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Wie Digitalisierung unser Lernen verändert

Interview mit Christian Baudis, Digitalunternehmer und Futurist

© Cristian Hermann-Isacu, nullnull3 Photographie
Christian Baudis, Digitalunternehmer, Futurist und ehemaliger Google Deutschland-Chef, hält auf der LEARNTEC 2020 eine Keynote zum Thema „How digitalization changes the way we learn“.

Am 28. Januar 2020 hält Christian Baudis, Digitalunternehmer, Futurist und ehemaliger Google Deutschland-Chef, auf der LEARNTEC eine Keynote zum Thema „How digitalization changes the way we learn“. Im Interview spricht er über den Inhalt seiner Keynote und zeigt auf, wie sich das Lernen in Zukunft verändern wird.

Herr Baudis, wir sind im Jahr 2030 und ich mache eine Fortbildung, um beruflich weiterzukommen. Wie sieht meine Lernumgebung aus?
Der entscheidende Unterschied zu heute wird sein, dass Sie sich nicht mehr selbst auf die Suche nach einem passenden Kurs begeben. Eine sprechende Assistenz wird Sie dabei unterstützen. Wo Sie lernen, entscheiden Sie in den meisten Fällen selbst. Genauso wie die Sprachassistenz wird auch das Lernprogramm auf Künstlicher Intelligenz basieren. Der Input erfolgt per Spracheingabe und wenn Sie etwas visualisieren müssen, verknüpfen Sie die Lernanwendung mit Bildschirm oder Laptop. Oder mit Ihrem Haushaltsroboter. In ungefähr 15 Jahren wird der als Endgerät so präsent sein wie heute das Smartphone.

Das klingt nach einer einsamen Angelegenheit.
Die zunehmende Technisierung führt in der Gesellschaft schon seit der industriellen Revolution zu einer fortschreitenden Individualisierung. In zehn Jahren werden wir zu 80 bis 90 Prozent individuell lernen. Für die verbleibenden rund 20 Prozent werden wir einen Experten oder eine Expertin treffen oder wir tauschen uns in Gruppen aus. Aber auch dieser Austausch geschieht digital. Dieser Fokus auf dem individuellen Lernen verringert natürlich die soziale Interaktion. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir diesen Punkt bei der Entwicklung digitaler Inhalte nicht aus den Augen verlieren. Wir brauchen in der Aus- und Weiterbildung auch weiterhin den Austausch und echte Expertinnen und Experten. Erst dadurch wird Wissen kreativ verknüpft.

Laut dem Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) der Europäischen Kommission nahmen 2017 nur sechs Prozent der deutschen Internetnutzer*innen an Online-Kursen teil. Damit rangiert Deutschland im EU-Schnitt auf Platz 16, obwohl den Deutschen gleichzeitig gute grundlegende Digitalkompetenzen bescheinigt werden. Woran hakt es?
Ich will erst einmal grundsätzlich infrage stellen, dass die Deutschen eine gute Digitalkompetenz haben. Wir haben viel Aufholbedarf. Digitalität spielt weder in Schulen noch in Universitäten oder bei Ausbildungen eine Rolle. Wir sind in diesem Punkt sehr träge und leider auch ein bisschen arrogant.

Woher kommt das?
Wir haben ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem. Infrastrukturell stehen wir sehr gut da. Deshalb glauben wir, dass das, was in den vergangenen 30 oder 50 Jahren gut gelaufen ist, auch künftig gut funktionieren wird. Leider sind wir da auf dem völlig falschen Dampfer. Diese Einstellung müssen wir aufbrechen. Dafür brauchen wir starke Vorbilder, die uns schmerzhaft klarmachen, welche Vorteile wir gerade verschlafen.

Gibt es diese Vorbilder nicht schon?
Ja, aber unsere Rückständigkeit ist aktuell einfach zu groß. Vielleicht müssen wir erst einen echten Tritt bekommen, damit wir beweglicher werden. In den skandinavischen Ländern werden die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, viel besser erkannt. Die Akzeptanz ist hoch. In Asien ist die Ausbildung längst digitalisiert. Und wir? Die deutsche Automobilindustrie baut immer noch Verbrennungsmotoren und verpasst dabei die zwei wichtigsten Technologien ihrer Branche: den Elektroantrieb und das autonome Fahren. Das ist in vielen Bereichen so, leider auch im Bildungssystem.

Woran denken Sie beim Bildungssystem konkret?
In der Schweiz und in den USA ist es Universitäten erlaubt, Start-ups zu gründen. Das müssten wir auch zulassen. Obwohl die amerikanischen Universitäten hohe Studiengebühren erheben, verdienen sie inzwischen mehr Geld mit Hilfe ihrer Start-ups. Auf deutsche Universitäten übertragen, hätten diese nicht mehr nur einen Bildungsauftrag, sondern auch einen unternehmerischen Auftrag. Sie könnten Arbeitsplätze schaffen und Know-how im Land halten, indem sie Absolventinnen und Absolventen Geschäftsräume, Forschungsmöglichkeiten und Investoren bieten. Das wäre eine relativ einfache Möglichkeit, um Deutschland wieder in ein Kompetenzzentrum zu verwandeln. Solange wir das nicht bieten, wandern die Fachleute eben zu Google oder Alibaba ab.

Ob digitalaffin oder nicht, viele Menschen haben Berührungsängste mit KI. Wie kann man dem im Unternehmen entgegenwirken?
Ich habe das Gefühl, dass alle von KI sprechen, aber niemand weiß, was gemeint ist. Im Beruf ist KI ist in erster Linie eine Hochgeschwindigkeitsstatistik, die sehr valide ist und mich dabei unterstützt, bessere Entscheidungen zu treffen. So kann ich zielgerichteter Prozesse steuern, Produkte erfinden oder Maschinen warten. Dieses Rollenverständnis der KI als Zweitmeinung muss im Unternehmen unbedingt vermittelt werden.

Ohne unsere Daten leben KI, Big Data, Deep Learning oder Internet der Dinge allerdings nicht. Für Statistiken auf Knopfdruck oder ein paar personalisierte Lerneinheiten ist das ein hoher Preis.
Der Gesetzgeber muss natürlich die Rahmenbedingungen schaffen und unsere Daten schützen. Die Europäische Union ist beim Datenschutz im Vergleich zu den USA oder China auf einem sehr guten Weg. Und welche meiner Daten ich freigebe, liegt letztlich in meiner eigenen Verantwortung. Ich muss meine Lerneinheiten ja nicht personalisieren, genieße dann allerdings auch nicht die Vorteile.

Und welche Vorteile sind das?
Der Lernprozess wird viel effizienter, wenn das Programm meinen Lernstand kennt und es sich auf mich einstellen kann. So komme ich nicht nur schneller voran, ich bin auch weniger frustriert und viel motivierter bei der Sache.

Im Zusammenhang mit Digitalisierung wird häufig von einer Demokratisierung der Bildung gesprochen. Haben wir in Zukunft alle die gleichen Chancen auf Zugang zu Bildung?
Es wird zumindest erheblich leichter sein – auch in den Entwicklungsländern. Die Demokratisierung erleben wir bereits. Wir nutzen sie aber noch zu wenig. Ich habe mich zum Beispiel im Bereich Deep Learning selbst fortgebildet. Dafür habe ich mich einfach in amerikanische Universitäten eingewählt. Teilweise ist das sogar kostenlos möglich. Im Vergleich zum Studium vor Ort kann man sich auch heute schon unglaublich günstig fortbilden.

Welchen Einfluss wird die Digitalisierung – auf lange Sicht – auf unser Verständnis von Arbeit und Weiterbildung haben?
Wir werden aufgrund rasanter Veränderungen viel flexibler sein müssen. Meine Generation ist es gewohnt, dass Wissen über drei Jahrzehnte Bestand hatte, weil die Eintrittsbarrieren in Industrien so lange hielten. Auf einmal fallen diese Barrieren, was wiederum Prognosen viel schwieriger macht. Heute verkauft Amazon Versicherungen. Das wäre vor 25 Jahren undenkbar gewesen. Es ist einfach unklar, ob Produkte in 20 Jahren überhaupt noch relevant sein werden. Dadurch steigt der Wissensbedarf unglaublich an. Hinzu kommt, dass uns die beste KI nichts nützt, wenn wir mit ihrer Zweitmeinung nichts anfangen können. Wir müssen Expertinnen und Experten auf unserem Gebiet werden. Ohne großes Fachwissen werden wir es schwer haben. Dementsprechend flexibel müssen wir mit unserer Arbeit und Weiterbildung umgehen. Wissen muss laufend abgeglichen und angeglichen werden. Wer das schafft, wird dann vermutlich auch zufrieden im Job sein und darf sich auf eine gute Bezahlung freuen.

Laut dem ZukunftsMonitor (2017) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sind sich 90 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger der Herausforderung durchaus bewusst: Sie sagen, im Jahr 2030 wird eine fortwährende Weiterbildung der Schlüssel zu beruflichem Erfolg sein. Welche Fragen würden Sie in Hinblick auf diese Aussichten 2030 im Vorstellungsgespräch stellen?
Ich würde erst wissen wollen, wo die Stärken der Person liegen und wo noch Fortbildungsbedarf besteht. So erfahre ich gleich, ob sie sich mit ihren eigenen Lernangewohnheiten auseinandergesetzt hat. Daran anknüpfend würde ich fragen, wo und wie sie die entsprechenden Kompetenzen erwerben will. Wer davon eine Vorstellung hat, wird später im Beruf auf einem sehr guten Weg sein.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

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