Landeskunde

Wie sich Chinas Selbstbewusstsein zusammensetzt

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 4/2018

„Chinas Selbstbewusstsein scheint grenzenlos“, konstatieren in unseren Tagen die Kommentatoren und mahnen zudem, „man sollte das Land lieber nicht unterschätzen“. Tatsächlich kündigen sich Verschiebungen in den globalen Teilhabeproportionen an. Doch was ist das Land, von dem hier die Rede ist, und was ist das Selbstbewusstsein Chinas? Ganz gewiss hängt die Antwort auch von der Selbsteinschätzung des Betrachters ab. Denn nimmt man den Satz des Strategen Sunzi (5. Jh. v.Chr.) ernst, der besagt: „Wer den Anderen kennt und sich selbst,/ Wird auch in hundert Aufeinandertreffen nicht in Gefahr geraten.“, dann wird man auch nach der Lektüre noch so vieler Bücher über China nicht wirklich erfolgreich sein, wenn man sich nicht auch über sich selbst Rechenschaft abgelegt hat. Während China einen Plan zu haben und eine Strategie zu verfolgen scheint, ist dies auf deutscher und europäischer Seite nicht so deutlich erkennbar. Das führt zu neuer Asymmetrie. Um China richtig einzuschätzen, und dann vielleicht auch eine eigene Strategie zu formulieren, ist eine umfassende Kenntnis, die eigene Position eingeschlossen, die Voraussetzung.

Das traumatisierte Selbst

Mit der Nennung von China werden bei uns immer noch die Kulturrevolution oder der Große Sprung nach Vorn und die damit verbundenen Hungersnöte und Opfer von Gewalt aufgerufen. Die Erinnerung an die Opfer jener Kampagnen und dadurch bewirkte Traumatisierungen wird auch in China selbst erinnert. Zwar wird noch vieles tabuisiert, doch gelangen innerhalb Chinas nach Jahrzehnten des Verdrängens Erinnerungen aus den Jahren der Kulturrevolution, welche zugleich die letzten zehn Lebensjahre Mao Zedongs waren, an die Oberfläche. Die lange Zeit beschwiegene Kulturrevolution ist ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn der Ereignisse in besonderer Weise zum Thema geworden. Der eigentliche Beginn der Kulturrevolution war die 16-Punkte Erklärung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Chinas vom 8. August 1966. Im Rückblick wird deutlich, dass die „heiße Phase“ dieser Kulturrevolution, gekennzeichnet durch Massenrebellionen, mit dem Neunten Parteikongress 1969 definitiv beendet wurde, während in den Folgejahren bis 1976 ein Machtkampf, verbunden mit „Säuberungen“ vor allem innerhalb der Parteielite, tobte. Nach eigenem Bekunden steht in dem neuen der Volksrepublik China gewidmeten Band der renommierten Reihe „Grundriss der Geschichte“ des Oldenbourg Verlages „nicht mehr länger die maoistische Phase von 1949 bis zur Kulturrevolution im Mittelpunkt“, sondern „die Periode der Reform und Öffnung, die 1978 begann und bis heute andauert“. Der Kulturrevolution aber widmet Klaus Mühlhahn dennoch große Aufmerksamkeit (S. 69-82), die aber auch nach der Lektüre des Forschungsberichts hierzu (S.197-203) weiterhin eher rätselhaft bleibt.

Klaus Mühlhahn, Die Volksrepublik China. Berlin: de Gruyter 2017. Oldenbourg Grundriss der Geschichte 44. XII+312 Seiten. ISBN 978-3-11-035532-1. Euro 29,95.

Daher ist es weiterhin wichtig, die Erfahrungen von Leid und Konflikten ebenso wie von Euphorie und Veränderungen zu erinnern. Aus den zahlreichen Publikationen sollen hier zwei hervorgehoben werden, die beide aus ihrer subjektiven Betrachtung keinen Hehl machen. Die in Versform aufgezeichneten und unter dem Pseudonym Luo Ying veröffentlichten Memoiren des erfolgreichen Unternehmers und Bergsteigers Huang Nubo, welcher in der Kulturrevolution Täter und Opfer zugleich war, sollen dem chinesischen Publikum die Gräuel der Selbstermächtigung der Roten Garden vor Augen führen, auch um vor einer Wiederholung zu warnen, denn, wie es am Ende des Buches unter Anspielung auf korrupte Beamte, die ihr Vermögen bereits ins Ausland verschoben haben und denen daher wegen ihrer „leeren Taschen“ nichts nachzuweisen ist, heißt: „In einer Zeit, wo die Chinesen den ‚nackten Beamten‘ erfinden, ist eine Wiederkehr der Kulturevolution jederzeit möglich.“(S. 220)

 

Luo Ying, Erinnerungen an die Kulturrevolution. Moderne Volksballade. Aus dem Chin. v. Michael KahnAckermann. Mit einem Nachwort von Meng Zhanchun. Hildesheim: Olms Verlag 2017. 268 Seiten.

ISBN 978-3-487-08585-2. Euro 19,80.

In ihrem Bericht über die Kulturrevolution sucht Cornelia Hermanns diese Epoche in die Geschichte seit der Gründung der Republik China im Jahre 1912 einzubetten. In dem reich und häufig farbig illustrierten Buch verknüpft sie in vielfältiger Weise, dabei Verbindungslinien nachzeichnend, die Richtungsdebatten mit Kampagnen der Partei und mit den wiederholten Enttäuschungen und innerparteilichen Machtkämpfen. Sie zeigt, wie der Kulturrevolution eine Politisierung der Armee voran ging, wie Marschall Lin Biao an den Personenkult der 40er Jahre und speziell an den Kult um Mao Zedong in jener Zeit anknüpfte und wie er die Spaltung der Partei zu seinen Gunsten zu überwinden suchte. Von der Zeit der eigentlichen Kulturrevolution, der die zweite Hälfte des Buches gewidmet ist, erklärte bereits 1977 Deng Xiaoping, durch sie sei „China in eine kulturelle Wüste verwandelt und eine ganze Generation von Jugendlichen zu intellektuellen Krüppeln gemacht worden“ (S. 310). Die Erinnerung und „Aufarbeitung“ dieser Zeit ist also noch lange nicht abgeschlossen.

 

Cornelia Hermanns, China und die Kulturrevolution. Der letzte lange Marsch. Esslingen: Drachenhaus Verlag 2016. 350 Seiten.

ISBN 978-3-943314-34-2. Euro 29,95.

Mit der Erinnerungskultur in China ganz allgemein beschäftigt sich Thomas Zimmer in seinem Versuch einer aus vielen Facetten zusammengesetzten literarischen Vermessung des heutigen China. Gerade weil sich die komplexe Kultur und Gesellschaft einfachen Erklärungen und Urteilen entzieht, sucht er hierfür Gründe. China habe einen jahrzehntelangen Stillstand erlebt, ein Koma gewissermaßen, und es befinde sich „heute in einem Zustand der Schizophrenie“, weil „niemand ohne Weiteres den Blick auf das Ganze richten“ könne (S. 11). „Immer noch ist das Verschweigen, Verheimlichen, Beschönigen an der Tagesordnung“, und „die selbst erlebte Vergangenheit ist nie mit der offiziell propagierten kongruent“. Andererseits habe sich „literarisch in den vergangenen 20 Jahren jede Menge getan“; diese Zeit sei „ein riesiges Experiment“, bei dem allerdings alles bereits im Moment des Entstehens wieder verpuffe, weil das Land nicht wisse, wo es steht, und deswegen habe es der Welt auch nichts zu sagen (S 18). Dem ließe sich entgegenhalten: auch wenn das Land der Welt nichts sagt, so könnte die Welt doch durch Empathie von dem „riesigen Experiment“, welches China darstellt, lernen. Dass dies nicht der Fall zu sein scheint, ist das eigentliche Dilemma! Zimmers Buch ist dennoch überaus lesenswert, weil man darin vielen Autoren und ihren Werken begegnet. Dabei muss man ja nicht den Urteilen und Klagen des Autors immer folgen, wenn er etwa dem Nobelpreisträger Mo Yan vorwirft, dass ihm die Bereitschaft fehle, „auf Distanz zum System zu gehen“ (S. 266). In seinen einzelnen Werkanalysen eröffnet Thomas Zimmer als intimer Kenner der chinesischen Gegenwartsliteratur Einblicke in literarisch gefasstes chinesisches Selbstverständnis in seiner ganzen Widersprüchlichkeit.

 

Thomas Zimmer, Erwachen aus dem Koma? Eine literarische Bestimmung des heutigen Chinas. Baden-Baden: Tectum Verlag 2017. 510 Seiten.

ISBN 978-3-8288-3911-3. Euro 49,95.

Einen anderen Zugang zur Literatur Chinas sucht Alexander Saechtig, der sich der schriftstellerischen Praxis der frühen Phase der Volksrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre widmet und diese parallel zu den Entwicklungen in der DDR untersucht. Die unterschiedlichen Wechselbeziehungen und Wahrnehmungen von chinesischer Literatur in Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges wie die Rezeption deutscher Literatur im China jener Zeit sind ebenso das Thema wie innerliterarische Problematisierungen wie etwa die Frage nach dem „bourgeoisen Erzähler“ und nach dem Erzählstil allgemein sowie die Gegenüberstellung von europäischer Erzählweise und chinesischer Tradition. So wird diese Arbeit

Alexander Saechtigs zu einer Aufarbeitung einer weitgehend vergessenen Epoche. Sie ist, methodisch überlegt und auf allgemeine Probleme sozialistischer Literatur ebenso wie auf einzelne Autoren (ab S. 143) ausführlich eingehend, eine Fundgrube zum besseren Verständnis dieser in unserer Erinnerung langsam entschwindenden und für die Formation der Gegenwart doch so entscheidenden Jahrzehnte. Das Kapitel über die Entwicklung der „Helden“darstellungen in der Literatur der DDR und der Volksrepublik China allein (S. 359-450) ist eine reichhaltige und zugleich spannende Lektüre. Dieser Teil zeigt vielfältige Parallelen auf und eröffnet so Einblicke in die in jener Zeit gerade über die DDR etablierten engen literarischen Beziehungen zwischen China und Deutschland.

 

Alexander Saechtig, Schriftstellerische Praxis in der Literatur der DDR und der Volksrepublik China während der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Möglichkeiten, Entwicklungen und Tendenzen. 2017. 500 S. Hildesheim: Georg Olms 2017. 500 Seiten. (GERMANISTISCHE TEXTE UND STUDIEN Band 97). Paperback.

ISBN 978-3-487-15486-2. Euro 68,00.

Zum chinesischen Selbstbewusstsein gehört auch die Wahrnehmung der inneren Vielfalt und Verschiedenheit. Eine besondere Aufmerksamkeit bei Han-Chinesen finden die zum Teil in Randregionen siedelnden nichtchinesischen Minderheiten. Unter allen Minderheiten spielen im innerchinesischen mentalen Diskurs eine besondere Rolle die tibetischen Völker, die zum größten Teil in den hoch und zum Teil abgelegenen Gebieten Tibets, aber auch in benachbarten Provinzen siedeln. Nicht nur deren Folklore, sondern auch deren geistige und religiöse Traditionen üben auf viele Chinesen eine große Faszination aus. Das Dokument einer solchen Nähe, Vertrautheit und Bewunderung ist der Bericht der Filmmacherin und Literaturwissenschaftlerin Ma Lihua, der uns zugleich gelebte Frömmigkeit in Tibet vor Augen führt.

 

Ma Lihua, Souls Are Like the Wind. Translated from the Chinese by Markus S. Conley and Song Meihua. Gossenberg: Ostasien Verlag 2017. vii+299 Seiten. (Reihe Phönixfeder 37) 

ISBN 978-3-946114-37-6. Euro 29,80.

Chinas nahe und ferne Vergangenheit

Das Nebeneinander und die Verflochtenheit von Disparatem ist gewissermaßen die Basis dessen, was wir kulturell und politisch als China bezeichnen und wodurch sich das konstituiert, was wir als „chinesisches Selbstbewusstsein“ bezeichnen. Eine der bekanntesten Bilder für diese Einheit von Gegensätzen ist das Yin-Yang-Denken, dem Gudula Linck ihr neues Buch gewidmet hat. Dessen Lektüre bietet dem Leser Zugang zum Welt- und Naturverstehen in China. Erst die Entfaltung der mit dem Yin-Yang-Denken verbundenen Begrifflichkeit und Denkweise macht die Grundzüge der traditionellen chinesischen Medizin und die chinesischen Vorstellungen von Gesundheit und Ganzheit und von den vielfältigen Gefährdungen gelungenen Lebens überhaupt erst verständlich.

 

Linck, Gudula, Yin und Yang. Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken. 200 Seiten, Gebunden. Freiburg/München: Karl Alber Verlag 2017. 199 Seiten.

ISBN 978-3-495-48916-1. Euro 22,00.

Mit der Öffnung Chinas im ausgehenden 19. Jahrhundert entstehen vielfältige neue Verflechtungen, und manches was inzwischen in China als selbstverständlich und gewissermaßen unstrittig als charakteristisch chinesisch gilt, ist doch erst Folge der Reformen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Darauf weist Hajo Fröhlich in seiner Studie zu den Folgen der im Jahre 1901 von der Kaiserin Cixi propagierten „Neuen Politik“ im Bereich des Bildungs- und Erziehungswesens hin, indem er insbesondere die staatlichen Maßnahmen in das Blickfeld rückt. „Neue Schulen für einen neuen Staat“ heißt daher treffend ein Kapitel, und entsprechend wird vor den Augen des Lesers die Planung und Implementierung eines neuen Bildungssystems in den letzten Jahren des Kaiserreiches entfaltet. Dass der Autor sich dabei auf Südchina konzentriert, hat mehrere Gründe und macht zugleich den Charme dieses Buches aus: denn die Provinzen Guangdong und Guangxi, von denen er insbesondere handelt, galten selbst nicht nur als bildungsfern, sondern auch allein wegen des dort vorherrschenden Dialektes als fern von den Zentren Nordchinas. So ist das Buch zugleich ein Beitrag zur Integration Südchinas am Vorabend der Republikgründung, nach der es bekanntlich noch mehrerer Jahrzehnte bedurfte bis eine Norden und Süden vereinigende Politik für ganz China gelingen konnte. Der Autor zeigt, wie in nur wenigen Jahren eine sehr erfolgreiche Implementierung eines neuen, staatlich gelenkten Schulsystems gelang. Aus heutiger Sicht erkennt man an diesem System einerseits zentral gelenkter Reformen bei gleichzeitiger großer Selbstbestimmtheit in den konkreten lokalen Ausgestaltungen (S. 341) ein Muster, wie es auch für die Modernsierungen im Ausgang des 20. Jahrhunderts bestimmend wurde. Die Studie schließt mit der bemerkenswerten Feststellung, „dass ausgerechnet jene Regierung und Staatsform [gemeint ist das Kaiserreich der Mandschu], die das neue und langfristig sehr erfolgreiche Fundament für den heutigen Reichtum und die Stärke Chinas legte, dieser Innovation binnen eines Jahrzehnts selbst zum Opfer fiel. Des Kaisers neue Schulen ließen das Kaisertum nackt dastehen.“ (S. 359) Eine glänzende Studie!

 

Hajo Fröhlich. Des Kaisers neue Schulen. Bildungsreformen und der Staat in Südchina, 1901-1911. Berlin: de Gruyter 2018. VII+433 Seiten.

ISBN 978-3-11-055617-9. Euro 69,95.

Das ganze 20. Jahrhundert war in China ein Lern- und Erneuerungsprozess. Malerei, Musik und vielfältige neue Wissenschaftsdisziplinen, allen voran die Medizin, die Jurisprudenz und Ingenieurwissenschaften kamen nach China. Die rasante Entwicklung des Landes seit der „Öffnung“ vor bald vierzig Jahren ist ohne diese Vorgeschichte nicht denkbar. Und das Lernen setzte sich bekanntlich fort und führt bis in spezielle Bereiche zu Vergleichen und Analysen, wie es etwa Yuanyuan Tang tut in ihrem Buch über zwei zeitgenössische Filmströmungen, die chinesische sechste Generation und die neue Berliner Schule, die unabhängig voneinander Ähnlichkeiten ebenso wie Differenzen zeigen. Man muss nicht alle Diagnosen der Autorin teilen, doch die meisten angesprochenen Themen fordern zu weiterer Untersuchung heraus, wie etwa der Abschnitt über die „Ästhetik der Leere“ (S. 87-99) die am Ende des Buches wieder aufgegriffen wird.

 

Yuanyuan Tang, Die Neue Berliner Schule und die chinesische Sechste Generation. Analyse und Vergleich zweier zeitgenössischer Filmströmungen. Bielefeld: transcript Verlag 2018. 230 Seiten. 

ISBN 978-3-8376-4158-5. Euro 34,99.

Grenzenlose Seidenstraßen und neue Konkurrenzen

Die inzwischen auch zu Rivalitäten und ordnungspolitischen Dissonanzen unter den Mitgliedern der Europäischen Union bei dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ führenden neueren Entwicklungen schärfen den Blick für die Geschichte der eurasischen Beziehungen früherer Jahrhunderte. Trotz Jahrhunderte alter Außenbeziehungen und der oben angesprochenen „Verwestlichung“ ist bis heute übrigens noch keineswegs ausgemacht, in welchem Maße und Ausmaß sich das Selbstbewusstsein Chinas und die Identität der einzelnen Chinesen aus Elementen des westlichen Fortschrittsdenkens zusammensetzt. Zudem war der Austausch von vornherein wechselseitig, wenn auch oft asymmetrisch. Die Publikation zu einer bemerkenswerten Berliner Ausstellung dokumentiert nicht nur die dortige Sammeltätigkeit, sondern zeigt bisher selten gezeigte und zum Teil spektakuläre Bilder aus China ebenso wie Bilder über China sowie wechselseitiges Kopieren und Abbilden. Besonders aufschlussreich sind die Stiche für die im 18. Jahrhundert unter dem Qianlong-Kaiser errichteten Palastbauten im europäischen Stil im Yuanmingyuan, der dann im Jahre 1860 von britischen und französischen Truppen zerstört und dessen Reste durch Fotografien in den folgenden Jahren dokumentiert wurden, die sich ebenfalls in der Ausstellung sowie im Katalog finden.

 

Matthias Weiß, Eva-Maria Troelenberg, Joachim Brand (Hg.), Wechselblicke. Zwischen China und Europa 16691907/Exchanging Gazes. Between China and Europe 1669-1907. Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017. 352 Seiten. 

ISBN 978-3-7319-0573-8. Euro 39,95.

Ganz andere Einblicke, aber nicht weniger lebendig und aufschlussreich, bieten die Monographien zu einzelnen Akteuren, die Hartmut Walravens mit unermüdlichem Spürsinn und Fleiß inzwischen in großer Zahl zusammengetragen hat, von denen hier nur zwei erwähnt sein sollen, jene über den jüdisch-stämmigen Fritz Weiss, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Konsul das Deutsche Reich in China vertrat, sowie jene über die Forschungsreise Herbert Muellers nach China 1912-1913. Dabei sind die unterschiedlichen Interessen und die dadurch gesteuerte Aufmerksamkeit nach wie vor von großem Interesse, tragen sie doch auch zur Schärfung unserer heutigen Wahrnehmungsfähigkeit bei. Zudem bieten die Bände Einblicke in längst vergangene Zustände und rufen inzwischen verlorene oder verlagerte Objekte auf. Solche Rekonstruktionen aus Akten und Archiven, aus Korrespondenzen und Erinnerungen können eine umsichtige Neubestimmung des heutigen Umgangs mit China beflügeln und bieten zudem Informationen, die in China selbst Interesse und Aufmerksamkeit finden.

 

Hartmut Walravens (Hg.), Herbert Muellers Forschungsreise nach China 1912–1913. Wiesbaden: Harrassowitz 2017. 219 Seiten. 

ISBN 978-3-447-10849-2. Euro 54,00.

 

Hartmut Walravens (Hg.), Fritz Weiss. Als deutscher Konsul in China. Erinnerungen 1899–1911. Wiesbaden: Harrassowitz 2017. 301 Seiten. 

ISBN 978-3-447-10850-8. Euro 58,00.

So sehr Orte und Bauten der Vergangenheit, wie im Falle des Sommerpalastes des Qianlong-Kaisers einschließlich von dessen Zerstörung, zu einer geteilten Vergangenheit gehören, so wird angesichts der Herausforderung durch die Globalisierung zunehmend alle vergehende Gegenwart zu einer gemeinsamen Vergangenheit, auch wenn sich das allgemeine Bewusstsein in der Regel gerne gegen solche Sichtweise sperrt. So betreffen etwa Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken bzw. in deren Zulieferindustrien nicht nur die beteiligten Firmen und deren Anteilseigner, sondern inzwischen weltweit auch Gewerkschaften und mit diesen verbundene übernationale Organisationen. Auch wenn es sich dabei in den Augen mancher um Randthemen handelt, so ist deren Kenntnis doch hilfreich, insbesondere angesichts der Erfahrungen mit Neubewertungsprozessen, bei denen lange Verborgenes plötzlich skandalisiert und oft genug zum Politikum wird. Wenn nun der Wiener Verlag Mandelbaum kritik & utopie eine deutsche Übersetzung einer in den USA erschienenen Studie zu diesem Thema vorlegt, so geht er offenbar von der Annahme aus, dass die englischsprachige Ausgabe im deutschsprachigen Raum nicht hinreichende Aufmerksamkeit erwarten kann, obwohl doch gerade die Wertschöpfungsketten beim Automobilbau in China in Deutschland ein gesteigertes Interesse erwarten lassen. Unabhängig davon ist die deutsche Ausgabe zu begrüßen. Denn trotz der zunehmenden Bedeutung von Englisch als Wissenschaftssprache, inzwischen auch an deutschen Universitäten eine Selbstverständlichkeit, sollte man davon ausgehen, dass unter den Bedingungen demokratisch verfasster Gesellschaften der Wissenstransfer auch in der Muttersprache unabdingbar bleibt. Zudem ist gerade die Frage von befristeter Beschäftigung und Leiharbeit ein globales Phänomen, über welches sich zu orientieren auch für die Gewinnung einer eigenen Position notwendig erscheint.

 

Zhang Lu, Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken. Herausgegeben und übersetzt von Ralf Ruckus. Wien: Mandelbaum kritik & utopie 2018. 435 Seiten.

ISBN 978-3-85476-673-5. Euro 20,00.

Insgesamt bilden sich in Publikationen zum gegenwärtigen China unterschiedliche Narrative heraus. Allen gemeinsam ist, dass sie unsere Blicke auf China präformieren und oft nach eigenem Bekunden dies auch beabsichtigen. Manche alarmieren wie das Buch von Wolfgang Hirn, der „Chinas Bosse“ als „unsere unbekannten Konkurrenten“ präsentiert und eine europäische Antwort auf „Made in China 2025“ fordert, während andere wie der Psychotherapeut Ulrich Sollmann den Charakter „der Chinesen“ beschreibt und seine eigenen Erfahrungen und Strategien im Umgang mit dieser fremden Welt und dem von einem „rasanten Tempo“ geprägten chinesischen Alltag analytisch darlegt. Solche Berichte sind auch für denjenigen interessant, der glaubt, vertraut mit China zu sein, weil es reizvoll ist, die Erfahrungen und Reflexionen dieses Neulings etwa bei seiner ersten Erkundung der Altstadt Pekings (S.111130) zu begleiten. Es sind Wahrnehmungen von Orten, von Menschen oder kleinen Gruppen, von deren Verhalten und der durch sie verbreiteten Stimmung. Auch wenn manche Sätze plakativ und trivial erscheinen, wie jener: „Chinesen sind eben in gewisser Hinsicht individuelle und recht eigensinnige Wesen.“, so zieht der Autor damit doch in gelungener Weise ein Fazit aus vorangehenden subtilen Schilderungen seiner Erlebnisse. Bei allen Versuchen, seine Erfahrungen zu verallgemeinern, weiß der Autor doch von seiner eigenen Fremdheit und von der Ergebnisoffenheit der gegenwärtig China beherrschenden Veränderungen.

 

Wolfgang Hirn, Chinas Bosse. Unsere unbekannten Konkurrenten. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2018. 284 Seiten. 

ISBN 978-3-593-50874-0. Euro 26,00.

 

Ulrich Sollmann, Begegnungen im Reich der Mitte. Mit psychologischem Blick unterwegs in China. Gießen: Psychosozial-Verlag 2018. 280 Seiten.

ISBN 978-3-8379-2147-2. Euro 24,90.

Von ganz anderer Art sind Studien wie jene von Max Deeg zu einer lange bekannten, aber fast ebenso lange missverstandenen Steininschrift, die seit ihrer Entdeckung im 17. Jahrhundert als Zeugnis des nach dem in Konstantinopel residierenden Patriarchen Nestorius (um 430 n.Chr.) benannten nestorianischen Christentums in China galt („Die Nestorianische Stele von Xi‘an“). Inzwischen wissen wir, dass es sich bei dieser Inschrift um ein Dokument des Tang-zeitlichen Christentums handelt, bestehend aus persisch-iranischen Gemeinden in der damaligen Hauptstadt Chang’an, heute Xi’an. Diese waren Ableger der ostsyrischen Kirche, für die sich inzwischen der Begriff Jingjiao („Lehre des Lichts“) eingebürgert hat. Angesichts der historischen Bedeutung fremder Lehren in China und ihrer im heutigen China eher wieder zunehmenden Aktualität, zu denen neben dem Buddhismus und dem Islam eben auch das Christentum gehört, ist die Beschäftigung mit diesem Inschriftenmonument für das heutige China von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dieser Text, der, so der Autor, „die westliche Phantasie so früh und so anhaltend gefesselt“ hat wie kein anderer in klassischer chinesischer Sprache verfasster Text, umfasst einschließlich der Stifternamen in der Übersetzung ganze zehn Druckseiten. Er ist also rasch gelesen, aber eben nicht so schnell verstanden. Jedes fundierte Gespräch über den Text nämlich – und dies gilt für einen großen Teil der chinesischen klassischen Überlieferung – ermöglicht und erfordert eine Kommentierung und eröffnet weite Sinnhorizonte, die zu durchschreiten oft die Grundlage für eine tiefere Verständigung bildet. In solchen Streifzügen durch die Zeugnisse chinesischer Tradition bildet sich nicht nur ein vertieftes Verständnis für China und seine historischen, räumlichen und spirituellen Facetten, sondern auch für unsere Zugangswege zu den kulturellen Räumen des chinesischen Kontinents. Begegnung mit dem Westen sucht China seit den Erkundungsfahrten im Auftrag der ersten Kaiser und den Pilgerkundschaftern der Tang-Zeit, und die Strahlkraft von Schlüsseldokumenten aus solchen Begegnungen ist ungebrochen – aus denen in nicht geringem Maße sich bis heute das Selbstbewusstsein Chinas bildet.

 

Max Deeg, Die Strahlende Lehre. Die Stele von Xi’an.  Wien: Lit Verlag 2018. 299 Seiten.

ISBN 978-3-643-50844-7. Euro 34,90.

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist und als Seniorprofessor der Universität Tübingen seit 2016 Gründungsdirektor des China Centrum Tübingen und Präsident des Erich-Paulun-Instituts. Von 1981 bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München, von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seit 2015 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde. Er unterrichtete an den Universitäten Bonn, München, Göttingen, Hamburg und Hannover. Im Jahr 2015 erhielt er den „Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur“. Zuletzt erschien von ihm im Verlag Matthes & Seitz Berlin „Chinas leere Mitte. Die Identität Chinas und die globale Moderne“.

Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de

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