Zeitgeschichte

Zum Gedenken an Fritz Bauer

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2023

Es ist erfreulich, dass der Name und die Bedeutung Fritz Bauers seit etlichen Jahren nicht mehr nur einem kleinen Kreis Interessierter bewusst ist und diesem großen Juristen seit einigen Jahren vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das fachbuchjournal hat sich bereits mehrfach mit Fritz Bauer beschäftigt (siehe „Im Fokus“ fbj 6/2014 sowie fbj 5/2017, fbj 1/2019, fbj 1/2021). U.a. haben Herta Däubler-Gmelin, Bundesjustizministerin a.D., und Erardo C. Rautenberg, bis März 2018 Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, beide engagiert-kritische sozialdemokratische Juristen, in Berichten, Rezensionen und im Interview die aktuelle Bedeutung der Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Werk hervorgehoben.

Veröffentlichungen über Fritz Bauer gab es vor allem in den letzten zehn Jahren. Bei näherer Betrachtung fällt aber auf, dass diese nur von einer Handvoll Personen bzw. Institutionen ausgingen, weiterhin dass relativ wenige davon sich inhaltlich mit den Aussagen Fritz Bauers auseinandersetzen. Dies ist umso erstaunlicher angesichts der Vielzahl seiner eigenen Publikationen. Er hat zwar nur wenige Bücher geschrieben. Wie schon die hochinteressante und verdienstvolle Herausgabe der „Kleinen Schriften“ zeigt, äußerte er sich aber keineswegs überwiegend zu strafrechtlichen Fragen, sondern in vielschichtiger Weise zu anderen wesentlichen die Öffentlichkeit bewegenden Themen seit 1921 – einschließlich Rechtspolitik und Rechtsphilosophie, Menschenrechte, Wirtschaftstheorie, internationale Beziehungen und Geschichte. Seine immer pointiert dargelegten Positionen waren mitunter nicht widerspruchsfrei. In ihrer Einführung zu den „Kleinen Schriften“ verweisen Lena Foljanty und David Johst beispielsweise auf den Gegensatz zwischen Fritz Bauers deterministischem Menschenbild und seinem ausgeprägten Glauben an die Korrigierbarkeit menschlichen Verhaltens mit wissenschaftlichen Methoden bis hin zu medizinischen Eingriffen einerseits und andererseits seiner entschiedenen Betonung individueller Entscheidungsfreiheit. Auch aus seiner Ablehnung von sowohl Rechtspositivismus als auch christlichem Naturrecht ergibt sich reichlich Forschungsbedarf.

Die drei nachfolgend angezeigten, 2022 erschienenen Bücher folgen anderen Fragestellungen: Das anlässlich des 25jährigen Bestehens des Fritz Bauer Instituts erschienene Bändchen entspricht der allgemeineren Aufgabenstellung des Instituts und hat vorwiegend dokumentarischen Charakter. Die beiden anderen Veröffentlichungen von Sebastian Hennel und Désirée Hilscher bewegen sich vorwiegend auf der Metaebene der Rezeptionsgeschichte Fritz Bauers, wobei Hilschers Untersuchung stark von ihrem pädagogisch-akademischen Ansatz geprägt ist.

Sybille Steinbacher (Hrsg.): 25 Jahre Fritz Bauer Institut. Zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen, Wallstein Verlag, 2022, 82 S., 12 Abb., Klappenbroschur, ISBN 978-3-8353-5077-9, € 14,90.

Nach politisch bewegten, ja aufregenden Jahren in Frankfurt am Main wurde 1995 hier das Fritz Bauer Institut gegründet. Band 2 der von Sybille Steinbacher im Auftrag des Instituts herausgegebenen Kleinen Reihe zur Geschichte und Wirkung des Holocaust befasst sich mit der Gründungsgeschichte. Sie wird im ersten Teil des schmalen Bändchens zusammengefasst. Der zweite Teil dokumentiert die Podiumsdiskussion vom 16. Januar 2020 zum Thema „Das Fritz Bauer Institut 1995 und 2020. Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen – damals und heute.“ Am Schluss werden die Mitwirkenden in biographischen Kurzportraits vorgestellt. Nach einem knappen aber instruktiven Vorwort von Sybille Steinbacher, seit 2017 und derzeit Direktorin des Fritz Bauer Instituts, Historikerin und Inhaberin des Lehrstuhls zur Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., beschreibt Katharina Rauschenberger, ebenfalls Historikerin und seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fritz Bauer Instituts, unter der Überschrift „Produktive Störung“ den intensiven Diskussionsprozess bis zum Gründungsakt am 15. Januar 1995 im Frankfurter Schauspielhaus. 1989 hatte Volker Hauff, seinerzeit Oberbürgermeister von Frankfurt am Main (SPD), die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel besucht, was ihn zur Initiierung einer ähnlichen Institution anregte. Anfang 1995 kam es dann zur Gründung unter dem erst später gewählten Namen als „interdisziplinäre Forschungs- und Bildungseinrichtung“ und laut Steinbacher „das erste Studien- und Dokumentationszentrum in Deutschland, das sich ausschließlich mit der Geschichte und der Wirkungsgeschichte der nationalsozialistischen Verbrechen befasst.“ (S. 8). In den vorausgegangenen Veröffentlichungen, Tagungen und Diskussionsveranstaltungen ging es um die Zielsetzung, inhaltliche Ausrichtung, den Standort und nicht zuletzt die Finanzierung. Eine wesentliche Rolle spielte ein umfangreiches, 1991 von Hanno Loewy, dem Gründungsdirektor des Instituts, vorgelegtes Gutachten. Es befürwortete die Ausrichtung als Lern-, Studien- und Dokumentationszentrum, Fortbildungseinrichtung sowie Dauer- und Wechselausstellungsbetrieb jedoch nicht als rituelle Gedenkstätte; eigene Grundlagenforschung solle nicht betrieben werden. Die damalige Frankfurter Kulturdezernentin Linda Reisch initiierte eine Expertengruppe, die 1992 erstmals den Namen Fritz Bauers ins Spiel brachte. Obwohl er bis zu seinem Tod 1968 als Generalstaatsanwalt in Frankfurt tätig gewesen war und der von ihm bewirkte große Auschwitz-Prozess (1963–1965) großes Aufsehen erregt hatte, sei sein Name selbst in Frankfurt erläuterungsbedürftig gewesen (S. 9). 1993 wurde „mit großer öffentlicher Unterstützung unter anderem von Ignatz Bubis und Michel Friedman ein Förderverein … gegründet.“ 1996 konstituierte sich ein beachtlicher Wissenschaftlicher Beirat unter Vorsitz von Norbert Frei.

Die damaligen Debatten und die Arbeit des Instituts der letzten 25 Jahre ließ die Podiumsdiskussion von 2020 Revue passieren. Die Diskutanten, damals wie heute teils direkt institutionell, teils wegen ihrer Tätigkeit in thematisch verwandten Bereichen beteiligt, äußerten sich vorsichtig optimistisch zu der Frage, ob das Fritz Bauer Institut eine Erfolgsgeschichte sei. Seinen Briefwechsel mit Hermann Lübbe – der Historikerstreit der Jahre 1986/87 zeigte noch Wirkungen – bezeichnete Hanno Loewy als seinerzeit „wirklich ein sehr gepflegtes Aneinander-vorbei-Reden“ (S. 43). Für Norbert Frei war der Gründungsimpuls „Teil und Ausdruck der Bewusstwerdung der deutschen Gesellschaft mit Blick auf den Holocaust“ (S. 49). Volkhard Knigge, ehemals Beiratsmitglied und u.a. Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, sah „Begreifen, Vermitteln, Reflexion, Bewusstsein, gesellschaftliche und politische Konsequenzen“ als zentrale Mission (S. 53). Hinweise auf Antisemitismus damals und heute, Migration, den Nahost-Konflikt und das Verhältnis zu Israel durften nicht fehlen. Jutta Ebeling ersparte sich nicht einen Seitenhieb auf Alexander Gauland, der sich den Tenor des „sehr scharfen ausländerfeindlichen Kommunalwahlkampf[s] der CDU“ 1988 „mit latent antisemitischen Tönen“ bewahrt habe (S. 40/41). „Dass ein CDU-Minister, Boris Rhein, hier in Frankfurt die Holocaust-Professur eingerichtet hat“, bezeichnete sie als „Lernfortschritt“ (S. 77).

Gauland wird auch in dem Bericht Katharina Rauschenbergers erwähnt (S. 26): Es möge heute überraschen, dass zu dem internationalen dreitägigen Hearing im Oktober 1991 über die Auseinandersetzung mit und das Gedenken an den Holocaust „auch ein Repräsentant der Hessischen Staatskanzlei geladen war, den man dort nicht erwarten würde. Alexander Gaulands Redebeiträge weisen ihn als Befürworter der dort diskutierten Institution aus“. Die institutionelle Anbindung an die Frankfurter GoetheUniversität durch die Einrichtung einer Professur zur Geschichte und Wirkung des Holocaust half dem Fritz Bauer Institut vor einigen Jahren in einer existenzgefährdenden Krise. Das Weiterbestehen als vom Land Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und vom Förderverein getragene Stiftung gilt als gesichert. (ldm)

 

Sebastian Hennel: Das Erbe von Fritz Bauer. Öffentliche Wahrnehmung justizieller „Vergangenheitsbewältigung“, Tectum Verlag, 2022, 144 S., € 36,00, E-Book ISBN 978-3-8288-7880-8, broschiert ISBN 978-3-8288-4774-3.

Der hier anzuzeigende Titel erscheint unter der Bezeichnung „Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Geschichtswissenschaft, Band 54“ in der renommierten Nomos-Verlagsgruppe. Im Vorwort bescheinigt Jan Erik Schulte, Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum, der sich mit zahlreichen Schriften und Tätigkeiten betreffend die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust sowie die deutsche Erinnerungskultur nach 1945 einen Namen gemacht hat, der Autor Sebastian Hennel komme „zu differenzierten und überzeugenden Ergebnissen“ (S. VII).

Was die so eingestimmte Leserschaft jedoch erwartet, ist eine mit schwer erkennbarer Gedankenführung und sprachlich eklatant unzulänglich vorgetragene Darstellung von Sekundärliteratur über Fritz Bauer und die wichtigsten NS-Prozesse nach 1945, und zwar ohne hinreichende Einordnung der jeweiligen Aussagen in ihrer Bedeutung für die erklärte Fragestellung. Die sprachlichen Mängel sind so gravierend, dass der Text mitunter schlicht unverständlich ist. Die meisten Fehler hätte schon das primitiv­ ste digitale Rechtschreibprogramm finden müssen, das offenbar auch der Verlag nicht für zumutbar hält. Selbst der Vorname des Autors auf S. IV enthält einen Schreibfehler. Den Mangel an Grundkenntnissen in Grammatik (u.a. Singular-Plural, Personal- und Relativpronomen), Satzbau und Wortbedeutungen, die Ignoranz gegenüber den Möglichkeiten der deutschen Sprache wie unterschiedlichen Vergangenheitsformen oder Konjunktiv I bzw. II könnte man als letztlich unerhebliche Formalien abtun. Bei einigen Grundbegriffen aus Strafrecht, Prozessordnung und Gesetzgebung geht einiges durcheinander; das soll man dem Autor wohl als Historiker und Nicht-Juristen durchgehen lassen. Diese Negativmerkmale summieren sich tatsächlich aber zu dem Schluss, dass der Autor die eigentliche Fragestellung nicht inhaltlich durchdrungen hat und grundlegenden wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht wird.

Erklärtermaßen will Hennel untersuchen, welches Erbe uns Fritz Bauer hinterlassen hat und inwieweit die von ihm angestrebten Ziele – juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, erzieherische Aufklärung über das grausige Geschehen und Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates – verwirklicht wurden. Mit welchem Handwerkszeug der Verfasser hierbei ans Werk gegangen ist, ja um wen es sich bei Hennel eigentlich handelt, wird an keiner Stelle offengelegt. In sieben Kapiteln werden ausnahmslos bereits bekannte Tatsachen der Nachkriegsgeschichte (alliierte Gesetzgebung und Rechtsprechung, Verfahren mit NS-Bezug vor bundesdeutschen Gerichten, Eichmann in Jerusalem, Demjanjuk), der Medienberichterstattung,

Umfrageergebnisse über Fritz Bauer aufgezählt. Allein der Fußnotenapparat entspricht wissenschaftlichen Anforderungen; die Fußnoten sind lesefreundlich am Seitenende untergebracht, das letzte Kapitel enthält ein beeindruckendes Literatur- und Quellenverzeichnis. Dies alles bleibt jedoch ohne sichtbares Forschungsergebnis. Zudem drängt sich der Eindruck von Sekundärzitaten bzw. nicht selbst erarbeiteten Quellen auf.

Wo sich der Autor mit wenigen, dabei gewagten Thesen hervortut, verstärken diese den negativen Gesamteindruck. Im Kapitel über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse behauptet er ohne Beleg, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung habe „Bauer mehr als Juden statt in seiner Rolle als Richter“ wahrgenommen (S. 58). Hinsichtlich der von Fritz Bauer im Rahmen der Prozessvorbereitung eingeholten historischen Sachverständigengutachten macht sich Hennel die Aussage von Sabine Horn zu eigen, dass diese „bis ins Jahr 1963 die einzige systematische deutschsprachige Forschungsarbeit zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern“ bildeten. Bereits Jahrzehnte zuvor veröffentlichte Arbeiten wie „Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager“ (Eugen Kogon, 1946) sind ihm dabei offenbar entgangen.

Besonders negativ schlägt zu Buche, wie Hennel die grundlegende Strafrechtsproblematik der NS-Prozesse behandelt. Vehement betont er einen rechtsdogmatischen Gegensatz zwischen Fritz Bauers Intention, das verbrecherische NS-System als solches vor Gericht zu stellen, und der subjektiven Täterschaftstheorie des hergebrachten deutschen Strafrechts. Dabei zeigt sich jedoch (wie übrigens auch an Hennels Darstellung der Verjährungsdebatten, insbesondere der skandalösen Neufassung des § 50 StGB als Teil eines unverdächtig wirkenden Artikelgesetzes, und an seinem vollkommen misslungenen halbseitigen Exkurs zur Radbruchschen Formel), dass er von diesem Thema offenbar theoretisch überfordert ist. Die einschlägige und bahnbrechende Arbeit „Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate“ von Claus Roxin, des wohl bedeutendsten deutschen Strafrechtlers der letzten Jahrzehnte, wird zwar erwähnt aber keineswegs genutzt. Stattdessen behauptet Hennel, Fritz Bauer habe für NSTäter einen „kurzen Prozess“ mit quasi vorgestanztem Urteil angestrebt.

In Kapitel 8 „Fazit“ findet sich auf wenig mehr als sechs Seiten eine ansatzweise wertende Zusammenfassung, jedoch ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn. Sie endet mit dem ebenso wohlfeilen wie ausführlichen Appell, „sich auch weiterhin mit dem noch offenen Forschungsfeld der nationalsozialistischen Justizverfahren zu beschäftigen und ein gewisses Maß an Sensibilität zu transportieren, um Formen von Extremismus und Diskriminierung entgegenzutreten.“

Die Lektüre hinterlässt eine ratlose Rezensentin. Das (nicht vom Autor verantwortete) vielversprechende Vorwort, die Einleitung und das Fazit sind in sich einigermaßen stimmige Texte, das Literatur- und Quellenverzeichnis für gesonderte Zwecke nutzbar, der Rest aber einfach nur ärgerlich. Falls es einen für wissenschaftliche Veröffentlichungen üblichen Review gegeben haben sollte, sei eindringlich an die „Peers“ appelliert, in Zukunft mehr Sorgfalt walten zu lassen. Auf jeden Fall gilt dies für den Verlag, falls sich hier noch jemand zuständig fühlt. (ldm)

 

Désirée Hilscher: Den Helden geschaffen. Fritz Bauers Rückkehr ins kollektive Gedächtnis, Wallstein Verlag, 2022, 176 S., Klappenbroschur, ISBN 978-3-8353-5319-0, € 18,00.

Die überarbeitete Fassung einer 2020 an der Universität Fribourg und der Pädagogischen Hochschule Luzern eingereichten Masterarbeit im Fach Geschichtsdidaktik und öffentliche Geschichtsvermittlung erscheint als Band 3 der in der vorstehenden Rezension von Band 2 genannten Reihe des Fritz Bauer Instituts. Die Arbeit steht in deutlichem und mehrfachem Gegensatz zu der vorstehend beschriebenen, von Tectum und Sebastian Hennel verantworteten Publikation:

Die klare Struktur, die auch äußerlich saubere Gestaltung, der Fußnotenapparat und der zwischen unterschiedlichen Quellen sowie Forschungsliteratur differenzierende Anhang entsprechen den Erwartungen an eine wissenschaftliche Arbeit. Die Auslagerung von Details in die Anmerkungen unterstreicht die Präsenz der Gliederung bei der Lektüre. Diese wird auch dadurch erleichtert, dass die Fußnoten jeweils lesefreundlich auf derselben Seite untergebracht sind.

Die Einleitung stellt zunächst die Forschungsfrage „Warum … erinnert sich die Öffentlichkeit plötzlich an Fritz Bauer, und dann auch noch als einen Helden?“ (S. 7) und „Wie vollzieht sich die Rückkehr Bauers in das kollektive Gedächtnis?“ (S. 9) Sodann referiert Hilscher den Stand der Forschung und nennt weiter die anhand von drei Kriterien entwickelte Arbeitshypothese. Danach erinnert sich die Öffentlichkeit aus zwei Gründen wieder an Fritz Bauer: „Erstens, vergangene Erfahrungen oder Ereignisse werden in der Gegenwart erstmals oder erneut bedeutsam, und zweitens, die Öffentlichkeit kann Bauer nunmehr in veränderte Diskurse einbinden, wie sie es vorher nicht konnte.“ (S. 24) Kriterien für die Stichhaltigkeit beider Gründe seien die Kriterien „Brauchbarkeit und Sinnhaftigkeit“, „Diskursive und lebensweltliche Anschlussfähigkeit“ sowie „Verbreitungsattraktivität“. Schließlich beschreibt Hilscher in der Einleitung, welcher Methodik sie gefolgt ist und welche Quellen sie benutzt hat.

Dieser Gliederung folgen die weiteren vier Kapitel „1968– 2010: Vom Reformer zum Initiator“ (2), „2010–2020: Vom Gestalter und Nazi-Jäger zum Helden“ (3), „Erinnerungskollektive und historische Sinnbildungen im Wandel“ (4) und „Fazit: Erfolgreiche Anpassung oder Schwanengesang?“ (5).

Die Darstellung zeugt von einer sorgfältigen Recherche und Rezeption der Quellen. Sie ergibt ein reichhaltiges Kaleidoskop der Verlautbarungen über Fritz Bauer in Presse, Rundfunk, Fernsehen, Veranstaltungen, Filmen, Kunst und Propaganda im In- und Ausland, auch viele sicherlich zwischenzeitlich verschüttete Details. Sie überzeugt in weiten aber nicht allen Teilen. Die „klassische Erinnerungsschule“ streite ab, „dass Fritz Bauer seiner jüdischen Herkunft Bedeutung beimaß, homosexuell war und einen Treueeid auf die NS-Machthaber geleistet“ habe. (S. 138) Hilscher sieht dagegen, offenbar in zustimmender Anlehnung an die Biografie von Ronen Steinke Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, wesentliche „lebensweltliche Anschluss- und Erinnerungsmöglichkeiten mit Fritz Bauer“ darin, von ihm als „Angehörigen nach wie vor diskriminierter Gruppen, vom Opfer der NS-Vernichtungspolitik sowie vom Pionier homosexueller Emanzipation“ (S. 145) zu sprechen. „Die Opferzuschreibung kombiniert mit dem bisherigen Verständnis als gestaltendem Akteur eines Fortschrittsprozesses ergibt die Deutung und Sprache von Bauers Opferbereitschaft und Heldentum.“ (S. 145) In dem Wunsch der Gesellschaft, sich von der NS-Diktatur, ihrer Verbrechen und der damaligen kulturellen Orientierungen zu distanzieren, auch zeitlich, und ihrem „relationalen Bedürfnis nach positiver Selbstrepräsentation“ vermutet die Verfasserin die Antwort auf ihre Eingangsfrage. Auch aus der von Hilscher konzedierten dürftigen Quellenlage betreffend das Privatleben Fritz Bauers ergibt sich Spielraum für weitere Forschungen. Als sich 2018 sein Todestag 1968 zum 50. Mal jährte, war die Aufmerksamkeit besonders groß. Falls es eines weiteren Anlasses bedarf, sich mit Person und Werk Fritz Bauers zu beschäftigen: 2023 liegt der Beginn des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main 60 Jahre zurück. (ldm)

Lena Dannenberg-Mletzko (ldm) war bis zu ihrem Ruhestand Notariatsvorsteherin in einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main.
lena.dannenberg@t-online.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung