Betriebswirtschaft

BWL kann spannend sein

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2020

In den Unternehmen wird die Messlatte für die Qualität kluger Entscheidungen beständig angehoben. Allein schon, weil immer mehr Daten verfügbar sind. Zudem beschleunigen sich der technologische und der wirtschaftliche Wandel in einem rasanten Tempo. Die Folge: Es stellen sich tagtäglich neue Probleme, deren Komplexität und Unberechenbarkeit zunehmen. Damit Entscheidungen nicht auf wackeligen Füßen stehen, sind neue Fähigkeiten und Formen der Intelligenz notwendig, um clevere und kreative Lösungen finden zu können. Zwei Bücher liegen vor, die sich dieser Problematik annehmen.

Conn, Charles; McLean, Robert, Bulletproof Problem Solving. Komplexe Probleme in Unternehmen in 7 Schritten lösen, Wiley-Verlag, 2020, 224 S., ISBN 978-3-527-51006-1, € 34,99.

Marr, Bernard, Künstliche Intelligenz in Unternehmen. Innovative Anwendungen in 50 erfolgreichen Firmen, Wiley-Verlag, 2020, 361 S., ISBN 978-3-527-51004-7, € 34,99.

„Der Nachteil der Intelligenz besteht darin, dass man ununterbrochen gezwungen ist, dazuzulernen.“ (George Bernhard Shaw) Das irische Multitalent Shaw wird es wissen, denn ohne die nötige Intelligenz hätte er den Nobelpreis für Literatur und den Oskar wohl nie bekommen. Besonders vorteilhaft ist es, wenn ein schlaues Handeln auch noch „Bulletproof“ ist: Dann ist es zielgerichtet, treffsicher, zuverlässig. Damit beschäftigen sich Charles Conn und Robert McLean in ihrem Buch. Beide verfügen über jahrzehntelange Managementerfahrung bei McKinsey, sie waren dort auch im Think-Tank tätig. Sie trafen sich in dem Beratungsunternehmen vor mehr als 25 Jahren und schlossen sich zusammen, um für ihre Kunden Problemlösungen von höchster Qualität zu finden. Nach ihrer gemeinsamen Zeit bei McKinsey verfeinerten sie ihre Methoden zur Problemlösung beständig. Dabei erweiterten sie auch ihren Fokus: Während zunächst der smarte Umgang mit betriebswirtschaftlichen Fragen dominierte, übertrugen sie später ihre Überlegungen auf die Gesellschaftsebene. Insbesondere auf den Naturschutz und soziale Projekte, denn Conn und McLean engagieren sich seit vielen Jahren in gemeinnützigen Organisationen. Charles Conn, Jahrgang 1961, besitzt die kanadische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er wurde an den Elitehochschulen Harvard, Oxford und Boston in den Fächern Philosophie, Politik und Betriebswirtschaftslehre ausgebildet. Der Australier Robert McLean, Jahrgang 1958, studierte an der Columbia University Wirtschaft und Statistik. Die persönliche Mischung der beiden Autoren macht dieses Buch so reizvoll: Auf der einen Seite sind es Persönlichkeiten, die ihren Weg in einer weltweit führenden ConsultingGesellschaft fanden. Sie sind in der Lage, zur Entscheidungsfindung betriebswirtschaftlicher Probleme auf oberster Managementebene beizutragen. Auf der anderen Seite sind es keine „08/15-Berater“, die sich allzu häufig an ihrem eigenen Kauderwelsch erfreuen. Im Gegenteil, Conn und McLean schauen über den Tellerrand der BWL hinaus und beschäftigen sich in ihrem Buch auch mit Themen wie der Überfischung unserer Weltmeere, einer besseren Krankenpflege oder der HIV-Bekämpfung in Indien. Die beiden Autoren sehen in der Entwicklung von Managementfähigkeiten einen dreistufigen Wandel: In den 1980er-Jahren stand zunächst das Finden der richtigen Strategie im Mittelpunkt („wo und wie?“). Dann folgte die Zeit der Umsetzung („Dinge erledigen“). Seit wenigen Jahren (etwa ab 2015) erwarten Conn und McLean eine Hinwendung des Managements zur Lösung komplexer Fragen („agile und kreative Problemlösungen“). Hier beziehen sie sich auf neueste Studien die belegen, dass sich die wichtigsten Fähigkeiten zur optimalen Wahrnehmung eines Berufs radikal geändert haben: So verlor die „Mitarbeiterführung“ ihre Pole-Position und rutsche vom ersten auf den vierten Platz ab. Als Top-Fähigkeit thront dort heute die „Komplexe Problemlösung“. Ihr folgen „Kritisches Denken“ und „Kreativität“ auf den Plätzen zwei und drei. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls das Weltwirtschaftsforum im Jahr 2020.

In „Bulletproof“ wird der Prozess zur cleveren Problemlösung in sieben Stufen unterteilt: Problem definieren, zerlegen, priorisieren, Arbeitsplan aufbauen, Analyse erstellen, Ergebnisse zusammenführen und kommunizieren. Das Buch unterteilt sich in der Folge in eben diese sieben Hauptabschnitte. Was sich zunächst recht nüchtern liest, wird später richtig spannend. Denn die beiden Verfasser arbeiten mit einer Vielzahl von Logikbäumen: Sie setzen klassische Faktorbäume ein, nutzen induktive und deduktive Logikbäume und lösen komplexe Fragen mit Hilfe von Hypothesenbäumen und Entscheidungsbäumen. Die unzähligen kleinen und großen Zeichnungen in dem Buch sind herausragend gelungen. So wird der „Bau einer Backsteinmauer“ derart selbstredend in verschiedene Arbeitsschritte untergliedert und bebildert, dass sich vermutlich selbst ein handwerklich wenig begnadeter Mensch an die Errichtung dieser Mauer heranwagen darf. Auch das „Familien-Brainstorming“ zu der Fragestellung „Wo wollen wir leben?“ (Stadt oder Land) ist schlau gelöst. Dazu nutzen Conn und McLean die Kombination von Entscheidungsbaum und Entscheidungsmatrix.

Eine andere Problemstellung lautet: „Die Bestände des pazifischen Lachses merklich vergrößern.“ In „Bulletproof“ wird diese schwierige Frage zunächst schrittweise zerlegt. Wer sind die Entscheidungsträger für das Lachsfischen, und welche Schlüsselkräfte wirken auf sie ein? Wo liegen mögliche Begrenzungen dieses Vorhabens? Dann werden Maßstäbe für eine erfolgreiche Umsetzung definiert, der Zeitrahmen für die Lösung abgesteckt und die geforderte Genauigkeit der Problemlösung vorgegeben. Anschließend wird der Weg zur Entscheidungsfindung konkretisiert und visualisiert. Der Logikbaum enthält Komponenten, die Schritt für Schritt ins Detail übergehen. Beispiel: Um das Lachsvorkommen und die Artenvielfalt zu steigern, ist das Kriterium „Fischerei“ näher zu betrachten. Die Fischerei wiederum wird in die Sektoren kommerzielles Fischen, Sport, Ureinwohner und Wilderei untergliedert. Der Punkt „kommerziell“ differenziert sich schließlich in die Ausprägungen Art der Küste, Meereswanderung sowie Futterplätze. Zur Visualisierung dieser Überlegungen entwerfen die Autoren einen übersichtlichen Logikbaum. Dann verfeinern sie ihre Untersuchung im nächsten Schritt und benennen konkrete Regionen, die sich für das Projekt „Pazifischen Lachs retten“ anbieten (z. B. Bristol Bay, British Columbia, Südost-Alaska). In ihrem „Präzisierten Hypothesenbaum“ finden sich zudem Interventionsschwerpunkte des Vorhabens: Regierungspolitik, Marktzertifizierung, Ureinwohnerrechte, Wissenschaftliche Zusammenarbeit, Interessenvertretung von Schutzgebieten, Gerichtsprozesse. Es wirkt ganz einfach sympathisch und wenig prätentiös, wenn sich die Verfasser von „Bulletproof“ selbst auf die Schippe nehmen und ihre Methoden quasi im Eigenversuch ausprobieren. In einer lustigen grafischen Darstellung und in Textform verweisen sie auf die vor 20 Jahren durchgeführte Kniearthroskopie von Robert McLean. Diese wurde am linken Knie vorgenommen. McLean war anschließend in der Lage, jährlich einen Halbmarathon zu laufen. Doch dann begannen vor geraumer Zeit Probleme am rechten Knie. Gut nachvollziehbar und wirklich humorvoll wird beschrieben, welche Möglichkeiten „Rob“ McLean jetzt hatte. Soll er sich einer weiteren Arthroskopie unterziehen? Dazu werden unterschiedliche Lösungsalternativen benannt, visualisiert und schließlich bewertet. Die Entscheidung von Robert McLean lautet: „Erst einmal abwarten und sehen, ob es demnächst eine neue Behandlungsmethode gibt.“

Vielleicht ist das manch einem Leser zu weit von klassischen betriebswirtschaftlichen Fragen entfernt. Aber auch dieses Klientel kommt auf seine Kosten. So wird der traditionelle ROI-Baum (Return on Investment) facettenreich und sachlogisch korrekt erweitert. Die Autoren integrieren in ihre grafische Darstellung kleine Beispiele. Außerdem selektieren sie einzelne Komponenten des ROI-Baums. Wie den Lagerumschlag, dessen Bedeutung und Berechnungsmöglichkeit gut verständlich erklärt wird. Dann transferieren Conn und McLean ihre Ausführungen – in Wort und Bild – speziell auf den Einzelhandel. In einem späteren Kapitel wird der ROI-Baum genauestens analysiert, indem zwei Investitionsalternativen konkret gegeneinander abgewogen werden.

In dem Kapitel „Analysieren“ (Untertitel „Die schweren Geschütze der Analyse“) geht es in die Tiefe. Hier beschäftigen sich Conn und McLean mit mathematischen Algorithmen, der Spieltheorie und Statistischen Lösungsverfahren. Das klingt langweilig, muss es aber nicht sein. In „Bulletproof“ wird selbst das Theorem von Bayes interessant eingepackt. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu Machine Learning; jedoch nicht in epischer Breite, sondern in abgespeckter Version.

Natürlich beschäftigen sich die Autoren auch mit klassischen betriebswirtschaftlichen Hilfsmitteln. So kommt das bekannte Ishiwaka-Diagramm („Fischgräten“-Diagramm) in „Bulletproof“ ebenso zum Einsatz wie die Vorstellung der Methodik „Design-Thinking“. Letzte wird bei einer Analyse für eingebüßte Marktanteile eingesetzt. Ebenso ist die Szenario-Technik in der Betriebswirtschaftslehre weit verbreitet und hinlänglich diskutiert. Selten wurde sie aber so gut und leicht verständlich beschrieben. Auch ein „Nicht-BWLer“ kann folgen. Zudem wird die Strategy Map von Kaplan und Norton dazu genutzt, komplexe Fragestellungen auf möglichst einfache Art zu visualisieren. Die Erprobung erfolgt am Beispiel „Pazifischen Lachs retten (Strategieplanung auf regionaler Ebene)“. Den Abschluss des Buchs bildet das kurze Kapitel „Ein großartiger Problemlöser werden“. Darin bekommt der Leser zehn Bausteine genannt, die ihn genau dazu befähigen sollen. Hier werden die Kernaussagen noch einmal auf den Prüfstand gehoben und konkrete Handlungsempfehlungen ausformuliert. Beispiel: „Probieren Sie verschiedene Aufteilungen in dem Baum aus.“ So können Klebezettel bei der Beschriftung der Äste helfen. Diese sind über einen Aufspaltungsrahmen hin und her zu schieben, bis ihre logische Gruppierung einen Sinn ergibt. Dann werden Hauptbeziehungen entworfen, die der gewählten Aufspaltung folgen, idealerweise in mathematischer Form. Das Buch endet mit leeren Arbeitsblättern zum Ausprobieren. Der Leser kann selbst loslegen und feststellen, ob er die Inhalte von „Bulletproof“ auch wirklich verstanden hat und umzusetzen weiß. Insgesamt finden sich in dem Buch 30 detaillierte und praxisnahe Beispiele zur Lösung von Fragestellungen unterschiedlicher Komplexität. Der Schreibstil von Conn und McLean ist herrlich bodenständig. Und selbst wenn sich die Langeweile bei der Beschreibung statistischer Verfahren einmal in Lauerstellung begibt, umschiffen Conn und McLean die Klippen der Eintönigkeit mit Bravour. „Bulletproof“ ist ein tolles Buch. Die Autoren verstehen es, selbst auf schwierige Fragen unkomplizierte und pragmatische Lösungen zu finden. Das Buch ist sowohl für Betriebswirte als auch „Fachfremde“ geeignet. „Bulletproof“ ist eine weite Verbreitung zu wünschen, BWL kann also doch spannend sein.

„Künstliche Intelligenz in Unternehmen“ von Bernhard Marr ist das zweite hier zu besprechende Buch. Der umtriebige Marr ist Bestsellerbauchautor. Er bezeichnet sich selbst als „Futurist“. Marr berät Unternehmen und Regierungen, er ist Hauptredner auf Kongressen. Sein Steckenpferd ist die Digitale Transformation. Die Plattform LinkedIn sieht ihn als einen der Top 5 Business Influencer weltweit. In Großbritannien ist er sogar Business Influencer Nr. 1. Täglich folgen ihm mehr als zwei Millionen Menschen über Social-Media. Seine Beiträge sind auf dem Weltwirtschaftsforum ebenso gefragt, wie in der wöchentlichen Kolumne der Zeitschrift Forbes. Bernhard Marr wurde in Deutschland geboren und wuchs in der Nähe von Hamburg auf. In Cambridge studierte der Wirtschaft, Ingenieurwissenschaften und Informationstechnologie. Bücher zur Künstlichen Intelligenz gibt es mittlerweile einige. Wer wissen möchte, wie diese im betrieblichen Umfeld konkret umgesetzt wird, liegt bei Marr richtig. Er hält sich nicht lange damit auf, was sich hinter dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ eigentlich verbirgt und welche technischen Finessen sie besitzt. Vielmehr beschreibt Bernard Marr an 50 Anwendungsbeispielen, wie Unternehmen Künstliche Intelligenz in ihren Geschäftsmodellen einsetzen. Dabei verschweigt er nicht, dass die Thematik polarisiert. Nicht wenige Menschen betrachten Künstliche Intelligenz als Bedrohung, quasi als den Beelzebub unserer Zivilisation. Andere sehen in der Künstlichen Intelligenz einen Heilsbringer, der die größten Probleme unserer Menschheit lösen kann (wie den Klimawandel oder Erkrankungen). Auf welche Seite sich Marr schlägt, dürfte auf der Hand liegen: „KI ist heute die wirkungsträchtigste Technologie, die uns als Menschheit zur Verfügung steht. Sie zu ignorieren, wäre der größte Fehler, den wir begehen könnten.“ Das Buch ist in fünf Hauptabschnitte unterteilt. In jedem Kapitel gibt es zehn alphabetisch geordnete Anwendungsfälle von Unternehmen. Es geht los mit den „Wegbereitern der Künstlichen Intelligenz“. Dazu zählen für Marr zum Beispiel Alibaba, Amazon, Apple, IBM und Microsoft. Sie sind für ihn die Schrittmacher Künstlicher Intelligenz. Huawei gehört für den Autor nicht zu diesem illustren Kreis. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Marr mit Unternehmen aus dem Segment „Einzelhandel, Konsumgüter, Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie“, also Burberry, Coca Cola, Domino’s, McDonald’s, Samsung oder Starbucks. Und mit Walmart, einem der umsatzstärksten Unternehmen mit 11.000 Einzelhandelsfilialen weltweit. Da müssen Kauftrends präzise vorhergesagt werden, die von lokalen Gepflogenheiten, dem Wettbewerbsgeschehen an sich sowie demografischen und ökonomischen Randbedingungen stark abhängen. Dabei sind Online- und Offline-Aktivitäten seit einigen Jahren bei Walmart eng miteinander verwoben. Um diese Herkules-Aufgabe zu bewältigen, benötigt das Unternehmen ein cleveres Lagerbewirtschaftungssystem. Walmart nutzt aber nicht nur sein bestehendes Datensilo, sondern probiert ständig neue Dinge aus. So setzt das Unternehmen in einigen US-Filialen derzeit kleine, autonome Roboter ein. Sie patrouillieren durch die Gänge und ermöglichen Videoanalytik in Echtzeit. Mit Hilfe der Videoaufnahmen erhalten Einkäufer, Logistiker und Datenanalysten stets aktuelle Informationen zum Warenbestand. Über Künstliche Intelligenz werden präzise Modelle zum Kundenverhalten automatisch abgeleitet um herauszufinden, welche Artikel zu welcher Tageszeit besonders begehrt sind. Diese Daten werden an die Lieferkette und die Lagersysteme übermittelt, um möglichst treffgenaue Absatzprognosen zu erstellen. Damit wird die gesamte Supply Chain mit Echtzeitinformationen versorgt, kostenintensive Stockouts bleiben aus. Walmart legt selbst Wert darauf zu betonen, dass der Roboter nicht das physische Personal ersetzt. Dieser ist vielmehr darauf ausgelegt, bei manuellen (monotonen) Routineaufgaben dem Menschen zu assistieren. Die Standhöhe der Roboter beträgt übrigens 60 cm. Sie verfügen über Sensorik und ausfahrbare Kameras, um auch die oberen Regale erfassen zu können.

Im dritten Abschnitt beschreibt Bernard Marr zehn Fälle aus der Branche „Medien, Unterhaltung und Telekommunikation“. Darunter befinden sich Instagram, Twitter, LinkedIn, Netflix, Spotify oder Walt Disney. Der Leser erfährt, wie das 2008 in Schweden gegründete Unternehmen Spotify eine Machine Learning getriebene PrognoseSoftware im Einsatz hat, um seinen Nutzern wöchentlich dreißig neue Titel auf einer persönlichen Playlist vorzustellen. Während man früher von Freunden einen individuellen Mix an aktueller Musik auf Kassetten oder CDs zusammengestellt bekam, wird nun Künstliche Intelligenz zum „besten neuen Freund“. Dazu werden die Hörgewohnheiten von Spotify-Nutzern systematisch zusammengetragen. Mit Hilfe eines kollaborativen Filterns wird dem Hörer Woche für Woche eine persönliche Playlist empfohlen. Auch negative Signale spielen hier eine Rolle: Wenn ein Titel innerhalb der ersten 30 Sekunden von einem Nutzer übersprungen wurde, merkt sich das der Algorithmus und ordnet ähnlichen Musikstücken bei der künftigen Empfehlung weniger Gewicht zu.

Interessant ist auch das Beispiel Walt Disney. Der Freizeitpark „Magic Kingdom“ in Florida preist sich als „magischster Ort der Welt“. Jeden Tag strömen durchschnittlich mehr als 56.000 Besucher durch die Eingangstore (Corona-Zeiten ausgenommen). Damit die Gäste mit guten Erinnerungen heimkehren und nicht stundenlang in den Warteschlangen an Attraktionen und Themenparks verweilen, sind kluge Lösungen gefragt. Auch hunderte von Imbissständen und Restaurants sind ständig mit der optimalen Menge an Speisen und Getränken zu versorgen. Dazu nutzt Disney MagicBand-Armbänder. Sie sind bequeme Eintrittskarten für die Fahrgeschäfte, ermöglichen Zutritt zu den Hotelzimmern und wickeln Bezahlvorgänge schnell ab. Mit Hilfe der Armbänder erhält Disney zudem detaillierte Informationen über die Aktivitäten der Besucher zu jeder Tageszeit. So können die Planer den Andrang vor Attraktionen besser steuern und Kapazitätsengpässe in Restaurants und Andenkenläden vermeiden. Die Daten werden unmittelbar in Echtzeit ausgewertet. Jetzt kann kurzfristig eine Stegreifparade beliebter Disney-Figuren anberaumt werden, um die Menschenmenge von einem überfüllten in einen ruhigeren Bereich umzulenken. Von Vorteil ist natürlich auch die Planung des Tagesablaufs der Besucher über eine App. Nutzer erhalten von Disney über diese App einen empfohlenen Ablaufplan, der darauf ausgelegt ist, Menschenandrang und Wartezeiten auf ein Minimum zu begrenzen. Das Tragen der Armbänder ist übrigens freiwillig. Mehr als 80% der Besucher nutzen sie. Im vierten Hauptkapitel kommt Bernard Marr auf „Unternehmen im Dienstleistungs-, Finanz- und Gesundheitssektor“ zu sprechen. Dass sich hier die Beispiele Uber, American Express, Salesforce oder Mastercard finden, überrascht wenig. Bemerkenswerter ist da schon die Berücksichtigung von Harley-Davidson. Schließlich ist der Hersteller von jährlich 150.000 Motorrädern dafür bekannt, dass die Maschinen nach wie vor von Hand zusammengesetzt werden. So soll eine maßgeschneiderte, kundengerechte Herstellung gewährleistet werden, die auch Sonderwünsche zulässt. Eine vollautomatisierte Fertigung könnte diese Ansprüche nur schwer realisieren. Harley-Davidson geriet vor einigen Jahren in eine Absatzkrise. Mit der Konsequenz, dass heute Machine Learning eingesetzt wird: Die Kaufgewohnheiten der Kunden werden über die eigene Website des Unternehmens analysiert. Zusätzlich werden Online-Werbenetzwerke (Google Ads, Facebook, Bing) über Werbetextformeln und Bildkombinationen angezapft, um nach geeigneten Kunden Ausschau zu halten. Das Ergebnis ist eine gezielte Kundenansprache, die zur Verdopplung der Verkaufszahlen führt. Das Marketing wird jetzt auf Zielgruppen angesetzt, die zuvor nicht angesprochen wurden. Facebook entpuppte sich dabei als besonders geeigneter Werbekanal. Hier liegt die Conversion-Rate (die Anzahl der Besucher einer Website, im Verhältnis zu den tatsächlich getätigten Kaufabschlüssen) 8,5 mal höher als bei anderen Social-Media-Providern. Es versteht sich, dass Harley-Davidson seine Aktivitäten auf Facebook besonders bündelt. In Echtzeit wird mittels Künstlicher Intelligenz die Handlungsbereitschaft potenzieller Käufer erkannt und die Sprache in sämtlichen Anzeigen in wenigen Sekunden angepasst.

Schließlich tummeln sich im fünften Teil des Buchs „Produktionsbetriebe, Automobilhersteller, Raumfahrt- und Industrie-4.0-Unternehmen“.

Neben General Electric, John Deere, Shell oder Volvo finden sich hier auch einige deutsche Vertreter (BMW, Daimler, Siemens). John Deere ist der weltweit führende Hersteller von Land- und Industriemaschinen mit Sitz in den USA. Die Landwirtschaft ist mit einer beständig wachsenden Weltbevölkerung konfrontiert, was eine deutliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion erfordert. Gleichzeit schrumpft die landwirtschaftliche Nutzfläche auf Grund von Urbanisierung, Klimawandel und Bodenverschlechterung. Also muss die verfügbare Landfläche effizienter genutzt werden, was zum verstärkten Einsatz von Düngemitteln führt. Für Umwelt und Lebewesen leiten sich jedoch besondere Gefahren ab, wenn diese Düngemittel im Übermaß eingesetzt werden. Somit möchte John Deere dazu beitragen, Unkrautvernichtungs- und Schädlingsbekämpfungsmittel so sparsam wie möglich einzusetzen. Das Unternehmen nutzt ein Computerprogramm um zu erkennen, wo Ernteerträge durch Schädlinge bedroht sind. Mit Hilfe einer robotergesteuerten Kontrollausrüstung werden Schädlingsbekämpfungsmittel gezielt nur auf angegriffene Feldfrüchte aufgebracht, die anderen bleiben unangetastet. Über Künstliche Intelligenz werden dazu Millionen von Bildern ausgewertet. Mathematische Algorithmen geben direkt Impulse an Sensoren weiter, die an den Landmaschinen angebracht sind. Die Sensoren steuern gezielt den Düngevorgang auf dem Feld. Zusätzlich fotografieren die Maschinen Feldfrüchte und gleichen die Aufnahmen von gesunden wie geschädigten Nutzpflanzen ab. Dann entscheidet das Programm selbständig darüber, in welche Kategorie die Pflanzen einzuordnen sind. Das Ergebnis ist eine „Präzisionslandwirtshaft“ und nicht die unstrukturierte „Feld-zu-Feld“-Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln.

Natürlich weiß der Leser schon Einiges über die im Buch besprochenen Internet-Platzhirsche, wie Google (eingebunden in den Alphabet-Konzern), Tesla, Facebook und Amazon, sowie ihre jeweiligen Bezüge zur Künstlichen Intelligenz. Aber neben diesen üblichen Verdächtigen berichtet Marr auch von weniger bekannten Anwendern wie Infervision, ein chinesischer Computer-Spezialist, der mit Hilfe Künstlicher Intelligenz bereits unzählige Menschenleben gerettet hat. Das hochauflösende Screening von Infervision ermöglicht es, lebensbedrohliche Erkrankungen (z. B. Lungenkrebs, Schlaganfälle) in einem wesentlich früheren Stadium aufzuspüren, als dies bisher der Fall war. Infervision stellt eine Plattform für Präzisionsmedizin zur Verfügung. Mit Hilfe von Deep Learning findet die Auswertung von Röntgenaufnahmen und weiterer Scans statt. Die eingesetzten Algorithmen werden trainiert, um Frühwarnsignale in Mustern und Formen zu erkennen. Sie können einen Tumor im Körper eines Patienten entdecken, der sich noch im Anfangsstadium seiner Entwicklung befindet. Diese Vorgehensweise ist in China deshalb so bedeutsam, da es im Land nur 80.000 ausgebildete Radiologen gibt. Sie sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, pro Jahr ca. 1,4 Milliarden radiologische Untersuchungen durchzuführen. Hinzu kommt, dass vielen Chinesen außerhalb der Großstädte auf diese Weise geholfen werden kann, denn sie haben keinen Zugang zu regelmäßigen medizinischen Vorsorgeuntersuchungen.

Auch Stitch Fix gehört eher in die Kategorie der Hidden Champions. Dieses vor noch nicht einmal zehn Jahren in Kalifornien gegründete Unternehmen stellt die Modebranche derzeit auf den Kopf. Der E-Commerce-Aufsteiger beherrscht das kurative Shopping: Die Zusammenstellung und Versendung von Boxen mit topmodischen Kleidungsstücken, abgestimmt auf den persönlichen Geschmack des Kunden. Wie auch andere Versandhändler ist für Stitch Fix die Retourenquote eine besondere Herausforderung. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sind sie gezwungen, kostenlose Lieferungen und Rücksendungen anzubieten. Zusätzlich verfügen Versandhändler traditionell über hohe Lagerbestände, um die Kundenbestellungen rasch bedienen zu können. Schon seit seiner Gründung setzt Stitch Fix Künstliche Intelligenz ein, um Körpermaße, Geschmacksvorlieben und Stilpräferenzen seiner Kunden besser zu verstehen. Dazu beschäftigt das Unternehmen knapp 100 Datenwissenschaftler. Diese Experten helfen, Artikel für die Boxen so auszuwählen, dass die Kunden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit behalten. Über maschinelle Lernsysteme werden die Algorithmen getrimmt, um Kleidungsstücke herauszufiltern, die für einen bestimmten Kundentypus ungeeignet sind. Dies ist möglich, da die Kunden bei der Einrichtung ihres online Kontos gebeten werden, Angaben zu ihrer Person in die Maske einzutragen: Körpermaße, Gewicht, Stilpräferenzen (z. B. lockerer Sitz), Farbvorlieben, Kleiderbudget und Aktivitäten in sozialen Medien. Bei Zustimmung analysiert das Unternehmen beispielsweise über Social Media gepostete Bilder, um bestmögliche Einblicke in die Vorlieben der Käufer zu bekommen. Ergebnis: Stitch Fix hat eine extrem niedrige Rate an Retouren, da die Kundenwünsche in den Kleiderboxen gut getroffen werden.

Das Buch von Bernard Marr ist brand-aktuell. Es liefert Managern und Führungskräften Anregungen, wie sie ihr vielleicht etwas eingestaubtes Geschäftsmodell auffrischen können. Dabei verheddert sich Marr zum Glück nicht im Fachchinesisch. Natürlich kommt auch er nicht darum herum, Buzzwords wie Deep Learning, Chatbots, Smart Things, Machine Learning, Neuronal Processing, Cloud Computing, Internet of Things oder Cognitive Computing zu verwenden; denn diese sind nun einmal eng mit Künstlicher Intelligenz verbunden. Aber Marr nimmt den Leser an die Hand, erklärt diese Hilfsmittel gut und in knappen Worten. So kann nicht nur der Technik-Freak dem Autor problemlos folgen.

Das Buch ist eine Art Roadtrip. Bernard Marr lädt zur Reise rund um den Globus ein, um von den Erfolgen Künstlicher Intelligenz zu berichten. Weltweit ist ein Wettlauf um ihre Nutzung entfacht. Die Chinesen und die Amerikaner scheinen hier die besten Karten zu haben. Andere Nationen müssen aufpassen, dass sie nicht abgehängt werden. Bei aller Euphorie, die dieses Buch um die Verbreitung der Künstlichen Intelligenz versprüht, ist es doch bemerkenswert, dass auch mahnende Worte nicht fehlen: „KI stellt eine echte Bedrohung für menschliche Arbeitsplätze dar, genau wie alle anderen industriellen Revolutionen vor ihrer Ankunft. Die Entwicklung intelligenter Systeme, die menschliche Fähigkeiten erweitern statt sie überflüssig zu machen, ist eine zentrale Herausforderung in allen Branchen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Prof. Dr. Hartmut Werner lehrt seit 1998 Controlling und Logistikmanagement an der Hochschule RheinMain (Wiesbaden ­ Business School). Hartmut.Werner@hs-rm.de

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