Landeskunde

Zeitreisen in Geschichtsräume: Der Philosophenweg in Kyōto

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2022

Ryōsuke Ōhashi, Der Philosophenweg in Kyōto. Eine Entdeckungsreise durch die japanische Ästhetik. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2019. 224 S., geb., ISBN 978-3-495-49011-2. € 34,00.

    Der Autor dieses Buchs gehört zu den namhaftesten Philosophen in Japan. Nach dem Studium in Kyōto setzte er dieses in München fort, wo er mit einer Arbeit über Schelling und Heidegger promoviert wurde. In Würzburg hat sich Ōhashi 1983 mit einer Studie über Hegels Logik habilitiert. Danach wirkte er lange an der Technischen Universität in Kyōto. Zeitweilig war er Direktor des Japanischen Kulturinstituts in Köln. Ein von ihm herausgegebener Band zur Kyōto-Schule der japanischen Philosophie ist heute ein Standardwerk. Man darf Ōhashi als wichtigen Brückenbauer zwischen der japanischen und deutsch-europäischen Wissenschaft bezeichnen.

    Das vorliegende Buch ist kein Reiseführer für Intellektuelle, sondern ein Wegweiser zu Orten des Denkens, an denen sich die japanische Ästhetik ausgeformt hat. In diesem Sinne geht der Autor mit seinen Lesern nicht den ca. zwei Kilometer langen, im Osten Kyōtos gelegenen Philosophenweg entlang, sondern führt an Orte – Tempel, Gärten, Gräber oder Monumente –, die, am Weg gelegen, in der japanischen Geistes- und Kulturgeschichte eine besondere Bedeutung beanspruchen können. Seine Entstehung verdankt der Weg einer Bürgerinitiative im Jahr 1972, wobei unklar ist, ob das Vorbild des Heidelberger Philosophenwegs hier maßgebend war oder die Tatsache, dass der berühmte Philosoph Kitarô Nishida (1870–1945) hier gelegentlich einen Spaziergang unternahm. Der Weg führt an einem kleinen Kanal entlang, über dessen Brücken man auch Ausflüge in etwas abseits gelegenere „Orte des Denkens“ unternehmen kann.

    Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste umfasst fünf Kapitel, die sich dem vormodernen Japan widmen. Ōhashi führt uns zum Grab des Kaisers Reizei (950–1011) und beschreibt dieses als Ort der Schönheit, weil Natur und Architektur hier einen „harmonischen Kontrast“ bilden. Weiter geht es zu einer Steele, die an den Priester Shunkan (1143– 1179) erinnert, der sich als treuer Gefolgsmann des Kaiserhauses an einer Verschwörung gegen die Kriegersippe der Taira beteiligte und dafür ins Exil geschickt wurde. Später, im 20. Jahrhundert, wurde er von Anhängern der nationalistischen Rechten für seine Taten gefeiert. Als nächstes macht der Autor am reizenden Anraku-Tempel Station, dernicht direkt am Wege liegt und deshalb von Spaziergängern leicht übersehen wird. Mit stupender Gelehrsamkeit geht Ōhashi in diesem Kapitel, das zu den besten des Buchs zählt, anhand der Geschichte des Tempels dem Schicksal von zwei Hofdamen nach, die sich von zwei Priestern des Reformbuddhismus in der Kamakura-Zeit (1192–1333) betören ließen und eine Art weiblich-religiöser Emanzipation anstrebten. Sie ließen sich ohne Erlaubnis des Kaisers die Haare scheren und wollten als Angehörige der „Schule des Reinen Landes“ für den neuen Glauben werben. Viel lernen die Leser des Buchs hier über die Reformbewegungen, die den Buddhismus ins Volk tragen wollten. Dass der „Heian-Buddhismus“ in dieser Zeit vom „Kamakura-Buddhismus“ „ersetzt“ worden sei, wie Ōhashi schreibt (S. 57), darf man indes bezweifeln. Die älteren Schulen in Nara und Kyōto blieben auch in der Kamakura-Zeit nicht ohne Einfluss. Die nächsten Kapitel beschreiben am Beispiel des Sh¯ogun Ashikaga Yoshimasa (1436–90), wie sich trotz des Bürgerkriegs in Kyōto dort gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine eigene Kultur herausgebildet hat, besonders eindrucksvoll sichtbar am Ginkakuji, dem „Tempel des silbernen Pavillons“, der heute zu den touristischen Attraktionen der Stadt gehört. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Beitrag über Sōjun, Tochter eines Prinzen, die im Übergang von der Edo- zur modernen Meiji-Zeit als Missionarin für den Staatsshintō gewirkt hat, am Philosophenweg aber in einer buddhistischen Grabanlage bestattet ist. Im zweiten Teil des Buchs geht es um Relikte, die auf Spuren des Denkens in der Moderne verweisen. Ōhashi schlägt hier die Brücke von Nishida zu Goethe und deutet Nishidas Übersetzung von Goethes Gedicht „Über allen Gipfeln / ist Ruh’“. Nishida ließ dieses Gedicht, das er selbst übersetzte, in den Grabstein eines anderen Philosophen, Shûzō Kuki (1888–1941), inskribieren. Ōhashi betont dabei Nishidas eigenwillige Übersetzung, da sie den Passus „ist Ruh’“ ausspart. Sie sei getragen von einem zentralen Begriff seiner Philosophie: dem der „reinen Erfahrung“; dementsprechend wird die Stille „konkret und real“, d.h. frei und mit anderen Worten übersetzt. Um Kuki, der auf dem Friedhof des Hōnen-in begraben ist, geht es im nächsten Kapitel. Er (und der Dichter Jun’ichirō Tanizaki, 1886–1965) haben entscheidend dazu beigetragen, die japanische Ästhetik philosophisch und dichterisch zu formen. Dafür stehen die Begriffe „iki“ (vom Autor im Japanischen belassen, im Deutschen gelegentlich als „Eleganz“, „Schick“ oder „Feinheit“ übersetzt) und das „Lob des Schattens“ (Tanizaki). Die „Ästhetik des Wassers“ wird am Beispiel von zwei Malern illustriert, welche im modernen Japan der „Japanischen Schule“ angehörten, die sich von den westlichen Einflüssen, etwa durch den französischen Impressionismus, absetzte. Das religiöse Stift Itt ¯oen, die Steinmonumente mit Gedichten, welche den Wandel der Jahreszeiten preisen, und die Tempelarchitektur sind weitere Themen, denen der Autor auf seinen Expeditionen entlang des Philosophenwegs in Kyōto nachspürt. Im letzten Kapitel wird über den Philosophen Eugen Herrigel (1884–1955) noch einmal eine Brücke zu Heidelberg geschlagen. Herrigel, der zwischen 1924 und 1929 in Sendai lehrte und sich mit dem Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ einen Namen machte, kam bei einem Besuch in Kyōto auch in Kontakt zu Nishida und seinen Schülern, von denen einer Mitte der 1920er Jahre im Hause des Vaters von Eugen Herrigel auf dem Philosophenweg in Heidelberg wohnte. Wer bei der Lektüre des angehängten Texts „Der Philosophenweg als Gourmet-Weg“ im wahrsten Sinne des Wortes auf den Geschmack gekommen ist, der muss sich angesichts der aktuellen Reisebeschränkungen wohl oder übel mit einem guten japanischen Restaurant in einer deutschen Großstadt begnügen. Wer in Zukunft aber eine Reise nach Kyōto plant, der sollte dieses gelehrte und schön bebilderte Buch vorher unbedingt einmal zur Hand nehmen. (wsch)

    Der Historiker Wolfgang Schwentker (wsch) ist Professor Emeritus an der Universität Ōsaka. Er lehrte dort von 2002 bis 2019 vergleichende Kultur- und Ideengeschichte und ist Mitherausgeber der „Neuen Fischer Weltgeschichte“. Im Herbst 2022 erscheint im Verlag C. H. Beck sein neues Buch, eine „Geschichte Japans“.

    schwentker@hus.osaka-u.ac.jp

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