Im Fokus

Femizide sind ein Problem der gesamten Gesellschaft

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Julia Cruschwitz, Carolin Haentjes: Femizide. Frauenmorde in Deutschland. Stuttgart: Hirzel Verl., 2022. 216 S., ISBN 978-3-7776-3029-8, € 18,00.

„Femizide sind keine Einzelfälle, sind keine Privatsache, sondern ein Problem unserer gesamten Gesellschaft. Doch häufig fehlt in der Rechtsprechung und in den Behörden das Wissen um die Dynamik häuslicher Gewalt. Dieses Buch nun aber ist ein aufrüttelndes Plädoyer für mehr Prävention, fundiert recherchiert – und unbedingt zu lesen.“ (die Psychologin Caroline Wenzel im Klappentext) In Deutschland werden 2020 139 Frauen durch ihre eigenen Ehemänner, Familienväter, Partner, Freunde oder Ex-Partner getötet. Tötungsversuche geschehen fast jeden Tag in Deutschland – in allen Gesellschaftsschichten. Viele Kinder werden durch diese Taten traumatisiert. Diese Verbrechen stehen in einer patriarchalen Tradition, mit der Männer seit Jahrtausenden Anspruch auf Leib und Leben von Frauen erheben und die trotz aller Emanzipation in Deutschland bis heute nicht verschwunden ist. Solche Taten als Familientragödien oder Eifersuchtsdramen zu bezeichnen, das ist Verharmlosung und Unterstellung, dass beide, Täter und Opfer, die Schuld an der Tat tragen. Daran hat leider auch die Berichterstattung in den Medien ihren Anteil. Diesen strukturellen Hintergrund drückt der Begriff „Femizid“ aus.

Die beste Zusammenfassung findet sich auf einem Plakat (S. 10):

Frauenmord ist keine Familientragödie.

Frauenmord ist keine Beziehungstat.

Frauenmord ist kein Eifersuchtsdrama.

FRAUEN WERDEN GETÖTET, WEIL SIE FRAUEN SIND! ES HEISST FEMIZID.

Weil der Begriff alle Tötungsdelikte an Frauen aufgrund ihres Geschlechts umfasst, ist er sehr breit gefächert. Die Autorinnen konzentrieren sich auf die häufigste und klarer abgrenzbare Form von Femiziden in Deutschland: „Trennungstötungen. Tötungen, die vor, während und nach einer Trennung von Beziehungspartner:innen stattgefunden haben, vor allem aber wegen dieser Trennung.“ (S. 14) Für dieses Buch führen die Autorinnen zahlreiche Gespräche mit Wissenschaftlern, Kriminologen, Polizisten, Sozialarbeitern, Anwälten, Überlebenden, Zeugen und Angehörigen, und sie analysieren wissenschaftliche Studien.

Die einzelnen Geschichten von Frauen sind schwer zu ertragen, aber sie zeigen auch die Fehler der Behörden, die Stalking, Drohungen und Übergriffe nicht immer ernst nehmen, die mangelnde Zusammenarbeit von Jugendamt und Polizei, die von den politischen Verantwortlichen unterfinanzierten Schutzhäuser. Besonders erschreckend für den Rezensenten ist die widersprüchliche Rechtsprechung. Eine Vielzahl der Täter wird nicht so hoch bestraft, wie es nach den Gesetzen möglich wäre. Manche Richter verstehen die Wut und Verzweiflung der Täter mehr als das Leiden der Frauen, und sie sprechen von Provokationen der Frauen, wenn sie Trennungswünsche äußern.

Viele Fragen gehören in die Mitte der öffentlichen Debatte: „Warum werden immer noch Männlichkeitsideale unterstützt, die Frauen minder bewerten und Gewalttätigkeit verherrlichen? Wie können die Rollenbilder in unserer Gesellschaft verändert werden? Wie können wir dabei schon möglichst früh ansetzen, schon in der Schule und im Kindergarten? Wie können wir Frauen besser stärken, psychisch, sozial und ökonomisch? … Gewalt gegen Frauen und ihre schlimmsten Eskalationen sind kein Problem der „Anderen.“ (S. 205)

Die Autorinnen zeigen zweckdienliche Wege auf, die Gefahren rechtzeitig zu erkennen, wahrzunehmen und zu bekämpfen und Femizide zurückzudrängen und einzudämmen. Dieses analytische und detailgenaue Nachschlagewerk behandelt erstmals im deutschsprachigen Raum multiperspektivisch das Problem der Femizide. Es zeigt, dass Femizide ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, es aber Wege zu einem besseren Schutz von Frauen vor männlicher Gewalt gibt. Ein großartiger Einstieg in ein schwieriges Thema. (ds)

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte ­Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 ­Biblio­theksdirektor an der Berg­aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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