Biografien

Wissenschaftlerinnen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2020

 

DIE TRANSLATOLOGIN

Heidemarie H. Salevsky: Translatologie – meine Leidenschaft oder: „Ach, machen Sie doch lieber etwas Solides!“ Eine Autobiografie. Berlin: trafo Verlagsgruppe, 2019. 798 S., Register-Heft (Reihe Autobiographien. Band 53), ISBN 978-3-86465-121-2, € 39.80.

Die Translatologie ist der berufliche Rahmen dieser Autobiografie, Vorkenntnisse darin sind für die Lektüre dieser außerordentlich interessanten und lesenswerten Autobiografie nicht nötig. Die Translatologie ist die Wissenschaft vom Dolmetschen und Übersetzen, sie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft mit Beziehungen u.a. zur Linguistik, Kommunikationswissenschaft und Psychologie. Der Verlag kündigt dieses Buch mit dem Satz „Die Erinnerungen einer leidenschaftlichen Wissenschaftlerin und streitbaren Hochschullehrerin sind mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts eng verflochten“ (Rückentitel) an – und er übertreibt nicht.

30 Jahre nach dem Mauerfall blickt die 1944 geborene Translatologin Prof. Dr. Heidemarie H. Salevsky auf ihr Leben zurück, „ein Stück Zeit-, Familien- und Wissenschaftsgeschichte … mit großen und kleinen Problemen, Brüchen und (Un)Möglichkeiten“ (S. 13). Für den Rezensenten ein Bravourstück in der Sichtung und Inaugenscheinnahme eines Lebens!

Die Autobiografie ist in zwei Teile gegliedert, denn es sind „zwei Leben, das erste bis 1989 und das zweite ab 1990“ (S. 13).

Das erste Leben, das sind die familiären Wurzeln, die Kindheit an der Schwarzen Elster, die Schulzeit im geteilten Berlin, das Studium in Berlin, Moskau und Leipzig mit Abschlüssen als Diplom-Dolmetscherin und Diplom-Übersetzerin für Russisch und Englisch und Diplom-Konferenzdolmetscherin Russisch-Deutsch und Deutsch-Russisch, die Tätigkeit als Dolmetscherin, Übersetzerin und Lektorin und schließlich Lehre und Forschung an der Humboldt-Universität Berlin mit Promotion und Habilitation mit ­einer einzigen Arbeit. Mit dem Ende der DDR endet das erste Leben, es endet mit „bis dahin ungekannter Existenzangst“, mit sieben Entlassungsversuchen „aufgrund fiktiver Anschuldigungen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre“ (S. 14-15).

Das zweite Leben gewährt Heidemarie Salevsky große berufliche Erfolge. Sie ist Professorin für Translationswissenschaft, Angewandte Sprachwissenschaft und Fachkommunikation Russisch an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Professorin für Translatologie an der Okan University Istanbul, dazu Gastprofessorin u.a. in Heidelberg, Binghamton (dem Zentrum der Translationsforschung), Innsbruck und Wien, Autorin zahlreicher Publikationen, Mitglied in wissenschaftlichen Gesellschaften und Wahlfunktionen in internationalen Fachgremien „Nichts davon wäre ohne die Öffnung der Mauer möglich gewesen“ (S. 14). Heidemarie Salevsky versteht es ausgezeichnet, Berichte über das berufliche Leben eng mit den gesellschaftlichen Bedingungen und dem Privaten zu verbinden, ergänzt um Zitate von Schriftstellern, Dichtern und Philosophen aus aller Welt, bestens eingewoben in den fortlaufenden Text und ergänzt um einen Block mit Fotografien. Das alles ist akribisch erarbeitet, stilistisch hervorragend, optimal erschlossen durch Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Schriftenverzeichnis und Register. Es gibt m.E. keine Schwachpunkte.

„Wenn ich einen Wunsch für die Zukunft äußern dürfte, dann den, dass es möglich sein sollte, nach Erkenntnis und Wahrheit zu suchen, ohne Abhängigkeiten und ohne bereits das Resultat zu kennen.“ (S. 642) Die Memoiren enden mit einem 18seitigen Kapitel „Wie soll man leben? (Für meine Enkeltöchter)“; ein Lehrbeispiel für die Weitergabe von Lebenserfahrungen an die nächsten Generationen.

 

DIE SOZIALWISSENSCHAFTLERINNEN

Marion Keller: Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich.Stuttgart: Franz Steiner Verl., 2018. 444 S. (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Band 8), ISBN 978-3-51511985-6, € 66.00.

Die Autorin beschreibt in ihrer Dissertation vier Pionierinnen, „die wichtige Impulse zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung setzen und gleichzeitig zu Wegbereiterinnen des sozialwissenschaftlichen Frauenstudiums und der Sozialen Arbeit“ (S. 8) werden. Das sind: Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917) Sozialwissenschaftlerin, Sozialpolitikerin, Pädagogin und Frauenrechtlerin. Sie „erregt „mit ihrer Feldforschung zu Fabrikarbeiterinnen und ihren sozialstatistischen Analysen zur Frauenarbeit große öffentliche Aufmerksamkeit“ (S. 8). Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946) Sozialwissenschaftlerin, Sozialreformerin und Gutsfrau. Sie erforscht „die Lage der Heimarbeiterinnen und der Frauen in der Landwirtschaft“ (S. 8).

Rosa Kempf (1874–1948) Sozialwissenschaftlerin, Pädagogin und Frauenrechtlerin.

Marie Bernays (1883–1939) Max-Weber-Schülerin, DVPPolitikerin, Gründungsdirektorin der Sozialen Frauenschule Mannheim und Frauenrechtlerin, ihre sozialen Studien zur Fabrikarbeiterschaft gehören zu den „bedeutendsten Untersuchungen der empirischen Sozialforschung im Kaiserreich“ (S. 8).

Die Protagonistinnen zeigen eine „Dreieinigkeit“ von empirischer Sozialforschung, Mitarbeit in der konfessionellen und bürgerlichen Frauenbewegung und sozialpolitisches Engagement in der Sozialreformbewegung. Ihre Untersuchungen zeichnen sich „durch eine aufwendige, gründliche und zugleich innovative methodische Vorgehensweise sowie durch eine breite Resonanz in der zeitgenössischen Fach-, Sozialreform- und Frauenbewegungspresse aus“ (S. 10). Trotzdem werden sie erst in den letzten zwanzig Jahren wiederentdeckt. Ihre Arbeitsergebnisse werden nicht in den Kanon der jeweiligen Fächer aufgenommen und finden keinen Eingang in die Gesamtdarstellungen zur Soziologie. Sie werden aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit nicht als äquivalent registriert und rezipiert, sie werden absichtlich übersehen.

„Trotz der schwierigen Quellenlage ist es gelungen, die Entstehungskontexte ihrer Sozialforschung und der zeitgenössischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft herauszuarbeiten … die empirischen Studien der vier Pionierinnen markieren den Beginn einer sozialwissenschaftlichen und feministisch orientierten Frauenforschung, da sich ihr Forschungsinteresse auf die Beschreibung und Analyse sozialer Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen richtete. “ (S. 353, 355-356) Eine lesenswerte und gut lesbare Studie. In ihr wird zum wiederholten Mal darauf hingewiesen, dass im Wilhelminischen Kaierreich, und nicht nur dort, Frauen der Zugang zur Wissenschaft erschwert wird, dass sie trotz aller Widerstände bedeutende Leistungen erbringen, die dann aber Jahrzehnte lang ignoriert oder marginalisiert werden.

DIE BIOLOGIN UND ZELLFORSCHERIN

Hans-Christian Jasch: Rhoda Erdmann (1870-1935). Leben und Karriere einer frühen Krebsforscherin zwischen internationaler Anerkennung und nationaler Marginalisierung. Berlin: be.bra wissenschaft verl., 2017. 46 S. (Hefte zur Geschichte der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Heft 2) ISBN 978-3-95410-206-8 € 7.00

Nach einer umfänglichen Dissertation von Sabine Koch aus dem Jahr 1985 wird nun für einen größeren Leserkreis mit einem kleinen Heft eine große Frau geehrt: die Mitbegründerin der Zellforschung Rhoda Erdmann (1870– 1935). Der erschwerte Hochschulzugang im wilhelminischen Deutschland zwingt die naturwissenschaftlich Interessierte zu einem Umweg über Volksschullehrerin mit Oberlehrerprüfung, ehe sie Zoologie, Botanik, Mathematik und Physik in Zürich und nach Öffnung der großen deutschen Universitäten für Frauen auch in Marburg, München und Berlin studiert. Nach ihrer Promotion 1908 ist sie wissenschaftliche Hilfskraft bei Robert Koch am Institut für Infektionskrankheiten. Da sie als Frau in Deutschland nur eingeschränkt wissenschaftlich arbeiten kann, geht sie 1913 in die USA und arbeitet an der Yale University und am Rockefeller Institute. 1918 als feindliche Ausländerin nach Deutschland abgeschoben, kann sie in Berlin eine Abteilung für experimentelle Zellforschung am Institut für Krebsforschung der Charité aufbauen, die 1930 in ein selbständiges Universitätsinstitut für experimentelle Zellforschung umgewandelt wird. Sie wird im Fach Protozoologie und im Fach Medizin habilitiert, erhält eine Professur und veröffentlicht 1922 das erste deutschsprachige Lehrbuch zur Gewebezüchtung.

Hochgeachtet im Ausland, ist die Anerkennung in Deutschland mit zahlreichen Hindernissen verbunden. Außerdem kursiert das Gerücht, sie sei Jüdin und „stehe mit entlassenen jüdischen Kollegen in Verbindung und versuche diese, im Ausland unterzubringen“ (S. 26), das führt Ende 1933 zur Versetzung in den Ruhestand und im Februar 1934 zur Entbindung von der Leitung des Instituts. Rhoda Erdmann ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Sie ist eine Pionierin des Frauenstudiums, sie ist ein „role model“ für Wissenschaftlerinnen (S. 5), sie ist Mitbegründerin eines neuen interdisziplinären Wissenschaftszweiges, der Zellforschung, und sie ist ein Beispiel für internationale Spitzenforschung mit internationaler Vernetzung.

Diese kleine Broschüre, 2017 erschienen, ist ein gelungener Beitrag zum 150. Geburtstag der großen Forscherin am 5. Dezember 2020.

DIE ÄRZTINNEN

Heidi Thomann Tewarson: Die ersten Zürcher Ärztinnen. Humanitäres Engagement und wissenschaftliche Arbeit zur Zeit der Eugenik. Basel: Schwabe Verl., 2018. 174 S., ISBN 978-3-7965-3750-9, € 38.00

„Die vorliegende Studie geht der weithin vergessenen und verkannten Geschichte der ersten vier Zürcher Ärztinnen nach,“ (S. 7) die sich in erster Linie dem neuen Fachbereich der Psychiatrie widmen und sich bedingungslos für das Wohl ihrer Patienten in einer Zeit einsetzen, in der die Rassenhygiene einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Die Autorin zeigt den Werdegang der Ärztinnen und analysiert ihre wichtigsten Werke, häufig fehlen persönliche und berufliche Unterlagen.

• Jenny Thomann-Koller (1866–1949), Frauen- und Kinderärztin und Abteilungsleiterin der Schweizerischen Pflegerinnenschule in Zürich. Ihre Forschung richtet sich gegen die damals weit verbreitete, auf statistischen Studien begründete Degenerationstheorie.

• Ida Hilfiker-Schmid (1867-1951) schreibt gegen die eugenischen Theorien an, kämpft für die Gleichberechtigung der Frau, „über die Zeit von mehr als vierzig Jahren, in denen sie als geschätzte Ärztin wirkte, fehlen jedoch jegliche Zeugnisse“ (S. 21).

• Josephine Fallscheer-Zürcher (1866–1932), „die kühnste und vielleicht auch die begabteste unter den hier besprochenen Zürcher Medizinerinnen“ (S. 53), häufig als Ärztin und Wohltäterin unterwegs (u.a. Urfa, Aleppo, Haifa, Jerusalem), kämpft gegen die Tendenz in der Psychiatrie, außergewöhnliche Menschen kategorisch als psychisch krank zu erklären und zu hospitalisieren.

• Pauline Gottschall (1867–1932) gibt ihre Tätigkeit in psychiatrischen Kliniken auf, kehrt der Psychiatrie den

Rücken und lebt als praktische Ärztin im Zürcher Arbeiterviertel Aussersihl. Die dankbaren Patienten nennen sie die Sonne von Aussersihl.

Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Zürcher Medizin- und Sozialgeschichte im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Doris Fischer-Radizi: Vertrieben aus Hamburg. Die Ärztin Rahel Liebeschütz-Plaut. Göttingen: Wallstein Verl., 2019. 366 S. (Wissenschaftler in Hamburg. Band 2) , ISBN 978-3-8353-3383-3 € 29.90

Das Buch enthält biografische Skizzen über Rahel Liebeschütz-Plaut aus größtenteils unveröffentlichtem Material (Verfasserin: Doris Fischer Radizi), nach 1979 und vor 1985 verfasste autobiografische Aufzeichnungen für den Zeitraum von 1932 bis1938 mit großartigem Personenverzeichnis (Verfasserin: Rahel Liebeschütz-Plaut), eine Analyse der wissenschaftlichen Arbeiten von Rahel Liebeschütz-Plaut (Verfasser: Christiane K. Bauer, Hobe Schröder und Jürgen R. Schwarz) und im Anhang ein Faksimile der Arbeit zu Gaswechseluntersuchungen bei Fettsucht aus dem Jahr 1923 (Verfasserin: Rahel Plaut). Die Tochter des Bakteriologen Hugo Carl Plaut, Rahel Plaut (1894–1993) wird 1923 die erste habilitierte Ärztin an der Medizinischen Fakultät der 1919 gegründeten Universität Hamburg und dritte habilitierte Ärztin in Deutschland, anschließend leitet sie als Privatdozentin das Physiologische Praktikum, hält Vorlesungen zur pathologischen Physiologie und publiziert 26 wissenschaftliche Arbeiten. Sie setzt „frühzeitig und erfolgreich eine Methodik der Grundlagenforschung, die Kalorimetrie, auch in der Klinik zu Erforschung von Stoffwechselkrankheiten“ (S. 8) ein. 1924 heiratet sie den Historiker Hans Liebeschütz (1893– 1978). 1933 verliert sie als Jüdin die Lehrbefugnis an der Universität, 1938 wird ihr die Approbation aberkannt, im gleichen Jahr flieht das Ehepaar nach England. Aufgrund fehlender Anerkennung ihrer medizinischen Qualifikationen kann sie hier nicht mehr unterrichten, widmet sich dem Familienleben und arbeitet für wohltätige Organisationen.

Es ist das große Verdienst der Autorin, erstmals eine Wissenschaftlerin zu würdigen, „deren couragierte und selbstbewusste Haltung bis zum heutigen Tag beispielhaft ist“. Die Veröffentlichung erhält 2019 den zweiten Platz beim Herbert-Lewin-Preis, der Arbeiten zur Aufarbeitung der Geschichte der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus honoriert.

Martin Doerry: Lilli Jahn. »Liebe Kinder helft, dass ich hier erlöst werde!« Berlin: Hentrich & Hentrich Verl., 2018. 76 S. (Jüdische Miniaturen. Band 217), ISBN 978-3-95565-255-5 € 8.90

Lilli Schlüchterer (1900–1944), Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns im jüdisch-liberalen Milieu Kölns studiert an verschiedenen Universitäten Medizin, wird 1924 promoviert und arbeitet als Assistenzärztin im Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln. 1926 heiratet sie den evangelischen Arzt Ernst Jahn, sie eröffnen eine gemeinsame Hausarztpraxis in Immenhausen. In „privilegierter Mischehe“ lebend, ist Lilli Jahn relativ geschützt – bis 1942, als sich ihr Mann in eine nichtjüdische Kollegin verliebt und diese heiratet. Von da an lebt sie ungeschützt, 1943 wird sie denunziert, verhaftet, verhört und nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, 1944 erhalten die Kinder die Nachricht vom Tod ihrer Mutter. Der geschiedene Ernst Jahn (1900–1960) gibt sich offensichtlich keine Mühe, die Mutter seiner fünf Kinder aus Auschwitz zu befreien.

Nach dem Tod des Sohnes Gerhard Jahn 1998, von 1969 bis 1974 Bundesminister der Justiz, finden die Erben über 250 Briefe der Kinder Lilli Jahns an ihre Mutter. Sie gelangen in die Obhut eines Sohnes von Lilli Jahns Tochter Ilse, des Historikers Martin Doerry. Er ediert 2002 eine Auswahl der Briefe zusammen mit weiteren Briefen aus Familienbesitz unter dem Titel „Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944“. Das Buch ist ein großer Erfolg, es erscheinen immer neue Auflagen, 19 Übersetzungen in andere Sprachen folgen. Die vorliegende Publikation ist eine stark gekürzte, „auf den Kern beschränkte Fassung der Biographie“ (S. 8). Eine wichtige Edition!

Ingeborg Schödel: Anna Dengel. Ärztin, Missionarin, Ordensgründerin. Das Unmögliche wagen. Neuausgabe. Innsbruck, Wien: Tyrolia-Verl., 2019. 142 S., ISBN 978-3-7022-3795-0 € 10.00

Über die gebürtige Tirolerin Anna Dengel (1892–1980) gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, die neueste und auch umfassendste ist die vorliegende Publikation von Ingeborg Schödel. Die Autorin beschreibt Leben und Werk einer engagierten Ärztin, Ordensschwester und Frauenrechtlerin: „Ich habe versucht, mit der vorliegenden Biographie mich einer ungewöhnlichen Frau anzunähern“ (S. 8). Und das gelingt ihr ausgezeichnet.

Anna Dengel studiert Medizin in Cork/ Irland, wird 1920 promoviert und arbeitet anschließend bis 1924 als Missionsärztin im St.-Katharinen-Spital in Rawalpindi im heutigen Pakistan. Ärztinnen aber ist es nach Kirchenrecht verboten, auf dem Gebiet der Chirurgie und Geburtshilfe tätig zu sein. Deshalb beschließt Dengel, sich in der katholischen Kirche für die Aufhebung dieses Verbotes einzusetzen und reist mehrfach nach England und in die USA. „Ausgestattet mit einer besonderen Gabe für das dafür notwendige ‚Netzwerken‘“ (S. 7) erhält sie 1925 die Genehmigung zur Gründung eines eigenen medizinisch orientierten Ordens, der Society of Catholic Medical Missionaries, deren Generaloberin sie von 1926–1967 ist. 1927 wird das erste Missionsspital in Rawalpindi eröffnet, weitere 51 Niederlassungen weltweit folgen. Offiziell erlaubt ein päpstliches Dekret erst 1936 den Ordensfrauen in Geburtshilfe und Chirurgie medizinisch tätig zu sein, erst 1941 wird die Society als Kongregation anerkannt. Mutter T ­ eresa bezeichnet sie als ihr Vorbild.

Maren Richter: »Aber ich habe mich nicht entmutigen lassen« Maria Daelen – Ärztin und Gesundheits­ politikerin im 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Verl., 2019. 223 S. (Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945. Band 3), ISBN 978-3-8353-3477-9 € 22.00

Maria Felicitas Daelen (1903–1993) – Ärztin in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, aktiv im Widerstand, erfolgreiche Gesundheitspolitikerin in der Bundesrepublik, ist Lebenspartnerin des Dirigentin Wilhelm Furtwängler, bis der sie wegen ihrer jüngeren Halbschwester verlässt. Sie heiratet 1967 nach jahrelanger Beziehung den Verleger Ludwig Strecker, zu ihren Freunden zählen Erika Mann, Käthe Dorsch und Annemarie Schwarzenbach, Max Horkheimer und Carlo Schmid, sie diskutiert mit André Gide und Gottfried von Einem. Dieses turbulente Leben deutet sich keineswegs in ihrer Kindheit an, denn ihre Mutter Katharina Daelen geb. van Endert und spätere von Kardorff-Oheimb und als solche in der Weimarer Republik eine bedeutende politische Salonnière und Publizistin (s.a. fachbuchjournal 11 (2019)1, S. 56,58), verlässt die Familie, der Vater erhält das Sorgerecht.

Maria ist eine emanzipierte Frau, sie studiert Medizin in Hamburg und München, es folgen Staatsexamen und Promotion und Assistenzärztin in Berlin. 1939 eröffnet sie eine eigene Praxis für Innere Krankheiten. 1943–1945 kann sie als Kreisärztin vielen Künstlern helfen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, und sie stellt sich mutig hinter die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Kurz vor Kriegsende kommt sie einer Inhaftierung durch Flucht nach Österreich zuvor.

Ab 1946 arbeitet sie im Staatsdienst, zuerst im Hessischen Staatsministerium, später im Bundesinnenministerium und im Bundesgesundheitsministerium, und sie ist Delegierte der Bundesrepublik im Europarat und in der WHO. Anhand zahlreicher Dokumente schildert die Historikerin Maren Richter detailliert das Leben dieser außergewöhnlichen Frau, und da ist auch viel zu lesen von der Demütigung der Frauen in der Bundesrepublik, „die Vorstellungen der Geschlechterrollen“ (S. 136) wandeln sich nur sehr langsam. Noch 1969 bemerkt Maria von einer Reise nach Addis Abeba: „Die Männer empfinden die meisten Frauen als Suffragetten u. ich glaube ich bin als Paradepferd mitgenommen worden.“ (S. 136)

DIE ZAHNÄRZTINNEN

Ingeborg Boxhammer: »Herrin ihrer selbst« Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus. Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich Verl., 2019. 352 S., ISBN 978-3-95565-339-2 € 24.90

„Anfangs kannte ich nur diese beiden Frauennamen: Margarete Herz und Helene Wolff. Herz und Wolff wohnten unter derselben Adresse in Bonn, teilten sich eine Zahnarztpraxis und hatten beide 1912 ein in der Zeitung abgedrucktes politisch-emanzipatorisches Statement unterzeichnet … Diese Kombination ließ für die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts auf unangepasste Frauen schließen, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind.“ (S. 12) Das sind die spärlichen Details über zwei Dentistinnen. Daraus werden durch aufwendige Recherchen „bemerkenswerte und mitreißende Geschichten“ (S. 12). Im Verlauf der Forschung kristallisieren sich „beeindruckende Persönlichkeiten heraus, nämlich beharrliche und willensstarke moderne ledige Frauen, die sich von der klassischen Frauenrolle in Ehe und Familie, aber auch von den Traditionen der jüdischen Religion abwandten und andere Sinngebungen ins Auge fassten.“ (S. 12-13)

Margarete Herz (1872–1947) steht im Mittelpunkt eines kleinen Netzwerkes selbständig arbeitender Frauen. Dazu gehören ihre früh verstorbene Freundin Helene Wolff (1871–1917), ihre Mutter Sophie Herz, ihre Schwester Lina Herz (Dentistin), ihre Schwägerin Alice Herz (Journalistin und Pazifistin, die im Alter von 82 Jahren aus Protest gegen den Vietnamkrieg Suizid durch Selbstverbrennung an einer Detroiter Straßenkreuzung begeht) und deren Tochter Helga Herz, Luise Mayberg (Dentistin) und Johanna Elberskirchen (Medizinerin, Publizistin, Homosexuellen- und Stimmrechtsaktivistin).

Dieses Netzwerk vereint Frauen im Kampf um die Anerkennung der Zahnheilkunde als Beruf für Frauen, um politische Frauenrechte (u.a. freie Berufswahl für Frauen, Aufhebung des Vereinsverbots für Frauen) und um die Berücksichtigung der Naturheilkunde in der Medizin (Reformlehre und körperliche Leiden, Eröffnung und Betrieb einer vegetarischen Gaststätte und eines Reformhauses). Ihre Lebens- und Arbeitsmodelle stehen „konträr zum geforderten Struktur- und Ordnungsprinzip für bürgerliche Frauen als Ehefrau und Mutter.“ (S. 262) Die ökonomische Unabhängigkeit ebnet ihnen den Weg „für weitreichende persönliche Entscheidungen: Berufliche Selbständigkeit und gegenseitige soziale Absicherung ermöglichten ihnen die Freiheit, ledig und frauenbezogen … zu leben sowie politisch aktiv zu werden.“ (S. 263) Ab 1933 bedrohen die Nationalsozialisten und der zunehmende institutionelle Antisemitismus das Leben der gebürtigen Jüdinnen. Ihnen bleibt nichts weiter als die Flucht aus Deutschland.

Es ist ein außergewöhnliches Buch, das einen Einblick in das Leben einer ungewöhnlichen Frau gibt, die den Mittelpunkt eines feministischen Netzwerkes bildet – ein Vorzeigeobjekt feministischer Biografien.

 

DIE MATHEMATIKERINNEN

Margot Lee Shetterly: Hidden figures. Unerkannte Heldinnen. Hamburg: HarperCollins Germany, 2017.416 S. (HarperCollins Band 100064), ISBN 978-3-95967-084-5 € 14.00

John Glenn, den ersten US-Amerikaner, der die Erde in einem Raumschiff umkreist, und die nachfolgenden Weltraummissionen der USA kennt wohl jeder, die Namen der Mathematikerinnen, die an vielen Unternehmungen beteiligt sind, sind eher unbekannt, auch in den USA. Diese Romanbiographie ist die Geschichte von drei afroamerikanischen Mathematikerinnen, die für die NASA und die Vorgängerinstitution NACA arbeiten:

• Katherine G. Johnson (1918-2020), die 1953 ihre NACA-Karriere beginnt, berechnet die Flugbahnen für das Mercury-Programm und den ersten bemannten Flug zum Mond im Rahmen der Apollo-11-Mission und ist danach an weiteren Projekten der NASA beteiligt; für ihre Leistungen als Pionierin der Raumfahrt erhält sie 2015 von Präsident Barack Obama die Presidential Medal of Freedom.

• Mary Winston Jackson (1921–2005) beginnt 1951 ihre Arbeit in der NACA und leitet u.a. die aeronautischen Tests mit Modellen in einem Windkanal.

• Dorothy Vaughan (1910–2008) beginnt 1943 für die NACA zu arbeiten und spezialisiert sich auf Programmierung, insbesondere die Programmiersprache FORTRAN. Durch dieses Buch und einen darauf basierenden Film erhalten sie nun eine sehr späte weltweite Anerkennung. In den 1950er und 1960er Jahren werden sie in der weißen und männerdominierten US-amerikanischen Gesellschaft diskriminiert – wegen ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts. Sie sind Hidden Figures, müssen im Verborgenen arbeiten, haben gesonderte Büros, betreiben ihre Forschungen abgeschottet, müssen separate Toiletten und Pausenräume nutzen. Erst 1964 hebt der damalige Präsident Lyndon B. Johnson mit dem Civil Rights Act zumindest juristisch die Trennung von Schwarzen und Weißen auf.

Die Autorin zeigt, wie die drei Mathematikerinnen zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Gleichberechtigung der Ethnien beitragen. Ihr akribisch recherchiertes, durch viele Zahlen und Fakten nicht immer leicht lesbares Buch wird in 16 Sprachen übersetzt, die Filmbiografie erhält zahlreiche Auszeichnungen, 2017 leider nur drei Oscar-Nominierungen – zu schwarz, zu viele erfolgreiche Frauen?

Dank für diese Erinnerung, für diese andere, ungewohnte Perspektive auf die Geschichte der US-amerikanischen Raumfahrt.

PS. In der sowjetischen Raumfahrt wird Galina Balaschowa (1931 geb.) als Architektin des Raumprogramms gefeiert. In fast 30 Jahren im Dienst der Kosmonautik entwirft die Architektin die Innenräume für die Sojus-Kapseln, die Weltraumstationen Mir und Saljut und die Internationale Raumstation ISS, parallel dazu gestaltet sie Medaillen und Missionsabzeichen. Die ausgezeichnete Biografie von Philipp Meuser unter dem Titel Galina Balaschowa. Ar­chitektin des sowjetischen Raumfahrtprogramms (Berlin, 2014. ISBN 978-3-86922-345-2) gibt erstmals Auskunft über Leben und Werk.

 

DIE PHYSIKERINNEN

David Rennert, Tanja Traxler: Lise Meitner. Pionierin des Atomzeitalters. Salzburg, Wien: Residenz Verl., 2018. 220 S., ISBN 978-3-7017-3460-3 € 24.00

Es gibt zahlreiche exzellente Veröffentlichungen über Lise Meitner (1878–1968) und ihre Weggefährten. Die zum 50. Todestag der Wissenschaftlerin erscheinende Biografie des Historikers David Rennert und der Physikerin Tanja Traxler bezieht nun inzwischen veröffentliche Briefwechsel und unveröffentlichtes Archivmaterial ein. Das ergibt ein lückenloseres Bild, leider kommt aber die Nachkriegszeit zu kurz.

Die Autoren erzählen Leben und Werk chronologisch, zitieren aus Briefen und aus Nachlässen.

In Berlin verbringt die studierte und promovierte österreichische Physikerin ihre produktivsten Jahre (1907–1938), hier lernt sie den Chemiker Otto Hahn kennen; ihre jahrzehntelange Freundschaft ist mit zahlreichen Erfindungen verbunden. 1918 wird sie Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und nach Habilitation 1926 Deutschlands erste Professorin für Physik. Nach der Annexion Österreichs 1938 wird Meitner deutsche Staatsbürgerin und ist als gebürtige Jüdin in besonderer Weise gefährdet. Ihr gelingt noch im gleichen Jahr die illegale Ausreise nach Schweden. 1939 veröffentlich sie zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch die erste physikalisch-theoretische Erklärung der Kernspaltung, die Hahn und Fritz Straßmann wenige Monate vorher auslösen und mit radiochemischen Methoden nachweisen. Bis 1946 arbeitet sie am Nobel-Institut für physikalische Chemie, ab 1947 leitet sie die kernphysikalische Abteilung an der Königlichen Technischen Hochschule Stockholm. 1960 siedelt sie nach Cambridge über.

Meitner wird zu Lebenszeiten und postum vielfach geehrt. Sie erhält über 20 wissenschaftliche Auszeichnungen. Hahn enthält für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung den Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944, Meitner und Frisch werden nicht berücksichtigt. 48mal wird Meitner für den Nobelpreis nominiert (29mal für Physik, 19mal für Chemie), die Auszeichnung bleibt ihr verwehrt. Mit Donna Strickland wird 2018 erst zum dritten Mal eine Frau mit dem Nobelpreis für Physik geehrt, nach Marie Curie 1903 und Maria Goeppert-Mayer 1963.

Meitners Arbeit legt den Grundstein sowohl für die friedliche Anwendung der Atomenergie als auch für die Vernichtung durch die Atombombe, an deren Entwicklung sie allerdings nie beteiligt ist.

Zu der Zeit nach 1945 eine kleine Begebenheit aus dem Jahr 1958. Dazu schreibt die Schriftstellerin Helga Königsdorf in ihrem Buch „Respektloser Umgang“ (1986) u.a.: „Ich: Studentin der Physik. Drittes Studienjahr … Der Festakt. Plancks hundertster Geburtstag … Die Großen sehen und hören. Max Volmer. Gustav Hertz. Max von Laue … Bloß diese Frau dort auf der Bühne? Laborantin von Otto Hahn. Wie heißt sie gleich? Lise Meitner. Nie gehört. Emigrieren musste sie. Sonst wäre sie bei der Entdeckung der Kernspaltung dabei gewesen …Sie war achtzig! Und ich zwanzig!“ Und der Rezensent sitzt mit ähnlichen Gedanken damals neben seiner Kommilitonin. Der Festakt findet am 24. April 1958 in Berlin in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden statt, veranstaltet von dem Verband Deutscher Physikalischer Gesellschaften – eine der letzten gemeinsamen gesamtdeutschen Veranstaltungen der Physiker bis 1990.

 

Waltraud Voss: Lieselott Herforth. Die erste Rektorin einer deutschen Universität. Bielefeld: Transcript Verl., 2016. 321 S., ISBN 978-3-8376-3545-4 € 29.99 (Gender Studies)

Die Mathematikerin und Wissenschaftshistorikerin Waltraud Voss legt erstmals eine umfassende Biografie über eine der bedeutendsten deutschen Physikerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor: Lieselott Herforth (1916–2010), die leider nur (noch) in Fachkreisen bekannt ist. Das wird sich mit diesem Buch ändern, denn die Autorin berichtet sehr ausführlich über alle Lebensstationen von Lieselott Herforth, auch über ihre Familie, über ihre Lehrer, Kollegen, Freunde und Schüler. Den jeweiligen Kapiteln vorangestellt ist ein Abschnitt über die wichtigsten gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Ereignisse. Der Vater ist Sozialdemokrat, Kaufmann und später Verleger und Schriftsteller. Herforth studiert an der TH Berlin-Charlottenburg angewandte Mathematik und Physik. Ihre ersten Arbeitsjahre sind von zahlreichen Wechseln von einem kriegszerstörten oder verlagerten Institut an das nächste gekennzeichnet (Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin, Physikalische Institute der Universitäten in Leipzig und Freiburg, TH Berlin Verlagerungsort Schwarzenfeld), sie wird dreimal ausgebombt (Berlin, Leipzig, Freiburg), sie verliert den einzigen Bruder und den Bräutigam. Nach ihrer Promotion baut sie am Institut für Medizin und Biologie Berlin-Buch der neu gegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften ein Labor auf, nach ihrer Habilitation wird sie Dozentin für Strahlenphysik an der Universität Leipzig und später Professorin für angewandte Radioaktivität an der TH für Chemie in Leuna-Merseburg. 1960 wird sie sesshaft: sie geht nach Dresden, in das Zentrum der Kerntechnik in der DDR, und wird als Professorin an die TH Dresden berufen, wird Direktorin des Instituts für Anwendung radioaktiver Isotope und von 1965–1968 erste Rektorin einer deutschen Universität. Sie liefert im Laufe ihrer langen Karriere wichtige, auch international anerkannte Beiträge zur Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Lumineszenzphysik und ihrer Anwendung. Noch heute erscheint das von ihr und Hartwig Koch 1959 erstmals herausgegebene Praktikum der Radioaktivität und Radiochemie. Herforth erhält zahlreiche Auszeichnungen. 1962 wird sie Mitglied der SED und ein Jahr darauf in den Staatsrat gewählt. Hier setzt sie sich für die Förderung der Frauen und die stärkere Gewinnung von Mädchen und Frauen für mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Berufe und Studienrichtungen ein.

Was für eine beeindruckende Karriere als Frau! Ohne einen eisernen Willen, ohne diese vielen Stationen und ohne interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit an Hochschulen und die enge Zusammenarbeit mit der Industrie wäre dies alles undenkbar. Von dieser beeindruckenden Frau konnte sich der Rezensent anlässlich mehrerer Vorträge selbst überzeugen.

 

DIE ARCHITEKTIN

Margarete Schütte-Lihotzky: Warum ich Architektin wurde / Hrsg. Karin Zogmayer. 2., aktualisierte Aufl. Salzburg: Residenz-Verl., 2019. 227 S., ISBN 978-3-7017-3497-9 € 24.00

Wilhelm Schütte. Architekt. Frankfurt. Moskau. Istanbul. Wien / Hrsg. ÖGFA – Österreichische Gesellschaft für Architektur, Ute Waditschatka. Zürich: Park Books, 2019. 175 S. ISBN 978-3-03860-140-1 € 38.00.

2020 jährt sich der Todestag der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) zum zwanzigsten Mal. Aus diesem Anlass erscheinen mehrere Veröffentlichungen. Dem Rezensenten liegen zwei vor: eine Neuauflage ihrer Memoiren Warum ich Architektin wur­ de für den Zeitraum von 1915 bis 1930 (Erstauflage 2004) und ein Sammelband zu ihrem Mann, mit dem sie von 1927 bis 1951 verheiratet ist, Wilhelm Schütte. Architekt. Frankfurt. Moskau. Istanbul. Wien. Hinzuweisen ist außerdem auf einen Band von 2014 Margarete Schütte-Li­ hotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpfe­ rische Leben einer Architektin von 1938-1945 (Rez. in: fachbuchjournal 7 (2015) 6, S. 33-34).

Warum ich Architektin wurde wird von der Philosophin und Philologin Karin Zogmayer im Nachlass von Schütte-Lihotzky unter dem Titel „Erinnerungen und Betrachtungen“ entdeckt und 2004 veröffentlicht. Nun liegt eine zweite Auflage mit neuem Vorwort vor.

Die Memoiren sind in drei Abschnitte unterteilt. Der erste (1915–1920) behandelt die Studienzeit in Wien, sie studiert als erste Frau in Österreich Architektur, arbeitet mit Oskar Strnad, Adolf Loos und Ernst May zusammen und betreibt Architektur als soziale Aufgabe. Der zweite Abschnitt (1920–1925) ist ihren Wiener Jahren gewidmet, sie arbeitet für die Wiener Siedlerbewegung, entwickelt Prototypen für einfach zu errichtende Häuser und entwirft erste Inneneinrichtungen, Persönlichkeiten der Siedlerbewegung sind u.a. Adolf Loos und Otto Neurath. Im dritten Abschnitt (1925–1930) berichtet Schütte-Lihotzky über ihre Jahre im Hochbauamt in Frankfurt am Main und ihre Mitarbeit im Projekt „Neues Frankfurt“, ihre Themen sind Wohnungsbau und Rationalisierung der Hauswirtschaft – und hier entsteht die berühmte Frankfurter Küche, auf die sie leider viel zu oft reduziert wird. Die politische Situation in Deutschland lässt sie 1930 in die Sowjetunion gehen. Und damit enden diese Memoiren, die durch Biographisches, ein Personenregister und eine editorische Nachbemerkung ergänzt werden. Sie finden ihre Fortsetzung in den eingangs erwähnten Erinnerungen aus dem Widerstand. Das kämpferische Leben einer Architektin von 1938-1945, die übrigens zuerst (1985) in der DDR erscheinen, Österreich folgt 1994 und 2014. Wilhelm Schütte. Architekt. Frankfurt. Moskau. Istan­ bul. Wien ist die erste umfangreiche Studie zu Leben und Werk eines Mannes, dessen Wahrnehmung im Schatten seiner dominanten Frau, der „‚Jahrhundertgestalt‘ Margarete Schütte-Lihotzky“ (S. 25) steht. Er gilt als international anerkannter Schulbauexperte. Der Band umfasst vier aus den Quellen erarbeitete Beiträge zu den Stationen Reformschulneubau im Neuen Frankfurt (1925–1930), Schulbau in der Sowjetunion (1930–1937), Tätigkeit in der Türkei (1938–1946) und Architekt im NachkriegsWien (1947–1968). Diese Phasen sind auch für die häufig von Biografen vernachlässigte Zeit von Schütte-Lihotzky ergiebig. Das Ehepaar hat sie übrigens gemeinsam erlebt. Dann gibt es fünf Beiträge, die sich mit dem Schaffen von Schütte an Einzelbeispielen beschäftigen wie der Neubau der Globus Zeitungs-, Druck- und Verlagsanstalt (1954– 1961) und die Sanierung, Rekonstruktion und Nutzung der Freiluftschule Floridsdorf (1961). Eingeschlossen in die berufliche Tätigkeit ist auch immer das politische Engagement des Ehepaars für den Kommunismus. Das Buch ist von Gerda Wimmer bestens gestaltet (man beachte die Marginalien), mit zahlreichen Fotos versehen und ausreichend durch Bibliografie und Register erschlossen. Es ist der früh verstorbenen großartigen Architekturhistorikerin und -publizistin Iris Meder (1965–2018) gewidmet, die viele Jahre auch in der diesen Band herausgebenden ÖGFA arbeitet.

Noch ergänzend zu Schütte-Lihotzky: 1939 tritt sie in die Kommunistische Partei Österreichs ein, arbeitet im Widerstand und bleibt bis zu ihrem Tod überzeugte Kommunistin. 1941 wird sie mit dem Architekten Herbert Eichholzer festgenommen, er wird zum Tode verurteilt, sie erhält 15 Jahre Zuchthaus, die sie bis zur Befreiung im Frauengefängnis im bayrischen Aichach verbringt. Danach arbeitet sie in Sofia, kehrt 1947 nach Wien zurück, erhält aber wegen ihrer politischen Ansichten keine öffentlichen Aufträge. Sie wird Beraterin in der Volksrepublik China, in Kuba und in der DDR. Erst nach 1980 werden ihre Verdienste um die Architektur in Österreich durch die Verleihung von Titeln und Preisen und durch die Benennung von Straßen und Plätzen anerkannt.

Leider gibt es m.E. noch immer keine umfassende Biografie zu Leben und Werk von Schütte-Lihotzky, die bisherigen Veröffentlichungen beschränken sich immer auf einige Details. Dafür sind allerdings beide Publikationen von großer Bedeutung.

 

DIE HAUSWIRTSCHAFTLERIN

Ortrud Wörner-Heil: Käthe Delius (1893-1977). Hauswirtschaft als Wissenschaft. Petersberg: Michael Imhof Verl., 2018. 384 S., ISBN 978-3-7319-0737-4 € 24.95

In dieser gründlichen und detailgenauen Biografie würdigt die Historikerin Ortrud Wörner-Heil auf der Basis umfangreicher Recherchen in Archiven die weitgehend in Vergessenheit geratene Hauswirtschaftlerin und Bildungsplanerin Käthe Delius (1893–1977). Mit dieser Veröffentlichung wird wieder eine Lücke in der Frauengeschichte geschlossen, denn Käthe Delius ist bisher nicht gewürdigt „weder als Bildungsplanerin für ein ländlich-hauswirtschaftliches Schulwesen noch als Wissenschaftlerin und auch nicht für die Schaffung von Strukturen für eine Wissenschaft der Hauswirtschaft“ (S. 9).

Delius ist nach beruflicher Ausbildung zur Gewerbelehrerin im Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin Lehrerin in der Wirtschaftlichen Frauenschule Obernkirchen und verfasst 1920 einen Leitfaden für Nahrungsmittellehre. Begeistert von der Siedlungsidee erprobt sie diese auf einem Hof in der Nähe von Königsberg. 1922 wird sie Geschäftsführerin des Reichsverbandes der Beamtinnen und Fachlehrerinnen in Haus, Garten und Landwirtschaft. Ein Jahr später wird sie als erste Frau in ein Landwirtschaftsministerium berufen, dem Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (Delius: „für die Frauen zu arbeiten, sollte jetzt in Erfüllung gehen“ S. 119). Sie kämpft hier von 1923–1934 für Veränderungen in der Ausbildung für Frauen und Mädchen auf dem Land, baut ein Netzwerk für Frauenausbildung und Frauenarbeit auf dem Land auf, unternimmt erste Schritte zur Konstituierung einer Wissenschaft von der Hauswirtschaft und gründet eine Zentrale für Hauswirtschaftswissenschaften an der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Im Rahmen der Reorganisation der preußischen Ministerien wird Delius 1934 in das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung versetzt und verbleibt dort bis 1945. Über ihre Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Ministerialbürokratie wird in dieser Veröffentlichung erstmals berichtet; die Autorin kann sich dabei aber nur auf wenige Quellen, meist unveröffentlichte und schwer zugängliche stützen.

Nach 1945 arbeitet Delius in der russischen Zentrale für Land- und Forstwirtschaft der sowjetisch besetzten ­Zone und wird trotz Zugehörigkeit zu dieser Verwaltung Ende 1945 verhaftet und ohne Anklage in einem Speziallager Sachsenhausen/Oranienburg bis 1950 interniert. Nach ihrer Entlassung tritt sie in das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ein. Das führt zum Höhepunkt ihrer Karriere, denn sie übernimmt 1951 die Leitung der Bundesforschungsanstalt für Hauswirtschaft, die 1974 mit anderen Forschungsanstalten und Instituten die heute noch bestehende Bundesforschungsanstalt für Ernährung mit Hauptsitz in Karlsruhe bildet. 1955 wird sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhe­ stand versetzt.

Eine großartige Biografie! ˜

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­blio­­ theks­direktor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

dieter.schmidmaier@schmidma.com

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