlegenden gestalterischen Besonderheiten des Kinder- und Jugendbuchs wie einen weiteren über die Illustration, so interessant die herausgegriffenen Einzelaspekte wie Crossover und Medienverbund auch sein mögen. Gegenüber den früheren Handbüchern sind die geschichtlichen Überblicksartikel nach den deutschsprachigen Ländern aufgeteilt (BRD (!), DDR, Schweiz und Österreich). Nicht immer kann das (anscheinend vorgegebene) Prozedere nach Jahrzehnten überzeugen, wie auch bisweilen – insbesondere im Beitrag über die BRD – von einem Rückfall in die reine Themengeschichte gesprochen werden kann, wodurch formen- wie auch sozialgeschichtliche Aspekte weniger Beachtung finden.

Artikel über die Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur machen seit jeher einen wichtigen Bestandteil der einschlägigen Handbücher aus. Im vorliegenden Handbuch sind diese auf vier Abteilungen verstreut, deren konzeptionelle Aufteilung sich nicht so recht erschließen will. In der Rubrik „Erzählen in Kinder- und Jugendmedien“ sind Gattungsartikel (Phantastik, Märchen, Sage) vermischt mit solchen über genreübergreifende Phänomene (transmediales, realistisches, serielles und unzuverlässiges Erzählen). Unter die Kategorie „Buch“, womit ein Distributionsmedium bezeichnet ist, werden seltsamerweise literarische Gattungen subsumiert (Kinderroman, Jugendroman, Kinderlyrik, Kinder- und Jugenddrama) wie auch plurimediale Genres (Bilderbuch, Comic, Manga, Graphic Novel). Der hervorragende und innovative Beitrag über das „Sachbuch“ von Nikola von Merfeldt behandelt recht besehen die Sachliteratur. Viele der hier behandelten Genres werden übrigens nicht nur im Buchformat, sondern bspw. auch als Hörbuch vertrieben und passen deshalb nur bedingt unter die Rubrik ‚Buch‘. In einem nächsten Gliederungsabschnitt geht es um Film, Fernsehen und Computerspiel, im dann folgenden um „weitere Medien“ – eine echte Verlegenheitsüberschrift. Behandelt werden hier Theater, Hörbuch und Zeitschriften. Die konzeptionelle Gliederung dieses 200seitigen Mittelteils des Handbuchs kann nur wenig überzeugen und erschwert nicht zuletzt auch die Orientierung. Damit ist über die Qualität der einzelnen Artikel nichts gesagt. Die Vermischung sehr unterschiedlicher Aspekte setzt sich in einer weiteren Abteilung des Handbuches fort: Hier soll es um „methodische Zugänge“ bzw. um Forschungsrichtungen, neuerdings sog. „studies“, gehen, und so erwartet man ausgesprochene Forschungsberichte. Geboten werden jedoch überwiegend Darstellungen einzelner Gegenstandsaspekte (kinder- und jugendliterarische Motive, Stoffe und Themen, Gendermotive, Raummotive, Illustrationen), die allenfalls mit Anmerkungen zum „Forschungsstand“ versehen sind. Einen Abriss einer Forschungsdisziplin geben am ehesten noch die Beiträge über „Interkulturalität“ und „Komparatistik“. Trotz ihres Pendelns zwischen Gegenstandsorientierung und Forschungs- und Methodendiskussion zählen die Artikel dieses Teils für mich zu den interessantesten und anspruchsvollsten Beiträgen des Handbuchs. Dennoch fragt es sich, ob sie in ein Handbuch passen, das in erster Linie einen Gegenstandbereich für eine breitere Leserschaft erschließen soll. Dabei sollte der Forschungsstand nicht außer Acht bleiben, aber doch keine wissenschaftsinterne Theorie- und Methodendiskussion ausgebreitet werden. Der letzte Handbuchteil wartet mit einem umfangreichen Grundlagenartikel zur Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht auf, dem sich ein bis ins 19. Jahrhundert zurückreichender Beitrag zur Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturdidaktik anschließt. Es schließen sich interessante Artikel zu didaktischen Einzelfragen an, deren Auswahl etwas zufällig wirkt.

Die Einzelartikel des Handbuchs wirken bisweilen gegängelt, was auf vergleichsweise starre Vorgaben rückschließen lässt. Dazu gehört auch die wiederholt auftauchende Überschrift „Narratoästhetik“, unter der man sich auch nach der Lektüre mehrerer Beiträge nichts Rechtes vorstellen kann. Handbücher sollten nicht zur Durchsetzung eines theoretischen Ansatzes benutzt werden; an der unerlässlichen Zurückhaltung und Neutralität von Handbuchherausgebern, wie sie vom Vorgänger Günter Lange vorbildlich praktiziert worden waren, mangelt es in diesem Fall ein Stück weit, zumal die Herausgeber auch noch knapp 50 Seiten bzw. 100 Spalten für sich selbst beansprucht haben. Was Übersichtlichkeit, Ausgewogenheit und Gebrauchswert angeht, so bleibt dieses durchaus verdienstvolle Handbuch hinter seinen beiden jüngeren Vorgängern von 2000 und 2012 doch zurück.

Prof. i.R. Dr. Dr. h.c. Hans-Heino Ewers (Jg. 1949) leitete bis Ende 2014 das Institut für Jugendbuchforschung der GoetheUniversität Frankfurt am Main und lehrte anschließend bis 2017 im Fachbereich Erziehungswissenschaften.

ewers@em.uni-frankfurt.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung