Der 80. Geburtstag des Kinderbuchautors Paul Maar Ende vergangenen Jahres hat eine beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren. Am bekanntesten dürften den aus dem Unterfränkischen stammenden und seit langem in Bamberg lebenden Schriftsteller, Stückeschreiber, Zeichner und Illustrator wohl die Sams-Bücher gemacht haben. Der erste Band „Eine Woche voller Samstage“ erschien 1973 und erfuhr 1980 eine erste, 1992 eine zweite Fortsetzung. Es geht um den schüchternen und ängstlichen Herrn Taschenbier, der bei der gestrengen Frau Rotkohl zur Untermiete wohnt und eines Samstags von einem seltsamen Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier aufgesucht wird. Das Sams nistet sich bei Taschenbier ein, sieht in ihm den Papa, ist lustig, frech und unverschämt und richtet Chaos an, wo es nur geht. Es kann Wünsche von Herrn Taschenbier erfüllen, was jeweils einen der blauen Wunschpunkte in seinem Gesicht kostet. Länger als eine Woche dauert der Spaß nicht, doch lässt sich das Sams zurückholen, was Stoff für zwei weitere Bände liefert.
Petra Josting, Iris Kruse (Hrsg.): Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015, Paderborner Kinderliteraturtage 2016. München: kopaed, 2016, 336 S. ISBN 978-3-86736-355-6. € 20
Günter Lange: Paul Maars Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2007, 126 S. ISBN 978-3-8340-0198-6. € 16
Paul Maar: Vom Lesen und Schreiben. Reden und Aufsätze zur Kinderliteratur. Hamburg: Oetinger, 2007, 206 S. ISBN 978-3-7891-4259-8. € 14,90
Andreas Wicke, Nikola Roßbach (Hrsg.): Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, 305 S. ISBN 978-3-8260-5971-1. € 48
Im Zentrum der ab Mitte der 1990er Jahre erscheinenden Sams-Bücher steht der zehnjährige Martin, Sohn von Herrn Taschenbier, der Ende des dritten Bandes sein Junggesellendasein endlich loswerden konnte. Die Vermarktung unter dem Sams-Label täuscht darüber hinweg, dass wir es bei „Ein Sams für Martin Taschenbier“ von 1996 und seinen mittlerweile zwei Nachfolgebänden (2002-2009) mit einer ganz anderen Literaturgattung zu tun haben: mit klassischen Kinderromanen, wie wir sie von Erich Kästner kennen, sei es in Form der Schulgeschichte, der Detektivgeschichte oder der Freundschaftsgeschichte. Die Einbindung des grotesk-bizarren Sams und seiner magischen Fähigkeiten in diese realistische Erzählgattung wirkt bisweilen zufällig, wie das phantastische Wesen generell zur Nebenfigur herabsinkt. Man hat den Eindruck, dass der Autor schon auf Druck seitens des Verlags von seiner prominentesten Erfindung nicht loskommen kann. Mit den Martin Taschenbier-Büchern hat Paul Maar jedenfalls Entscheidendes zur Wiederbelebung des klassischen Kinderromans beigetragen, der in den 1970er Jahren arg infrage gestellt worden war.
Dabei hat sich Paul Maar zwischenzeitlich auch dessen programmatischen Widerpart angenommen: Mit dem Titel „andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern“ von 1976 (und einer Reihe kürzerer Erzählungen) hat der Autor einen exzellenten Beitrag zur Gattung des modernen psychologischen Kinderromans geliefert, bei dem es sich um die Lieblingsgattung der Kritik der 1970er bis 1990er Jahre handelte. Überboten hat er dies noch mit seinem psychologisch realistischen und zugleich zeitgeschichtlichen Jugendroman „Kartoffelkäferzeiten“ von 1990, der zu den deutschsprachigen Höhepunkten dieses Genres gezählt werden darf.
Damit tritt eine grundlegende Eigenschaft dieses Autors zutage: Es dürfte kaum eine althergebrachte wie moderne Literatur- bzw. Buchgattung der Kinder- und Jugendliteratur geben, für die Paul Maar sich nicht interessiert, an der er sich nicht erprobt hat (die sog. Fantasy ausgenommen). Die Resultate seines breitgestreuten, vom Bilder- bis zum Sachund Beschäftigungsbuch, vom ABC-Vers bis zum NonsenseGedicht, von der Tiergeschichte und dem Märchen bis zur Bildgeschichte reichenden literarischen Experimentierens sind stets mustergültig geraten und dürfen als geradezu klassisch bezeichnet werden. Dass der Autor seit den 1970er Jahren auch noch zu den renommiertesten und meistgespielten Kindertheaterautoren zählt, sei hier nur am Rande erwähnt. Überboten wird all dies noch durch Paul Maars reges Interesse und der aktiven Beteiligung an der Verfilmung seiner Werke; seine überaus geglückte Zusammenarbeit mit Filmemachern liefert den Beweis dafür, dass ein Schriftsteller auch bei der Mediatisierung seiner Produkte das Heft in der Hand behalten kann.
Erwähnt werden sollen schließlich noch einige größere Werke: Der bekannte phantastische Kinderroman „Lippels Traum“ von 1984 stellt Maars weitestgehende Annäherung an romantische Traditionen dar, denen er ansonsten ziemlich fern steht. Das Buch lässt sich als eine Apotheose literarischer Phantasiewelten lesen und damit als kleine Fortsetzung von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, von Bastians Traum also. In noch wörtlicherem Sinn als das Sams, der auch einmal kurzzeitig ein Hund war, pendelt der Titelheld der „Herr Bello“-Trilogie (2005, 2006 u. 2008) zwischen Tierund Menschsein hin und her, ohne im einen das jeweils andere zu leugnen. Das bringt Aufregung und Durcheinander in das Leben des zehnjährigen Apothekersohns Max, der sich als ein literarischer Bruder Martin Taschenbiers erweist. In „Der Galimat und ich“ von 2015 wird der zehnjährige Jim Brown versehentlich von einer Art Miniroboter heimgesucht, der über eine Reihe magischer Fähigkeiten verfügt. Während „Lippels Traum“ aus dem Rahmen fällt, weisen die Kinderromane über Martin, Max und Jim gemeinsame Züge auf. In allen Fällen mischt sich ein an sich unmögliches, aller Ordnung und Vernunft widersprechendes Wesen in die Welt der kindlichen Helden ein, um alles Gewohnte und nicht zuletzt die eigene Identität infrage zu stellen.
Seit den frühen 1990er Jahren ist Paul Maar Stammgast an deutschen Universitäten und Akademien. Er hat eine nicht unbeträchtliche Zahl an Poetikvorlesungen und Einzelvorträgen absolviert, eine Fülle von Interviews gegeben und sich auf viele, teils sehr ausführliche Gespräche eingelassen. Man darf ihn uneingeschränkt und ohne jeglichen Unterton als den gelehrtesten Kinderschriftsteller deutscher Sprache bezeichnen. Damit tritt neben seine vielseitige literarische, künstlerische und mediale Begabung eine weitere Doppelbegabung hinzu: die von schaffendem Künstler und reflektierendem Wissenschaftler. Dass Paul Maar dies weit von sich weisen dürfte, darf einen nicht irritieren; es beweist nur, dass wir es hier nicht mit eitler Selbstpromotion zu tun haben, sondern mit einem aufrichtigen Interesse daran, die eigene künstlerische Tätigkeit nachträglich zu verstehen. Dieser Autor drängt sich nirgendwo auf, doch lässt er sich auf Einladungen dieser Art gerne ein, weil diese ihm allem Anschein nach selber etwas bringen. Die geäußerten Fragen veranlassen ihn nur zu oft, über etwas nachzudenken, was ihm zuvor noch nicht als Nachdenkens wert erschienen war. Dass er sich bisweilen von wissenschaftlichen Autoritäten hat einschüchtern lassen, ärgert ihn nachträglich. Doch besteht dazu keinerlei Grund: Paul Maars Äußerungen über seine Biographie, seine literarische und künstlerische Sozialisation, über literarische Gewährsmänner, über intertextuelle Bezüge in seinen Werken, über seine Arbeiten für Bühne, Hör- und Computerspiel und Film aus über mehr als zweieinhalb Jahrzehnten stellen die mit Abstand beste literaturkritische Aufarbeitung seines vielseitigen Oeuvres dar. Viele dieser Äußerungen sind in dem Band „Vom Lesen und Schreiben. Reden und Aufsätze zur Kinderliteratur“ von 2007 zusammengefasst, der immer noch zu erwerben ist und den anzuschaffen sich wahrlich lohnt.
Bei so viel Gelehrsamkeit lässt die akademische Gegenliebe nicht lange auf sich warten. Seit den 1990er Jahren gehört Paul Maar zu den Lieblingsautoren universitärer Forschung, insonderheit der Literaturdidaktik. Zu den ersten Paul MaarSpezialisten zählen der Reutlinger Anglist Reinbert Tabbert und der Braunschweiger Literaturdidaktiker Günter Lange, dessen Beiträge 2007 in dem Band „Paul Maars Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I“ gesammelt erschienen. Anfänglich bedauerlicherweise kaum wahrgenommen wurden die luziden Maar-Interpretationen der Freiburger Erziehungswissenschaftlerin Jenny Wozilka, die 2006 in ihrer Monographie „Komik und Gefühl in der Kinderkultur“ enthalten waren.
Mittlerweile hat eine zweite (und jüngere) Generation von Paul Maar-Forschern die Bühne betreten. Diese präsentiert sich in zwei 2016 bzw. 2017 erschienenen voluminösen Sammelbänden, die im Anschluss an Poetikvorlesungen Paul Maars an der pädagogischen Hochschule Heidelberg wie an den Universitäten Bielefeld und Kassel zusammengestellt worden sind. Das erste Wort gehört beide Male dem Kinderbuchautor: Der von Petra Josting (Bielefeld) und Iris Kruse (Paderborn) herausgegebene Band eröffnet mit einem umfangreichen „Paderborner Autorengespräch mit Paul Maar“, die im Jahr darauf von Andreas Wicke und Nicola Roßbach (Kassel) besorgte Sammelpublikation gibt an erster Stelle Paul Maars „Antrittsvorlesung als Brüder-Grimm-Professor an der Universität Kassel 2015“ wieder. Sowohl das Interview wie die Vorlesung stellen bedeutsame Fortführungen der Reflexionen des Autors dar, die sich nun auch auf seine jüngeren Kinderbücher beziehen. Die Beiträge der Forscherinnen und Forscher zeigen bei allem Bemühen, die Breite des Maar‘schen Oeuvre abzudecken, doch gewisse Brennpunkte. Der Blick auf den Erzähler Paul Maar bietet Gelegenheit, die Forschungsrichtung der Narratologie und der Erzähldidaktik in Geltung zu bringen. Daneben findet die Modeströmung der Intertextualitätsforschung im kinderliterarischen Werk Paul Maars reichhaltigen Anlass, ihr Methodenrepertoire auszubreiten. Die zahlreichen Verfilmungen, Hörspielfassungen und Computerspielversionen der Kinderbücher dieses Autors schaffen ein ideales Anwendungsfeld für die Medienadaptionsforschung, die sich für einen multimedialen Deutschunterricht stark macht. Wie für die Paul Maar-Forschung insgesamt, so gilt auch für die zuletzt genannten drei Spezialisierungen, dass deren Initialzündung und Schlüsselbegriffe vom Autor selbst in die Welt gesetzt worden sind. Wer sich mit den theoretischen Äußerungen Paul Maars befasst hat, wird in der älteren wie der jüngeren Erforschung dieses Autors auf keine grundsätzlich neuen Perspektiven stoßen. Vielfach werden die Stichworte des belesenen und gelehrten Autors nur ausbuchstabiert, dabei nicht selten verkompliziert.
Das auf Rotation beruhende Prinzip des „poet in residence“ bzw. der Poetikdozenturen befördert eine Art von Schnellzugriff auf Autor und Werk, dem eine gewisse Kurzatmigkeit anhaftet. Wer von den Beiträgern beider Sammelbände würde sich schon als ausgewiesenen Paul Maar-Forscher bezeichnen, Andres Wicke vielleicht ausgenommen? So wirken manche Beiträge seltsam unentschieden, wie auch nicht alles schon Publikationsreife erlangt hat. Charakteristikum der jüngeren Forschergeneration ist deren Hang zu immer ausgeklügelter, mit Fachtermini überfrachteter Deskription, die an einem Punkt endet, an welchem es eigentlich erst losgehen müsste – mit der Interpretation, der Kontextualisierung und der Wertung. So hinterlassen die jüngst erschienenen Sammelbände einen etwas zwiespältigen Eindruck.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Heino Ewers leitete bis Ende 2014 das Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main und lehrte anschließend bis 2017 im Fachbereich Erziehungswissenschaften.
ewers@em.uni-frankfurt.de