Landeskunde

Wissensmehrung und kulturelle Identität im 21. Jahrhundert am Beispiel Chinas

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2017

• Fremdbildkonstruktionen und praktisches Wissen

• Die Nützlichkeit des Alten für das Neue

• Kreative Bildwelten als Brücke zwischen den Kulturen

• Produktive Aneignung der Tradition

• Den Reichtum des Anderen bewundern

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer

China, seine Sprache, Geschichte und Kultur faszinierte Europas Eliten über Jahrhunderte, wie sich auch Chinas Hof für die Künste des Westens begeistern konnte. Seit dem Ende des Kaiserreiches aber haben sich die Verhältnisse verkehrt: in China begann sich die stetig wachsende Bildungsschicht für den „Westen“ zu interessieren. Inzwischen hat China vom Westen mehr übernommen als die meisten ahnen. Doch im Zwiespalt zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist China geblieben. In diesem Zusammenhang stellen sich zahlreiche spannende Fragen: Was erforschen und lernen heute die über 25.000 Studierenden aus China an deutschen Universitäten? Mehren sie nur ihr eigenes Wissen oder tragen sie auch zu unserem Wissen bei? Wie ändert sich deren Bildungshorizont – oder erwerben sie nur Kompetenzen und Fertigkeiten? Wer sich im deutschen Sprachraum für das heutige China interessiert, erführe viel bei der Durchsicht der zahlreichen Examens- und Forschungsarbeiten chinesischer Prüflinge in Deutschland – er lernte dabei nicht zuletzt etwas über sich selbst. Bei all dem wird zunehmend deutlich, dass für den Umgang mit China eine multiperspektivische Sichtweise angemessen ist.

Daria Berg, Giorgio Strafella (Eds.) KODEX 6 (2016): Transforming Book Culture in China, 1600–2016. Harrassowitz: Wiesbaden 2016. ISBN 978-3-44710728-0. E-Book: ISBN 978-3-447-19549-2, X, 292 pages, 11 ill., 5 diagrams, pb., each Euro 39,80

Fragestellungen, welche lange Zeit nur aus europäischer Perspektive gestellt wurden, wie etwa in den sehr spezialisierten und umfangreichen buchhistorischen und kodikologischen Studien der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, werden nun auch auf China gerichtet. Davon zeugt eine Ausgabe des Jahrbuchs der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft, die unter dem Titel „Transforming Book Culture in China, 1600–2016“ von Daria Berg und Giorgio Strafella herausgegeben wurde. Darin spannen insgesamt 14 Beiträge den Bogen von der Novellenliteratur des ersten Aufbruchs in die Moderne um 1600 bis zu den durch das Internet ermöglichten Formen von Blogs, E-Books und den dadurch geprägten neuen Formen des Lese- und Kommunikationsverhaltens in China. Gerade in einer auf Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit hin ausgerichteten Welt ist solche Fortführung buchwissenschaftlicher Forschung von zentraler Bedeutung.

 

Fremdbildkonstruktionen und praktisches Wissen

Björn A. Schmidt, Visualizing Orientalness. Chinese Immigration and Race in U.S. Motion Pictures, 1910s-1930s. Böhlau: Köln, Weimar, Wien 2017. ISBN 978-3-412-50532-5, geb., 399 S., Euro 70,00

Wenn es um Aufmerksamkeit und Wahrnehmung geht, sollte nicht übersehen werden, dass das wechselseitige Verständnis füreinander immer wieder in hohem Maße durch Konstrukte verstellt wird, wie sie bereits durch alltägliche Diskurse und zunehmend in der bildlichen Repräsentation von Chinesen und nicht zuletzt in der Unterhaltungsindustrie konstruiert und bekräftigt werden. Als Chinesen in größerer Zahl im 19. Jahrhundert in die USA kamen, war dort, verstärkt durch den „Chinese Exclusion Act“ von 1882, von der „Gelben Gefahr“ die Rede. Diesem Klischee sind andere Narrative entgegengetreten, die Ausdruck finden in Studien zur „gemeinsamen Geschichte“ von Amerikanern und Chinesen oder spezielleren Arbeiten, welche die Wandlung der Chinesen von der „Gelben Gefahr“ zur „Musterminorität“ nachzeichnen. Eine neuere Studie von Björn A. Schmidt über das Auftreten chinesischer Figuren in den amerikanischen Filmen des frühen 20. Jahrhunderts macht allerdings deutlich, wie Chinesen dann doch als Fremde und nicht Zugehörige inszeniert zu werden pflegten, eine Tradition, die bis in die Gegenwart reicht. Seit als Teil der Urbanisierung der USA in vielen Städten Chinatowns entstanden, waren diese bald zu einem bestimmenden Element in den Filmen jener Zeit geworden. In seiner Studie zeichnet der Verfasser detailliert nach, wie in US-amerikanischen Filmen Chinesen zu „ewigen Ausländern“ stigmatisiert werden. Daran änderte auch nichts der Umstand, dass sie in der Armee dienten oder auch sonst Teil des normalen Alltags waren. Die Studie zeigt, wie der Amerikaner und „das Amerikanische“ überhaupt erst im Kontrast zum Schwarzen und zum Orientalen konstruiert werden. Sie zeigt nicht nur Intention und Wirkung des Chinesen-Bildes in den Filmen, sondern nutzt diese Filme zugleich selbst als historische Quelle und erörtert sie im Kontext der Funktion von „Bildern in historischen Diskursen“. Bemerkenswert ist, dass Chinesen und vor allem Chinesinnen in den Hauptrollen üblicherweise von entsprechend zurechtgemachten westlichen weißen Schauspielern und Schauspielerinnen verkörpert wurden. Wichtig wurde sehr früh auch die Kontrastierung von Schwarzen und Gelbgesichtern (yellowface). Wesentliche „Bühne“ der Diskriminierung war Chinatown als Objekt der Neugier, das ja bemerkenswerterweise – ein Zeichen der Verwestlichung Chinas? – in China selbst in den letzten Jahren in der Errichtung von Kulturparks für Minderheitenvölker ihre Entsprechung findet.

 

 

Peter Gröschler / Jan Dirk Harke / Dietmar Schanbacher / Lutz-Christian Wolff (Hrsg.), Itineraria juris – Von Rom nach China. Festschrift für Ulrich Manthe zum 70. Geburtstag. Duncker & Humblot: Berlin 2017. [Schriften zur Rechtsgeschichte Band 178]. ISBN 978-3-42814710-6, geb., 316 S., Euro 99,90

Mit der reinen Kontrastierung von Ost und West, Orient und Okzident, haben sich gerade in den Wissenschaften viele nicht abfinden wollen und Wege der Verständigung zwischen einzelnen Fachkulturen gesucht. So wie es in bestimmten Sphären, wie etwa in der Musik oder auf der Opernbühne, aber auch in der Arbeitswelt oder in der Seefahrt leichter fällt, angesichts eines Sujets und wegen der Sache selbst die Andersartigkeit von Kolleginnen und Kollegen zurücktreten zu lassen, so gilt dies auch für Spezialdisziplinen, zu denen auch die Rechtskultur zählt. So hatten deutsche und andere ausländische Gesetzbücher im späten 19. Jahrhundert in Japan und dann auch in China Eingang gefunden, waren übersetzt worden und sollten dazu dienen, eine neue Rechtskultur nach europäischem Vorbild zu konstituieren. An den damit verbundenen Akkulturationsthemen nehmen bis heute auch deutsche Rechtsgelehrte Anteil, wie der Passauer Professor für Bürgerliches Recht und Römisches Recht, Ulrich Manthe, dessen über Jahrzehnte verfolgtes Interesse an China Kollegen und Schülern Anlass zu einer Festschrift zu deutsch-chinesischen Themen war. Neben manchen eher speziell ausgelegten Beiträgen, seien sie rechtssystematischer oder rechtshistorischer Natur, finden sich praxisnahe Berichte wie der von Anne Daentzer zum „Aufbau eines Compliance-Management-Systems in einer chinesischen Tochtergesellschaft“, in der sie einerseits auf die erheblichen kulturellen Unterschiede zwischen deutscher und chinesischer Gesellschaft eingeht, dann aber sehr konkret die Implementierung von Richtlinien darlegt. Anschlussfähig an diese Ausführungen ist der Beitrag „Besonderheiten der Vertragsgestaltung bei Unternehmenskäufen in China“ von Ulrike Glück. Zwar verläuft der Rechtstransfer immer noch weitgehend „von Rom nach China“, doch zeichnet sich bereits eine gegenläufige Entwicklung ab. Daraus erwachsen neue Herausforderungen, denen sich beide Seiten stellen müssen, wobei wegen der Trendumkehr von West nach Ost zu Ost nach West gerade der Westen einen Nachholbedarf an Lernstrategien hat.

 

Barbara Hey und Manuel Lauer, China-Kompetenz für Wissenschaftler. Springer-Gabler: Wiesbaden 2017. ISBN 978-3-658-18543-5, br., ix+41 S., Euro 9,99

Helena M. Lischka, Peter Kürble (Eds.), Intercultural Competencies in China. W. Kohlhammer: Stuttgart 2017. ISBN 978-3-17-032234-9, br., 154 S., Euro 35,00

Ratgeber zu einem erfolgreichen Umgang mit China und chinesischen Partnern gibt es inzwischen in wachsender Zahl. Da nicht nur Unternehmen verstärkt Kooperation mit chinesischen Partnern suchen, sondern auch Wissenschaftler und ihre Institutionen, ist die Zusammenstellung von Basis-Wissen in einem Büchlein „China-Kompetenz für Wissenschaftler“ von Barbara Hey und Manuel Lauer zu begrüßen. Allerdings fragt man sich, ob mit einer sehr verknappten Darstellung von Geschichte und Kultur und einem sehr vereinfachten Bild von China dem intellektuellen Anspruch von Wissenschaftlern Genüge getan wird. Die praktischen Tipps und Verhaltensbeispiele für einen gelingenden Umgang mit chinesischen Forschern bzw. Forschungsinstitutionen und Partnern sind zwar durchaus anregend, wie auch die 13 weiter führenden Literaturhinweise am Schluss nützlich sind, doch wird gar nicht erst der Versuch unternommen, das chinesische Wissenschaftssystem auch nur ansatzweise zu beschreiben oder gar die sozialanthropologischen Hintergründe zu hinterfragen. Gar nicht adressiert wird bedauerlicherweise die historische Dimension. Der wissenschaftliche Austausch zwischen China und dem Westen, wozu auch Russland und Japan gerechnet werden müssen, reicht in seinen Anfängen in das 19. Jahrhundert zurück, und nicht wenige heutige Wissenschaftler in China wissen sehr genau um diese Beziehungsgeschichte. Daher sollte sie zumindest in Grundzügen wahrgenommen werden. Dass eine allgemeine Darstellung zu „Interkultureller Kompetenz“ nicht hierauf eingeht, ist hingegen erklärbar. Überhaupt ist das von Helena M. Lischka und Peter Kürble herausgegebene Büchlein sehr zu empfehlen. Es stellt nicht die Frage, „wie verhalte ich mich richtig in China?“, sondern es werden die kulturellen und sozialpsychologischen Grundmuster beleuchtet, es wird also die Frage nach dem „Warum“ in den Vordergrund gerückt. Diese in erster Linie für Manager und Unternehmer verfassten Darlegungen sind gleichermaßen für andere Akteure wie beispielsweise für Wissenschaftler anwendbar. Die Analysen werden in allgemeinere Kulturtheorien eingebettet und mit quantifizierenden Erhebungen korreliert. So ist, um ein Beispiel zu nennen, die Bereitschaft zum Ertragen von Unsicherheit in China doppelt so groß wie in Deutschland. Bei ihren Darlegungen fußen die Autoren auf ein breites kulturwissenschaftliches und organisationsanthropologisches Grundwissen, und Namen wie Geert Hofstede und Harro von Senger, aber auch viele andere begegnen einem in den zahlreichen Literaturnachweisen. Die theoretischen Herleitungen mögen zunächst etwas langatmig erscheinen, sie erweisen sich aber als ebenso sinnvoll wie hilf-reich zu einem reflexiven Verständnis kultureller Unterschiede. Wem das Englische keine zu große Hürde ist, der wird dieses Buch mit größtem Gewinn studieren und in kompakter Form einen Sinn für die Komplexität interkulturellen Handelns entwickeln. Allerdings bleibt auch hier ganz ausgespart, dass sich einem bei einem „Mehr“ an Bildung, sei es auf die eigene oder die chinesische Kultur bezogen, weit mehr Anknüpfungspunkte für Verständigung und Austausch ergeben als bei der rein sozialanthropologischen und gerne mit Quantifizierungsverfahren arbeitenden Betrachtungsweise.

 

Die Nützlichkeit des Alten für das Neue

Mechthild Leutner, Kolonialpolitik und Wissensproduktion. Carl Arendt (1838–1992) und die Entwicklung der Chinawissenschaft. Lit Verlag: Münster 2016. [Berliner China-Studien 55]ISBN 978-3-643-13592-6, geb., 730 S., Euro 69,90

Eckhard Hoffmann, Emil Krebs. Ein Sprachgenie im Dienste der Diplomatie. Harrassowitz: Wiesbaden 2017. ISBN 978-3-447-10740-2, br., 224 S., Euro 54,00

Zur Kenntnis der eigenen Kultur gehört auch das Wissen um den Umgang mit verblasstem Wissen früherer Zeiten. Wie sehr wir selbst alle Kinder unserer Zeit sind, führen wir uns am leichtesten vor Augen, wenn wir in frühere Phasen unserer Fächer, hier der Beschäftigung mit China, blicken. Dann sehen wir, dass es lange vor der Sinologie als akademisches Fach eine Expertise für China in Europa gab. So viele unterschiedliche Strömungen auch für die Anfänge der akademischen Sinologie in Deutschland stehen, das 1887 in Berlin gegründete Seminar für Orientalische Sprachen (SOS), welches sprachliche und landeskundliche Kenntnisse über China vermitteln sollte, gehört eindeutig zu den Gründungspfeilern der Professionalisierung von Wissen über China in Deutschland. Am Beispiel eines ihrer ersten Lehrer schildert die Berliner Sinologin Mechthild Leutner in ihrem opus magnum „Kolonialpolitik und Wissensproduktion. Carl Arendt (1838–1902) und die Entwicklung der Chinawissenschaft“ anschaulich den Lebensweg dieses Mannes und wie dieser aus einer konvertierten jüdischen Familie stammende junge Mann sich für die Vergleichende Sprachwissenschaft begeisterte und schließlich im diplomatischen Dienst als Dolmetscher an der deutschen Gesandtschaft in Peking Chinas Sprache und Kultur näher kennenlernte, bis er dann nach seiner Rückkehr zum akademischen Lehrer wurde, welches er bis zu seinem Tode am Berliner SOS blieb. Mechthild Leutners Werk ist auch ein Beitrag zur gerade erst beginnenden „Aufarbeitung“ der deutschen Kolonialgeschichte und zu deren „Bodensatz“ in unserem „Mind-Set“ ebenso wie zu den musealen Sammlungen, aus denen sich das Berliner Humboldt-Forum speisen soll. Besonders reizvoll und lohnend ist es, neben dieser umfangreichen Monographie über Carl Arendt das Buch „Emil Krebs. Ein Sprachgenie im Dienste der Diplomatie“ von Eckhard Hoffmann zu lesen, in dem dieser seinen als „größtes Sprachwunder der Mensch-heitsgeschichte“ gepriesenen Großvater portraitiert. Darin erfährt man nicht nur viele Details über die Laufbahn und das Privatleben dieses 1867 in Schlesien geborenen „Sprachwunders“, sondern auch eine Fülle von Informationen zum diplomatischen Dienst sowie zur deutschen Chinapolitik jener Zeit und zur Stellung der Dolmetscher im Auswärtigen Dienst. Ebenso werden die Umstände geschildert, die es verhinderten, dass Emil Krebs, der nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und China 1917 in die Heimat zurückgekehrt war, 1923 eine Anstellung beim Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin erhielt. Die Ergebnisse der Untersuchungen an dem ihm nach seinem Ableben 1930 in Berlin zu Forschungszwecken entnommenen Gehirn sollten erweisen, dass das „Sprachwunder“ nur um den Preis sonstiger Minderleistungen möglich war, eine Feststellung, die in neueren Untersuchungen ausdrücklich bestritten wird.

 

Kreative Bildwelten als Brücke zwischen den Kulturen

Michaela Pejˇcochová, Clarissa von Spee (Hrsg.), Modern Chinese Painting & Europe. New Perceptions, Artists Encounters, and the Formation of Collections. Reimer: Berlin 2017. ISBN 978-3-496-01563-5, br., 192 S., Euro 29,95

Wie sehr die Beschäftigung von Europäern mit China oft zu einem wechselseitigen Geben und Nehmen wurde, zeigt sich an der Geschichte des Handels zwischen China und Europa seit dem 16. Jahrhundert, der auf dem Gebiet des Kunstaustausches Höhepunkte im 20. Jahrhundert erreichte und sich in besonderer Weise in vielfältigen privaten ebenso wie staatlichen Kunstsammlungen niedergeschlagen hat. Mit solchem Austausch und den daraus entstehenden Sammlungen beschäftigt sich mit besonderem Blick auf moderne chinesische Malerei ein hier anzuzeigender Sammelband. Nach einleitenden Beiträgen und einem Portrait der Kunsthistorikerin und Sammlerin Victoria Contag aus der Feder von Clarissa von Spee folgen eine Reihe von Beiträgen über Begegnungen zwischen chinesischen Künstlern mit europäischer Kunst, darunter ein Bericht über die Begegnung zwischen Zhang Daqian und dem 17 Jahre älteren Pablo Picasso 1956 in Cannes, aus der bezaubernde Tuscheskizzen Picassos hervorgingen. Es folgen weitere Berichte über Werke chinesischer Tuschemalerei in Sammlungen in London, St. Petersburg, Prag, Berlin und Oxford. Dank einer solchen Kontextualisierung der Entstehung von Kunstsammlungen und dem Austausch unterschiedlicher künstlerischer Positionen und Sichtweisen können wir mit frischen Blick den genannten Sammlungen gegenübertreten. Das Wissen um solche Hintergründe und Subtexte ist gerade im Vorfeld von Planungen wie jenen für das Berliner Humboldt-Forum von zentraler Bedeutung.

Rupprecht Mayer, Bolihua. Chinesische Hinterglasmalerei aus der Sammlung Mei-Lin. Herausgegeben von Christian Juranek und Christof Trepesch. Hirmer: München 2017. ISBN 978-3-7774-2833-8, geb., 251 S., Euro 45,00

Welch prägende Kraft die Initiativen von Sammlerinnen und Sammlern haben können und in welcher Weise sie Blicke auf bisher wenig Beachtetes überhaupt erst ermöglichen, dokumentiert der Katalog zu einer im Stolberg’schen Schloss Wernigerode und dann in Augsburg gezeigten Auswahl überwiegend in der Zeit zwischen 1850 und 1950 entstandener chinesischer Hinterglasbilder aus der Sammlung Mei-Lin. Der von Rupprecht Meyer kenntnisreich geschriebene Katalog verschafft einer in China spätestens seit dem 18. Jahrhundert betriebenen Kunstform der Hinterglasmalerei weltweit überhaupt erstmals eine größere Aufmerksamkeit, wobei offen bleiben muss, ob diese Technik nicht sogar erst seit dem späten 17. Jahrhundert aus Europa kommend dort Verbreitung fand. Die ganzseitigen und ausführlich erläuterten Abbildungen des Katalogs zeigen, wie nicht nur der Anbruch modernen Lebens, sondern auch die Stoffe aus populären Romanen und Erzählungen zum Sujet für die Künstler in den Hinterglasmalerei-Werkstätten in China wurden, deren Kunden in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei zu den wohlhabenderen Familien mit Interesse an üppigem Interieur und Repräsentation gezählt haben dürften.

 

Craig Clunas, Chinese Painting and Its Audiences. Princeton University Press: Princeton and Oxford 2017 [Bollingen Series XXXV: Volume 61]. ISBN 978-0-69117193-7, geb., x, 288 S., GBP 44,95

Einen frischen Blick auf die chinesische Malerei und ihr Publikum in den letzten 500 Jahren wirft der Kenner der Kultur der gebildeten Mittelschichten Chinas in der Frühen Neuzeit, Craig Clunas, in seinem neuesten Buch und eröffnet uns damit Einsichten in die Beziehungen zwischen den Gemälden und ihren chinesischen Kennern und Sammlern. Dabei spannt er einen weiten Bogen und gibt zunächst eine Einführung in das spezifische Verständnis von Bild- und Bildtradition sowie von Traditionsaneignung im China des 16. Jahrhunderts, dem er die Vorstellung von „chinesischer Malerei“, wie sie sich zu jener Zeit bereits außerhalb Chinas, etwa in Persien, aber auch in einigen europäischen Territorien gebildet hatte, zur Seite stellt, dabei dem Satze folgend „that the history of art is not solely about what artists do, but is also centrally and crucially about what audiences and viewers see.“ (Seite 25) Dem ersten Kapitel zu den zeitüberschreitenden Perspektiven folgen gewissermaßen in absteigender Klimax den „Fortschritt“ der Neuzeit kennzeichnende Kapitel über den Edlen („The Gentleman“), den Hof bzw. den Kaiser („The Emperor“), den Geschäftsmann („The Merchant“), die Nation („The Nation“) und das Volk („The People“). Bereits der vorletzte Abschnitt beschäftigt sich mit der Auflösung des Bildbegriffs am Ende des Kaiserreiches, wonach vielerlei Arten von Malerei unterschieden werden: neben Ölmalerei, Literatenmalerei, ausländischer Malerei wird chinesische Malerei nur noch zu einer Kunstform unter vielen. Die Beziehungen zwischen Betrachter und Bild und Bildersammlungen und Öffentlichkeit hatten sich bereits neu sortiert und ein unmittelbarer Umgang mit Kunst war durch die Historisierung verstellt. Vorbildern aus dem Ausland folgend wurden neue Formen der Abstraktion ebenso wie des Realismus angestrebt.

 

Xinian Fu, Traditional Chinese Architecture. Twelve Essays. Edited by Nancy S. Steinhardt, Translated by Alexandra Harrer. Princeton University Press: Princeton/ Oxford 2017. ISBN 978-0-691-15999-7, geb., xxxii, 390 S., GBP 41,95

Wie architektonische Gebilde, Häuser und Paläste, Pagoden und Innenräume bildlich im China des Altertums wiedergegeben wurden und wie man daraus auf die dreidimensionale Realität schließen kann, beschäftigt den bedeutendsten Architekturhistoriker Chinas, Fu Xinian, in zwölf Essays, die jetzt in englischer Übersetzung für ein westliches Publikum aufbereitet worden sind. In den meisten der Essays thematisiert er anhand erhaltener oder in situ rekonstruierter Bauwerke Höhepunkte in der Geschichte des Bauens in China, insbesondere von Holz-Baukonstruktionen, aber auch strukturelle Merkmale wie die Modulbauweise sowohl in der Palastbau- wie in der sakralen Architektur. Dabei kann er belegen, wie sehr die Baumeister der Vergangenheit rationalen Mustern und Proportionsvorstellungen folgten, und er vergleicht die architekturtheoretische Literatur der Vergangenheit mit den Befunden an den Objekten. Dabei wird deutlich, dass sich in China unterschiedliche Architekturstile nebeneinander herausbildeten, woraus sich auch die Übernahme bestimmter Bauformen durch japanische Buddhisten erklärt, die besonders intensiven Kontakt zu den buddhistischen Zentren in Südostchina pflegten. Mit diesen Erkenntnissen und einem ausführlichen Begriffsglossar wird der Zauber chinesischer Holzbaukonstruktion in besonderer Weise durchsichtig und verständlich.

 

Produktive Aneignung der Tradition

Jörg Henning Hüsemann: Das Altertum vergegenwärtigen. Eine Studie zum Shuijing zhu des Li Daoyuan. Leipziger Universitätsverlag: Leipzig 2017. [Leipziger Sinologische Studien, Bd. 1] ISBN 978-3-96023-101-1, br., 371 S., Euro 33,00

Die Kraft kultureller Ressourcen unterstreicht Jörg Henning Hüsemann bereits im Titel seiner soeben erschienenen Hamburger Dissertation: „Das Altertum vergegenwärtigen“, in der er Den Leitfaden zu den Gewässern mit Kommentar (Shuijing zhu) des Li Daoyuan (gest. 527) untersucht. Getragen von der Überzeugung, „dass das Quellenmaterial die wissenschaftliche Methodik bestimmen muss“, untersucht er den „Wasser-Klassiker“ und dessen Kommentierung im Kontext der Traditionsaneignung im Norden des damals geteilten China. Diese Zeit vor der erneuten Reichseinigung am Ende des sechsten Jahrhunderts war übrigens eine der kreativsten Epochen Chinas, und wer diese bunte und vielfältige Zeit nicht versteht, bleibt für vielerlei Entwicklungen der Folgezeit blind. Der Verfasser der Studie, und das ist das Reizvolle, beschäftigt sich nach einer biographischen Skizze und einer allgemeinen Charakterisierung der historiographischen Vorgehensweise des Autors mit der Rezeption dieses landeskundlichen Leitfadens in unterschiedlichen Phasen und veranschaulicht dabei das über längere Zeiträume hinweg lebendig bleibende Gespräch vieler Gelehrtengenerationen. So wird deutlich, wie eine im 6. Jahrhundert zusammengestellte enzyklopädische Behandlung von Orten und Landschaften Chinas als „Wissensschatz“ auch spätere Generationen anzog und herausforderte und bis heute Anregungen für eine differenzierende Rekonstruktion Chinas und seiner Landesgeschichte geben kann. Man kann nur hoffen, dass der Wissenschaftsbetrieb auch weiterhin solche Nachforschungen fördert, die in der Regel in den heute üblichen Förderprogrammen nicht vorgesehen sind.

 

Martin Müller, He Lin (1902–1992). Neukonfuzianer, Idealist und Kulturphilosoph im China des 20. Jahrhunderts. Eine intellektuelle Biographie. [= Lun Wen – Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China, Band 19] Harrassowitz: Wiesbaden 2015. ISBN 978-3-44710324-4, geb., 12+402 S., Euro 68,00

Bei den üblichen Förderprogrammen hätte es möglicherweise auch ein Forschungsprojekt schwer gehabt, welches aus einer geistesgeschichtlich-biographischen Rekonstruktion zu einem differenzierteren Bild eines vergangenen Jahrhunderts beiträgt. So schildert Martin Müller in seiner ursprünglich als Kölner Dissertation vorgelegten Arbeit mit He Lin (1902– 1992) einen chinesischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von der erstaunlichen Feststellung, dass dieser in der westlichen Sinologie bisher praktisch unbekannte „Vater der chinesischen Hegel-Rezeption“ die Neuentfaltung des konfuzianischen Denkens mithilfe eines sinisierten Hegelianismus anstrebte, lässt der Autor zunächst den Lebens- und Bildungsweg seines Protagonisten Revue passieren. Anhand von Tagebucheintragungen wird die Zeit des Studierens in den USA (Harvard) und sodann in Berlin einschließlich ausgedehnter Reisen in Deutschland geschildert. Der produktiven Zwischenzeit akademischer Lehre in China und umfangreicher Publikationstätigkeit folgt nach dem Einschnitt durch die Machtübernahme durch die Kommunistische Partei eine neue Phase, in der schließlich die Beschäftigung mit Philosophie auf einen Ort beschränkt und nur noch an der Peking Universität geduldet wurde. (S. 218) Sehr lesenswert sind die Ausführungen über die Kampagnen in der Mitte der 50er Jahre, nach denen für He Lin eine schwierige Zeit, auch eine Zeit der Verfolgung begann, die erst 20 Jahre später, nach dem Sturz der Viererbande, in eine Zeit neuer Anerkennung mündete, in der schließlich auch sein Antrag auf Mitgliedschaft in der KPCh angenommen wurde (S. 260). Dieser He Lin wurde niemals müde zu betonen, dass nur eine intensive Beschäftigung mit dem Westen einen vor „Verwestlichung“ bewahren könne. Martin Müller hat eine ausführliche intellektuelle Biographie vorgelegt, die uns am Beispiel He Lins Einblicke in die geistigen Bemühungen im China des 20. Jahrhunderts gibt und so unsere Bereitschaft zu großem Respekt vor den klügsten Köpfe Chinas in jener Zeit begründen kann.

 

Zhuangzi. Der Gesamttext und Materialien. Aus dem Chinesischen übertragen und kommentiert von Viktor Kalinke. Leipziger Literaturverlag 2018. ISBN 978-3-86660-222-9, geb., 900 Seiten, Euro 124,95

Eine ganz andere Rolle als solche Werke wie der oben genannte „Wasserklassiker“ spielen solche Werke wie das Werk Zhuangzi, welches als Solitär gelten kann und immer auch so verstanden wurde. Manche haben sich unmittelbar an ein Verständnis dieses in vielfacher Hinsicht rätselhaften Werkes herangewagt und es für übersetzbar erklärt und sind danach verfahren, wie der Sinologe und Philosoph Jean François Billeter oder auch wie Victor Mair. Einen anderen Weg beschreitet Viktor Kalinke, indem er den Text Passage für Passage kommentiert, nach der heutigen Standardaussprache transkribiert und nach einer Auflistung von Übersetzungsbegriffen eine Übersetzung vorlegt, die er dann noch einmal kommentiert. Auf diese Weise ist ein umfangreiches Arbeitsbuch entstanden. Doch der interessierte Leser, der nicht des Chinesischen mächtig ist, wird mit dieser üppigen Vielfalt wenig anfangen können und sich lieber einer einprägsamen Übersetzung zuwenden. Für all diejenigen aber, die sich am Original abarbeiten wollen, kann sich dieses Arbeitsbuch als nützlich erweisen. Bei Richard Wilhelm atmet der Meister zu Beginn des zweiten Kapitels „abwesend, als hätte er die Welt um sich verloren“. In eine andere Richtung geht die Übersetzung von Victor Mair: „disembodied, he seemed bereft of soul“. Die Deutung bei Burton Watson spricht von einem Verlust im Modus des „alsob“, „as though he’d lost his companion“, während er dann bei Kalinke gedankenverloren seufzt, ,,trauernd um den Verlust seines Gefährten“. Aus dem „als-ob“ ist nun eine Realität geworden. So schnell also können sich die Geister scheiden. Doch Kalinke hat so vielfältiges Material zusammen getragen, dass der ernsthaft Interessierte dieses Buch, zweifellos ein verlegerisches Wagnis, nicht missen möchte.

 

Shangjun shu. Schriften des Fürsten von Shang. Übersetzt und kommentiert von Kai Vogelsang. Alfred Kröner Verlag: Stuttgart (Kröners Taschenausgabe Band 168) 2017. ISBN 978-3-520-16801-6, geb., xviii+382 S., Euro 27,90

Einen bewusst distanzierten Weg zu einem der Klassiker der Machtpolitik in China, den „Schriften des Fürsten von Shang“ (Shangjun shu), beschreitet Kai Vogelsang. Er nimmt die kulturelle und historische Distanz zu diesem Text des Shang Yang, den er als „politisch erfolgreichsten Denker des klassischen China“ (S. VIII) bezeichnet, ernst und versorgt daher auf den ersten 80 Seiten den Leser mit einer Darstellung der „Geschichte der Gewalt“ im Alten China und klärt in diesem Zusammenhang die Verwendung einer Vielzahl von Begriffen, etwa den des „Staates“, und beschreibt die unterschiedlichen Bereiche staatlichen Handelns und Regulierens, die Wirtschaft, die Strafgesetze und die Bürokratie. Das Buch des Fürsten von Shang, dem nicht nur die konfuzianischen Denker über Jahrhunderte ablehnend bzw. ambivalent gegenüber standen, sondern auch spätere Generationen von Sinologen, will Kai Vogelsang „in sein Recht setzen: als Schlüsseltext einer Lehre, […] von überaus rationalen Denkern, die den Gedanken der Staatsräson und die Logik der Politik konsequent zu Ende gedacht haben.“ (S. X). Zur Vorbereitung auf die Lektüre der einzelnen Teile dieses Werkes stellt er jeder Passage eine als „Überblick“ bezeichnete Erläuterung voran. Ob allerdings die Parallelen zwischen dem Denken Shang Yangs einerseits und Niccoló Machiavellis andererseits soweit reichen, wie der Verfasser andeutet, müsste noch weiter untersucht werden, wie auch der sozialgeschichtliche und herrschaftssoziologische Kontext der Genese dieser Staatslehre zwar angedeutet, aber dann doch nicht weiter ausgeführt wird.

 

Den Reichtum des Anderen bewundern

China und Ägypten. Wiegen der Welt. Für das Ägyptische Museum und Papyrussammlung – Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Friederike Seyfried und Mariana Jung. Prestel: München 2017. ISBN 978-3-7913-5648-8, geb., 336 S., Euro 39,95

Einen durchaus differenzierenden Vergleich, der dann aber doch die Einzigartigkeit der Hochkulturen Chinas und Ägyptens betont, versucht eine in einem Katalog dokumentierte Ausstellung über China und Ägypten als „Wiegen der Welt“. Die unterschiedlichen Sphären der Zeit seit dem Neolithikum bis zur Zeitenwende werden in fünf Segmenten thematisiert: Lebenswelten, Schrift, Tod und Jenseits, Glaubenswelten sowie Herrschaft & Verwaltung. Konsequenterweise bildet auf chinesischer Seite eine die Autorität des Herrschers symbolisierende Zeremonialaxt sowie auf ägyptischer Seite das Oberteil einer Statue von Ramses II. den Abschluss. Dabei versucht die Ausstellung gar nicht erst die unterschiedlichen Philosophien und die mit ihnen verknüpften religiösen Vorstellungen begrifflich aufeinander zu beziehen, sondern begnügt sich mit der Gegenüberstellung spektakulärer Objekte und einer gleichwohl lesenswerten kontrastierenden Einleitung. Einige Unterschiede kommen jedoch durchaus zur Sprache, wie etwa jener, dass die Schrift im Alten China lediglich zur Kommunikation mit den Göttern und Ahnen diente und keineswegs weltliche Funktionen hatte, die ihr erst später zuwuchsen.

 

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist und als Seniorprofessor der Universität Tübingen seit 2016 Gründungsdirektor des China Centrum Tübingen und Präsident des Erich-Paulun-Instituts. Von 1981 bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München, von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seit 2015 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde. Er unterrichtete an den Universitäten Bonn, München, Göttingen, Hamburg und Hannover. Im Jahr 2015 erhielt er den „Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur“.

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