Wege aus der Corona-Krise
Es gibt Bücher, die ein Thema zum Gegenstand haben, das seinen Autor jahrzehntelang beschäftigt hat, und solche, in denen ein Thema behandelt wird, das es vor ein paar Monaten noch gar nicht gab. Mit einem Thema der zweiten Art haben wir es in den folgenden beiden Büchern zu tun, denn eine Corona Pandemie gibt es erst seit dem März dieses Jahres, ebenso ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Verwerfungen. In dieser Situation sind wissenschaftliche Stellungnahmen noch rar: Der weitere Verlauf der Pandemie ist noch unklar und ihre zukünftigen wirtschaftlichen Folgen daher noch schwer einschätzbar. Daher verdienen Autoren hohe Anerkennung, die sich dem Risiko aussetzen, auf brüchiger empirischer Basis, gestützt auf langjährige Erfahrungen mit ökonomischen Abläufen, Orientierung zu geben. Dies gilt umso mehr, wenn, wie im vorliegenden Fall, ökonomisch fachliche Expertise nicht ausreicht, sondern medizinische Erkenntnisse und gesellschaftliche Auswirkungen der Pandemie mitbedacht werden müssen. Zwei der renommiertesten deutschen Volkswirte, Clemens Fuest und HansWerner Sinn, haben sich der Aufgabe gestellt.
Clemens Fuest, Wie wir unsere Wirtschaft retten, Der Weg aus der Corona-Krise, Aufbau Verlag, Berlin 2020, Klappenbroschur, 277 S., ISBN 978-3-351-03866-3, € 18,00.
Clemens Fuest, 52, ist seit 2016 Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU München und Präsident des ifoInstituts. Zuvor hatte er Professuren in Köln, Oxford und Mannheim inne und war Präsident des ZEW Mannheim. Einleitend verweist der Autor darauf, dass die Corona-Krise noch lange nicht vorbei sei und deshalb Aussagen über ihre Folgen und zu ihrer Überwindung notwendigerweise arg spekulativ bleiben müssen. Wenn er sich dennoch dazu äußere, dann deshalb, weil diese Wirtschaftskrise so gravierend ist und viel Neues bringt. Infolgedessen gebe es großen Diskussionsbedarf und er verstehe das Buch als eine Einladung zur Debatte.
Er gliedert das Buch in zehn Kapitel. Die ersten drei Kapitel befassen sich mit Corona im engeren Sinne. Zunächst wird der bis Ende Mai bekannte Verlauf nachgezeichnet. Ihm folgt das zur Stabilisierung der Wirtschaft beschlossene Konjunkturprogramm. Es schließt ab mit der Exit-Debatte, also der Frage, wie Wirtschaft und Gesellschaft bei Fortbestehen der Ansteckungsgefahr einen Weg des verantwortlichen Miteinanders, einen Modus Vivendi im wahrsten Sinn des Wortes, finden können. Fuest legt überzeugend dar, dass die These, man müsse entweder der Gesundheit oder der Wirtschaft Vorrang einräumen, eine Scheinalternative ist. Weder der Gesundheit ist gedient, wenn Betriebe und Schulen geschlossen sind und gesellschaftliches Leben erstickt wird, noch können Unternehmen, Beschäftigte und Kunden hoffnungsfroh in die Zukunft schauen, wenn durch allzu weit gehende Lockerungen das Infektionsgeschehen außer Kontrolle gerät.
In den sechs folgenden Kapiteln behandelt der Autor ökonomische Probleme, die es vor Corona bereits gab, aber durch und mit Corona in anderem Licht gesehen werden müssen. Zu diesen Problemen gehören die Verschuldung von Staaten und Privaten, die Digitalisierung, die Klimapolitik, die Zukunft des Sozialstaats, die Globalisierung sowie die Entwicklung von EU und Eurozone. Im abschließenden zehnten Kapitel richtet Fuest den Blick über die Herausforderungen des Tages hinaus auf die längerfristigen Voraussetzungen einer guten Entwicklung für Wohlstand und Beschäftigung und formuliert dazu zehn Empfehlungen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Hier kann nur auf einige, ausgewählte Thesen des Autors aufmerksam gemacht werden.
Zur Verschuldung merkt Fuest an, dass die Corona-bedingte Zunahme der Staatsverschuldung unumgänglich war, um den Produktions- und Beschäftigungseinbruch in Grenzen zu halten. Nach der Finanzkrise 2008 sei es Deutschland dank sinkender Zinsen und hohen Wachstums gelungen, die Staatsverschuldung nach der krisenbedingten Erhöhung wieder auf das Vorkrisenniveau zurückzuführen. Bei Zinsen von null sind Zinssenkungen heute jedoch nicht mehr möglich und ge- oder gar zerstörte Lieferketten stehen heute, anders als damals, einem raschen Einschwenken auf den Wachstumspfad entgegen. Auch im Privatsektor hat Corona die Verschuldung erhöht, aber zusätzlich noch Vermögensverluste mit sich gebracht. So haben die privaten Haushalte Ersparnisse aufgelöst und die Unternehmen haben Eigenkapitalverluste erlitten. Auch das belastet die wirtschaftliche Erholung erheblich, weil die Konsumnachfrage gedrosselt bleibt, bis neue Ersparnisse den Vermögensverlust rückgängig gemacht haben und die Investitionsnachfrage hinter dem Aufbau von neuem Eigenkapital und dem Abbau von Schulden zurückstehen muss.
Zur Digitalisierung präsentiert Fuest Fakten aus den USA, die erahnen lassen, was Deutschland erwartet. „Das Homeoffice wird zum Hauptarbeitsplatz“ lautet eine seiner Kapitelüberschriften. Dies und der wachsende Online-Handel wird das Gesicht der Innenstädte verändern. Bisherige städtische Nutzungen von Immobilien werden entfallen und die Werte dieser Immobilien werden fallen. All diese Entwicklungen waren schon vor Corona zu sehen, aber die Pandemie hat sie enorm beschleunigt. Umso wichtiger ist es, jetzt die notwendige digitale Qualifikation der Bevölkerung in Angriff zu nehmen, was eine Reform, um nicht zu sagen Revolution, der Aus- und Weiterbildung in Schulen, Betrieben und öffentlicher Verwaltung verlangt. Ein besonderes Problem sieht Fuest zu Recht in der Markt- und Machtkonzentration von Unternehmen der Digitalwirtschaft, vorwiegend US-amerikanische Firmen. Ihre internetbasierten Geschäftsmodelle führen über die ihnen innewohnenden Netzwerkeffekte zu Größenvorteilen, die einen wirksamen Wettbewerb außer Kraft setzen. Hier ist die Wettbewerbspolitik gefragt und gefordert. In der Klimapolitik wendet sich Fuest dagegen, sie wegen der Notwendigkeit, die Corona-Krise zu bekämpfen, hintan zu stellen. Er rechnet vor, dass die Corona-bedingten Minderungen des CO2 -Ausstoßes bei weitem nicht ausreichen, die im Klimaabkommen von Paris festgelegten Klimaschutzziele zu erreichen. Allerdings plädiert er dafür, die Klimapolitik kosteneffizient zu machen, dem Verursacherprinzip zu unterwerfen und global auszurichten. Klimapolitik müsse für die EU in erster Linie Außenpolitik sein.
Der Sozialstaat hat in der Corona-Krise großzügig Hilfe geleistet: Das Gesundheitswesen hat rasch auf die medizinischen Anforderungen reagiert. Die wirtschaftlichen Folgen der Krise wurden bei Beschäftigten mit Arbeitslosengeld und erhöhtem Kurzarbeitergeld gemildert. Kleinere Unternehmen und Selbständige haben Unterstützung erhalten und die Vermögensüberprüfung bei der Grundsicherung wurde ausgesetzt.
Bereits zuvor waren dem Sozialstaat eine Fülle anderer Leistungen aufgebürdet worden: Die Rente ab 63, die Mütterrente, die Grundrente und eine „Haltelinie“, die verhindern soll, dass die Rente unter 48% des Arbeitseinkommens fällt. Da zudem die Zahl der Rentenempfänger infolge des demographischen Wandels deutlich steigen wird, sind steigende Zuschüsse zur Rentenversicherung, die derzeit schon ein Drittel ihrer Ausgaben finanzieren, unausweichlich. Die Ausgaben für Kranken- und Pflegeversicherung werden infolge der Alterung der Gesellschaft ebenfalls steigen, ebenso die Pensionslasten für die Beamten. Und bereits jetzt, so Fuest, gilt: „Trotz hoher Steuern wird vergleichsweise wenig Geld für die staatlichen Kernaufgaben der Verteidigung, der inneren Sicherheit und der Bereitstellung einer funktionsfähigen Infrastruktur bereitgestellt.“ Vor diesem Hintergrund hält er es für „unumgänglich, Vorkehrungen zu treffen, um eine Überforderung des Sozialstaates zu verhindern.“
Von daher sieht er die bedingungslosen Hilfen für die kleinen Unternehmen und die Selbständigen durchaus als problematisch an. Diese beiden Gruppen seien von einer Versicherungspflicht gegen Einnahmeausfälle ausgenommen, allerdings unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass sie selbst für derartige Fälle vorsorgen. Hätten sie es getan, bräuchten sie keine Hilfe. Wenn die Politik sie für hilfsbedürftig in der Krise hält, müsste sie sie einer Versicherungspflicht unterwerfen, wie andere Leistungsempfänger auch.
Bedenkenswertes hat Fuest auch zur Lage der Europäischen Union nach dem Ausbruch der Corona-Krise beizutragen. Er verweist darauf, dass die Corona-Krise die EU in einem labilen Zustand angetroffen habe: Die Finanz- und Eurokrise noch nicht überwunden, der Brexit im Westen, schwierige Partner im Osten, Flüchtlingskrise und Populisten. Die Pandemie betrifft dann die Mitgliedstaaten unterschiedlich stark mit Italien, Spanien und Frankreich als den ersten Opfern. Die ersten Reaktionen auf die Pandemie bestehen in nationalen Alleingängen, Grenzschließungen und medizinischen Egoismen. Schon im März werden Forderungen von neun Euro-Mitgliedstaaten auf Einführung von Corona-Bonds erhoben. Am 18. Mai schlagen Merkel und Macron vor, der EU-Kommission das Recht auf eine Kreditaufnahme über 500 Mrd. Euro einzuräumen. Die Mittel sollen als Transfer an die besonders von der Corona-Krise betroffenen Länder gehen. Die Einigung wird überwiegend dahingehend interpretiert, dass Merkel ihren bisherigen Widerstand gegen ein Recht der EU auf Kreditaufnahme und die Vergemeinschaftung von Schulden aufgegeben habe. Die EU-Kommission legt am 27. Mai. ihren Vorschlag vor. Er sieht eine Kreditaufnahme von 750 Mrd. Euro vor, die zu zwei Drittel in Form von Transfers, zu einem Drittel in Form von Krediten an die am meisten betroffenen Mitgliedsländer ausgezahlt werden sollen. Dem folgt am 21. Juli.2020 der Europäische Rat, der das von der Kommission vorgelegte Programm beschließt mit einer leichten Reduktion des Transferanteils zugunsten eines höheren Kreditanteils.
Fuest sieht zu Recht, anders als in der Finanz- und Eurokrise, hier kein Verschulden einzelner Euro-Mitgliedsländer, sondern eine alle Länder unverschuldet treffende medizinische Krise mit wirtschaftlichen Folgen. Aus diesem Grund scheint ihm auch eine gemeinsame Reaktion angemessen und geboten. Er sagt: „Europa hat sich unter dem Druck der Corona-Krise als handlungsfähig erwiesen.“ Die Verteilung der Mittel sollte solidarische Elemente beinhalten, weil die Länder unterschiedlich von den beiden Krisen betroffen sind und unterschiedliche Leistungskraft haben, aber auch fordernde Elemente im Sinne einer zweckmäßigen und zielgerichteten Verwendung der Mittel zur Stärkung der Wirtschaftskraft des Landes aufweisen. Er zeigt in wohltuender Nüchternheit, dass das Programm weder eine Vergemeinschaftung von Altschulden, wie das bei Eurobonds der Fall gewesen wäre, noch eine Bevollmächtigung der EU-Kommission für zukünftige Kreditinanspruchnahme beinhaltet. Er weist jedoch kritisch darauf hin, dass (a) das Programm zur Finanzierung medizinischer Hilfe zu spät kommt, (b) der Grad der Betroffenheit von der Krise bei der geplanten Mittelzuteilung nur eine geringe Rolle spielt und (c) es an Kontrolle der Verwendung der Gelder fehlt. Er befürchtet, dass ein tiefgreifender Revitalisierungsprozess der zuvor schwachen Volkswirtschaften so nicht zustande kommen wird. Mit zehn Empfehlungen, dem Resümee aus den neun vorangegangenen Kapiteln, schließt Fuest sein Buch ab. Beim Leser bleibt der Eindruck haften, dass die Corona-Krise die schon vor der Krise erkennbaren Risiken – digitaler Rückstand, überforderter Sozialstaat, Europäische Divergenzen – eher vertiefen als abmildern wird. Man fragt sich auch bange, was die Politik noch tun kann, wenn schon bald eine weitere Krise oder eine Verschärfung der jetzigen Krise vergleichbares staatliches Handeln erforderlich machen sollte.
Fuests ordnungspolitisch geprägte Empfehlungen weisen erfolgversprechende Wege aus der Krise. Zweifel bestehen, ob sie beschritten werden.
Dies ist ein überaus lesenswertes Buch, klug abwägend in seinen Urteilen, nüchtern und klar in der Sprache, dem viele Leser zu wünschen sind.
Hans-Werner Sinn, Der Corona-Schock, Wie die Wirtschaft überlebt, Herder Verlag, Freiburg 2020, geb., 224 S., ISBN 978-3-451-38893-4, € 18,00.
Hans-Werner Sinn, 72, ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU München und ehemaliger Präsident des ifo-Instituts. Er war Inhaber bedeutender wissenschaftlichen Ehrenämter und ist Autor zahlreicher, vielzitierter Wirtschaftsbücher, von denen etliche auch im fachbuchjournal besprochen wurden.
Das vorliegende Buch erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern ist in Form eines Gesprächs mit Fragen und Antworten verfasst, ohne Fußnoten und ohne Literaturverzeichnis. Durch die Gesprächsatmosphäre gewinnt es eine leserfreundliche Lebhaftigkeit und Emotionalität.
Sinns Ausführungen kreisen um das frühe Corona-Geschehen und die Art, wie es kommuniziert wurde, die wirtschaftliche Lage vor Corona in Deutschland und Europa, die Auswirkungen des Corona-Schocks und die zu seiner Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen, sowie die Lehren, die aus der Krise gezogen werden müssen. In der Einleitung kommentiert Sinn eine Aussage von Finanzminister Scholz, der das der EU-Kommission zur Bekämpfung der Corona-Krise gewährte Recht auf Kreditaufnahme verglichen hatte mit der von Alexander Hamilton, dem ersten US-Finanzminister, im Zuge der Staatsgründung der USA betriebenen Übernahme der Schulden der Einzelstaaten durch den Zentralstaat. So habe Scholz aus einem Rettungspaket für nicht wettbewerbsfähige Länder Südeuropas ein Gründungsmoment für die Vereinigten Staaten von Europa konstruiert. Nicht erwähnt habe Scholz freilich, dass sich die Übernahme der Verschuldung durch den Zentralstaat für den neuen Staat, anders als Hamilton hoffte, nicht als Zement, sondern als Sprengstoff erwies. Deshalb haben sich die USA später eine Verfassung gegeben, die eine Übernahme der Schulden der Staaten durch den Bund ausschließt. So können heute US-Staaten im Krisenfall weder auf Hilfen des Bundes noch der USZentralbank hoffen und verhalten sich dem entsprechend. Mit Blick auf Europa formuliert Sinn, bekannt deutlich: „Der Corona-Schock ist heute unser Hamilton-Moment. Er zwingt uns zu wählen zwischen Zement und Sprengstoff.“ Sinn beklagt, dass Deutschland, als Italien von der Pandemie überrannt wurde, nicht sofort unbürokratische, unbedingte, bilaterale Hilfe geleistet hat. Insbesondere ist ihm nicht verständlich, warum man mit Hilfeleistungen gewartet hat, bis alle EU-Mitglieder dazu bereit waren. Er sagt es treffend: „Wir brauchen doch nicht die EU, um unseren Nachbarn zu helfen.“ So ist eine Chance vertan worden, spontane Hilfsbereitschaft zu zeigen. Stattdessen blieb in Italien der Eindruck hängen, dass Deutschland mehr zur Hilfe gedrängt werden musste als voran zu gehen.
Die zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland ergriffenen Maßnahmen hält Sinn für richtig, auch den Lockdown. Am frühen Krisenmanagement, sowohl der Kanzlerin als auch des Robert-Koch-Instituts, übt er gleichwohl fundiert und deutlich Kritik.
Im Hinblick auf die Auswirkungen der Krise in Deutschland ist Sinn bemerkenswert optimistisch. Er prognostiziert einen ähnlichen Verlauf wie nach der Finanzkrise mit scharfem Einbruch und anschließend genauso starker, rascher Erholung. Für die USA und die südeuropäischen Länder, inklusive Frankreichs, ist er eher pessimistisch und prognostiziert zunehmende Spannungen in der Eurozone. Die meisten Probleme, die Sinn anspricht, bestanden schon vor der Corona-Krise, haben aber durch diese oder die Art ihrer Bekämpfung eine erhebliche Verschärfung erfahren. Dazu gehören die Probleme der Europäischen Integration, denen ein Drittel des Buches gewidmet ist, die Klimapolitik, die Digitalisierung, die Demographie und andere. Aus Platzgründen kann hier nur auf die Europa- und Klimapolitik eingegangen werden.
Sinns Hauptsorge ist, dass die Corona-Krise, genauer gesagt, die Politik zu ihrer Bekämpfung, die EU und speziell die Eurozone in eine Richtung verändert, die ihre Spaltung vertieft. Das 750 Mrd. Euro schwere „Recovery“-Programm führe zu einem hohen Kapitalzufluss in den Süden, der dort verausgabt wird. Die steigende Nachfrage führe in den Binnensektoren zu höheren Löhnen, die auf die im internationalen Wettbewerb stehenden Sektoren überschwappen. So unterbleibe die zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erforderliche Lohnanpassung und die wirtschaftliche Malaise wird verstärkt statt vermindert.
Inwieweit die letztendlichen Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs vom 21. Juli 2020 dieses Verdikt verdienen, wird man in ein paar Jahren sehen. Die desillusionierenden Erfahrungen mit den zahlreichen Griechenland-Rettungsprogrammen mahnen jedenfalls ebenso zur Skepsis wie ähnlich negative Erfahrungen vieler Entwicklungsländer mit den Kapitalzuflüssen aus der Entwicklungshilfe oder zur Rohstoffgewinnung.
Die in der Corona-Krise wieder aufgeflammten Besorgnisse der Gläubiger über die Bonität der hochverschuldeten Länder der Eurozone versucht die EZB mit dem neuen, mittlerweile 1350 Mrd. Euro schweren PEPP (Pandemic Emergency Purchase Program) zu entkräften. Sinn sieht auf mittlere Frist durchaus eine Inflationsgefahr durch diese Geldschwemme, weil der krisenbedingte Rückgang des Güterangebots wie auch die aufgestauten Konsumwünsche zu Nachfrageüberhängen führen können. Die EZB würde höheren Inflationsraten auch nicht entgegenwirken, weil die dafür benötigten Zinserhöhungen die hochverschuldeten Länder im Süden Europas genau in jene Bredouille hinein bringen würden, zu deren Vermeidung das PEPP ja gerade aufgelegt wurde.
Kurzfristig bestehe diese Sorge freilich nicht: Solange sich die Eurozonen-Wirtschaft noch in der seit vielen Jahren anhaltenden Liquiditätsfalle befindet, haben Geldmengenerhöhungen keine Wirkungen, weder auf die Beschäftigung noch auf die Preise. Die EZB behaupte zwar, ihre massive Geldschöpfung sei nötig, um ihr Inflationsziel von 2% zu erreichen, aber diese Wirkung kann die Geldschöpfung in der Liquiditätsfalle natürlich gar nicht haben. Also, so Sinn völlig zu Recht, „muss sie andere Gründe haben als die, die sie vorgibt.“
Zur Frage der Konjunkturstützung und ihrer Schuldenfinanzierung bejaht Sinn die prinzipielle Notwendigkeit der staatlichen Interventionen, um die Corona-bedingten wirtschaftlichen Schäden abzufedern. Er hält auch die temporäre Kreditaufnahme zur Finanzierung von Rettungsprogrammen für Firmen, besonders betroffene Haushalte und kleine Selbständige für richtig. Die Kreditfinanzierung erlaube es, die Lasten der Krisenbekämpfung sinnvollerweise über die Zeit hin zu strecken.
Den Umfang der Neuverschuldung hält er jedoch für bei weitem überzogen: Zur Bekämpfung der Corona-Krise verschuldet und verbürgt Deutschland sich intern und über die EU in Höhe von 50% seines Sozialproduktes. Vor dem Hintergrund der für 2020 erwarteten ca. 6%igen Abnahme seines Sozialproduktes kann man Sinns Einschätzung nur schwerlich widersprechen.
Die Corona-Krise gibt ihm Anlass, auch das Thema „Klimakrise“ zu beleuchten. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Bekämpfung der Corona-Krise teuer wird, wesentlich teurer als erforderlich wäre. Infolgedessen müssten andere Themen zurückstehen. Da die Klimapolitik aber keinen Aufschub verträgt, müsse sie zumindest kostensparender und effizienter werden.
Dass die deutsche Klimapolitik an ideologisch und politisch begründeter Ineffizienz leide, ist seit seinem Buch vom Grünen Paradox 2012 eines von Sinns wiederkehrenden Themen. So weist er nach, dass das EEG, obwohl es den Steuerzahler im Jahr 25 Mrd. Euro kostet und der Industrie die höchsten Strompreise beschert sowie ihre Abwanderung begünstigt, völlig sinnlos ist, weil die durch den Emissionshandel der EU festgelegte CO2 -Emission jede Emissionsreduktion eines Landes durch Mehremission eines anderen Landes wirkungslos macht. Die Klimapolitik sei auch ein Desaster für die deutsche Automobilwirtschaft, die zudem durch die Corona-Krise schwer getroffen sei. Die Branche rechnet mit einer Abnahme der Inlandsproduktion im Jahr 2020 um 25% als Folge der Corona-Krise, nachdem schon 2018 und 2019 die Produktion um jeweils 9% zurückgegangen war. Sinn beklagt, dass die Rückgänge 2018 und 2019 unmittelbar mit der CO2 -Verordnung der EU von 2018 zu tun haben, die bis 2030 zu erfüllende Grenzwerte vorschreibt, deren Dieseläquivalent einem Verbrauch von unter 2,2 Liter/100 km entspricht. Das sei für sichere Autos mit etwas Fahrkomfort selbst für Spitzeningenieure nicht machbar.
Wie komme die Kommission auf eine solche Zahl? Sie betrachtet nicht das einzelne Auto, sondern eine Fahrflotte, die zu zwei Drittel aus Elektroautos und zu einem Drittel aus Verbrennern besteht. Für Verbrenner werden 6,6 Liter Diesel angesetzt, und der CO2 -Ausstoss von Elektroautos wird kurzerhand gleich null gesetzt und schon ist man bei 2,2 Liter im Durchschnitt. Jedermann wisse aber, dass auch mit der Produktion und der Nutzung von Elektroautos CO2 ausgestoßen wird, was jedoch geleugnet werde. Sinn sieht in der Verordnung ein gemeinsames Projekt von grüner Ideologie und französischem Interesse an einer Schwächung der deutschen Autoindustrie. Dabei hält Sinn eine sinnvolle Politik der Einsparung von CO2 zur Abschwächung der Erderwärmung für absolut notwendig. Der Kohleausstieg sei richtig, der Atomausstieg falsch. Für die Reduktion der CO2 -Emissionen sei ein alle Sektoren umfassendes Emissionshandelssystem die erste Wahl. Seine sukzessive Ausweitung von der EU-Ebene auf die globale Ebene müsse das vorrangige klimapolitische Ziel werden. Natürlich sei das schwierig. Aber was nütze es, wenn man durch nationale oder EU-weite Einsparungen sein Gewissen beruhige und darüber verdränge, dass die eigene Einsparung über den Preismechanismus an anderer Stelle auf der Welt einen Mehrverbrauch in gleicher Höhe bewirkt.
Abschließend: Auch diesem Buch sind viele Leser zu wünschen. Seine inhaltliche Stärke liegt darin, aufzuzeigen, in welchen Bereichen die vor Corona schon vorhandenen wirtschaftspolitischen Herausforderungen durch Corona eine zusätzliche Dringlichkeit erfahren haben. Die zweite Stärke liegt in den packenden, zuspitzenden Formulierungen, für die Sinn bekannt ist. Verglichen mit dem Buch von Fuest zeigt sich bei Sinn eine etwas kritischere Sicht auf die Wirtschaftspolitik, insbesondere hinsichtlich der Währungsunion. Bemerkenswert ist aber doch die hohe Übereinstimmung beider Autoren in der Einschätzung der von der Corona-Krise ausgehenden ökonomischen Verwerfungen und der erforderlichen Therapien.
Prof. Dr. Karlhans Sauernheimer (khs) wirkte von 1994 bis zu seiner Emeritierung im März 2010 als Professor für VWL an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er publiziert schwerpunktmäßig zu Themen des internationalen Handels, der Währungs- und Wechselkurstheorie sowie der Europäischen Integration. Er ist Koautor eines Standardlehrbuchs zur Theorie der Außenwirtschaft und war lange Jahre geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften.
karlhans.sauernheimer@uni-mainz.de