Recht

Wo liegt Plettenberg?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Reinhard Mehring (Hrsg.): Carl Schmitt, Ernst-Wolfgang Böckenförde – Welch gütiges Schicksal, Briefwechsel 1953-1984. Nomos Verlag, Baden-Baden 2022, geb., 871 S., ISBN 9783848784271, € 169,00.

    Der 1930 in Kassel geborene und 2019 in Au im Breisgau verstorbene Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte wie wenige Rechtswissenschaftler auch in seiner Rolle als öffentlicher Intellektueller nicht nur die Staatsrechtslehre der Bonner Republik. Sein berühmtes „Diktum“, der freiheitliche Verfassungsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen könne, sein freiheitssicherndes Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung, seine vitale Entfaltung katholischer Sozialethik gehören zum bleibenden Inventar in der politischen Ordnung der Berliner Republik. Der 1888 in Plettenberg geborene und dort 1985 verstorbene Carl Schmitt bereicherte in seinem sprachgewaltigen Werk zunächst die Staatsrechtslehre der Weimarer Republik mit der „Politischen Theologie“, der Freund-Feind-Unterscheidung, der verfassungsdesavouierenden Dezision im Ausnahmezustand. Nach 1933 avancierte Schmitt zunächst zum viel beschworenen „Kronjuristen“ des Dritten Reiches, war Antisemit und schuf mit seiner Großraumordnung einen Versuch zur völkerrechtlichen Legitimation des Angriffs- und Vernichtungskrieges. Nach dem Krieg, vom institutionellen Wissenschaftsbetrieb letztlich formal isoliert, prägte Schmitt, aus der auch räumlichen Außenseiterposition des Sauerlandes heraus, wesentliche rechtsund gesellschaftspolitischen Debatten der Staatsrechtslehre. Seine Rezeption im rechts-konservativen und linken Feld der Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft geht bis heute weit über Deutschland und Europa hinaus. Sein Werk ist lebendig, wird breit rezipiert, seine Person ist multiperspektiv und intensiv beforschtes Objekt. Böckenförde und Schmitt könnten über zwei Wissenschaftsgenerationen hinweg Antipoden sein, es würde nicht überraschen. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat sich aber Zeit seines Lebens offen zu seiner Freundschaft zu Carl Schmitt bekannt, ja eine freiheitlich-republikanische Wiederaneignung zentraler Figuren seines Denkens im Setting der freiheitlichen bundesrepublikanischen Gesellschafts- und Verfassungsordnung versucht. Das Verhältnis Böckenfördes zu Schmitt kann durch die Analyse der wissenschaftlichen Werke Böckenfördes ebenso erschlossen werden, wie durch Aussagen Böckenfördes, zuletzt in einem 2011 erschienenen wissenschaftsbiographischen Interview, das Dieter Gosewinkel mit ihm geführt hat. Der hier anzuzeigende Band eröffnet einen neuen Zugang, der es erlaubt, dem Verhältnis von Böckenförde zu Schmitt etwas näher zu kommen. Lasst die Quellen sprechen! Reinhard Mehring hat in einer höchst sorgfältigen Edition aus den Nachlässen den verfügbaren Briefwechsel von Schmitt und Böckenförde von 1954 bis 1984 editiert. Mit dem Verlag ist es angemessen von einem „Schlüsseldokument zur Geschichte des öffentlichen Rechts“ zu sprechen, das den Leser zwar nicht in das Herz der Finsternis, wohl aber in das „Herz des ‚Denkkollektivs‘ der sog. ‚Schmitt-Schule‘“ versetzt. Das Wechselspiel von Distanz und Nähe mag auch der aussterbenden Quellengattung des Briefes geschuldet sein, immerhin aber wird dem aufmerksamen Leser offenbar, dass Gleichordnung in dieser Freundschaft jedenfalls keinen unmittelbaren Ausdruck fand, dem „Lieben Ernst-Wolfgang!“ und dem einnehmenden „Du“ Schmitts steht bis zuletzt der „Verehrter, lieber Herr Professor“ und das „Ihr“ Böckenfördes gegenüber. Die Lektüre der Korrespondenz ist aber weniger wegen des fast intimen Miterlebens der biographischen und gesellschaftspolitischen Stationen der Briefverfasser lohnend, sondern vor allem als Rückblick und Reminiszenz in und an die Diskursräume der alten Bundesrepublik, als Dokumentation eines nicht selten selbstgefälligen und mit einer gewissen Hybris gepaarten Parlando über die Größen des Geistes auf der Basis eines geteilten Sinn- und Lektürehorizonts der Korrespondierenden, der längst vergangen ist. Die Edition wird durch weitere Korrespondenzen und Materialien ergänzt. Ein wichtiges Werk, das vor allem auch Open Access der weltweiten Wissenschaftscommunity und den Jüngern und Adepten Schmitts offensteht. Die Zeit geht auch über die Denkkollektive des 20. Jahrhunderts unmerklich hinweg. Wer heute in einer Staatsrechtsvorlesung oder gar ineiner Staatsexamensprüfung nach Ernst-Wolfgang Böckenförde oder auch Carl Schmitt fragt, erntet zumeist leere Blicke und Schweigen. Auch diesem Befund könnte die Lektüre des Buches abhelfen. (md)

    Univ.-Prof. Dr. Michael Droege (md) michael.droege@uni-tuebingen.de

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