Geowissenschaften

Wenn Karten und Grafiken den Blick auf die Welt verändern

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

James Cheshire und Oliver Uberti: Atlas des Unsichtbaren: Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern. Aus dem Englischen übersetzt von Marlene Fleißig. Carl Hanser 2022, 216 S., geb., ISBN-13 978-3446270930, € 26,00.

Wenn James Cheshire, Geoinformatiker und Kartograf (Univ. London) und Oliver Uberti, ehemaliger Senior Designer von National Geographic (LA, USA) nach ihren beiden gemeinsam verfassten Büchern − The Information Capital (2015) und Where the Animals Go (2017) [dt. Die Wege der Tiere (2017, Hanser)] − ein drittes Werk veröffentlichen, weckt das unweigerlich Neugier; zum einen, weil das Autorenduo mit renommierten Wissenschaftsund Sachbuchpreisen geehrt, ja geradezu überschüttert wurde, zum anderen, weil ihr jüngster Band – ein Atlas – einen erwartungsheischenden kryptischen Titel trägt. Den Begriff «Atlas» prägte der Kartograf Gerhard Mercator (alias Gheert Cremer, 1512–1594) für eine Sammlung topografischer Karten, die in unterschiedlichen Maßstäben exakte Geländeformen und andere sichtbare Details der Erdoberfläche zur Orientierung wiedergeben. Schulatlanten vermitteln seit dem 18. Jhdt. Generationen von Schülern Vorstellungen von der Topografie unseres Planeten, doch heute wird dieses Unterrichtsmedium zunehmend durch digitale Karten des GNSS abgelöst, während Autoatlanten durch «Navis» längst obsolet wurden. Dass Atlanten aber weit mehr als nur räumliche Orientierung bieten, zeigte erstmals Alexander von Humboldt (1769–1859). Der letzte Universalgelehrte hatte die Vision von einer umfassenden ästhetischen Anschauungswissenschaft, «die neben empirischen Daten auch Kunst, Geschichte, Poesie und Politik einbezog» (S. 17). Hierzu erstellte der Begründer der empirischen Geografie auf Basis seiner legendären Zettelsammlung zusammen mit Heinrich Berghaus, Professor für angewandte Mathematik (Bauakademie Berlin), einen Physikalischen Atlas (ersch. 1838–48) mit 75 thematischen Karten, darunter die wohl bekannteste über «Die Verbreitung der Pflanzen nach senkrechter Richtung, in der heißen, der gemäßigten und der kalten Zone» (S. 20f.).

In seinem Hauptwerk Kosmos erklärt Humboldt, der als Forschungsreisender die Welt erfahren und bewandert hatte, seine Sichtweise von der Natur als «[…] Einheit in der Vielfalt, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes» (zit. S. 18).

Den synoptischen Ansatz, „die Welt zu betrachten, um sie zu verstehen“ (S. 22), greifen Cheshire und Uberti im vorliegenden Atlas mit innovativen Methoden erneut auf. Entstanden ist ein fulminantes Werk mit akribisch gestalteten, filigranen Karten und ausgefeilten Grafiken, die jeden Betrachter in den Bann ziehen. Die auf einem gigantischen Datenfundus basierenden Illustrationen eröffnen verborgene «Muster» unserer Welt. Congenial transformieren die Autoren Informationen aus den Natur-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften in Bildformen, ziehen «Schlüsse über das UNSICHTBARE […]. Aber alles was wir schaffen können, ist eine Analogie zum Unsichtbaren, nicht aber das Unsichtbare selbst» (lt. Gerhard Richter, zit. S. 13). Es verwundert nicht, dass einige der ästhetischen Karten und Grafiken, die durch wissenschaftlich anspruchsvolle, aber stets laienverständliche Essays erklärt werden, in führenden Museen und renommierten Zeitschriften weltweit präsentiert werden, womit Déjà-vus nicht auszuschließen sind.

Wer die „Hommage an die moderne Welt“ (lt. Klappentext) studieren, verstehen, bestaunen und genießen will, sollte viel Zeit und Muße aufbringen. Es empfiehlt sich, den auf die Corona-Pandemie Bezug nehmenden Prolog und die für das Konzept des Bandes ausschlussreiche Einleitung zu lesen, bevor man sich in beliebiger Folge in eines der 63 thematischen Karten vertieft. Die Verfasser betonen, dass von dem Atlas „kein wissenschaftlicher Durchbruch des Lebens oder Mysterien des Universums“ erwarten sollte (S. 26). Das ist aber kein Grund zur Enttäuschung, denn das Sachbuch bietet auf bewundernswert kreative, emotional aufrüttelnde Weise fesselnde Rückblicke in die Vergangenheit (Woher wir kommen), Einblicke in die Gegenwart (Wer sind wir – Wie es uns geht) und Ausblicke in die Zukunft (Was uns erwartet).

Obwohl A. v. Humboldt betonte, Worte würden nicht ausreichen, man müsse das Ganze sehen, seien einige thematische Karten skizziert. Die wohl bedrückendste trägt den Titel «Kartografie der Augenzeug:innen» und greift die unfassbaren NS-Verbrechen im «Dritten Reich» auf, um „ein Gefühl der menschlichen Verbundenheit hervorzurufen“ (S. 34f). Illustriert werden „die gelebten Erfahrungen zweier Holocaustüberlebender“, Jacob Brodman und Ana Patipa, „zwei der schätzungsweise 250 000 Juden und Jüdinnen, die die Konzentrationslager der Nazis überlebten“ (ebd.). Durch die Personalisierung der beiden Leidenswege, gelingt einen ungewöhnlich dichte visuelle Mahnung für ein «Nie wieder!». – Gleichsam als Korrektur zu Irrwegen der Wissenschaft folgt die paläogenetische Rekonstruktion der historischen Migrationen eurasischer Populationen auf der Basis von aDNA-Proben. Sie entlarvt den nationalsozialistischen Mythos, genetische Spuren würden «reine» Nationalitäten widerspiegeln (vgl. S. 40f).

Eine Karte mit dem gekünstelten Titel «Ahnstralien» (engl. Ancestralien) rekonstruiert die Besiedlung des fünften Kontinents anhand der DNA aus Haarproben der Ureinwohner (vgl. S. 42f). Die Befunde belegen, dass Australien lange vor der Entdeckung durch James Cook (1728–1779) 1770 durch Aborigines von Asien aus besiedelt worden war. Dass Australien mit dem Terminus Terra Australis gleichgesetzt wird, ist ein peinlicher Fauxpas, da es sich dabei um einen in der Antike vermuteten, hypothetischen Südkontinent handelt, dessen Nichtexistenz J. Cook ja nachwies. Geopolitische Umbrüche ziehen sich bis heute durch alle Geschichtsepochen, einen der größten löste die Entdeckung Amerikas aus. Die Karte «Unmenschliche Ströme» (S. 50f) wurde anhand von Logbüchern der zwischen Afrika und der Neuen Welt verkehrenden Sklavenhandelsschiffe erstellt. Informationen über die Crews sowie Daten über Alter, Geschlecht und Sterblichkeitsrate der Versklavten öffneten bislang verschlossene Fenster in die Vergangenheit und deckten das wahre Ausmaß der Sklaverei und Komplizenschaft auf. Was moderne Satellitentechnik möglich macht, zeigt die Grafik «Amerikanischer Exodus» (S. 72f). Flussdiagramme, die aus den Veränderungen von Mobilfunkstandorten erstellt werden, vermitteln in akuten Krisen wichtige Informationen, wie z.B. im September 2017, als der Hurrikan Maria auf Puerto Rico traf. – Durch revolutionäre Satellitentechnik können Lichtemissionsdaten algorithmisch in diachrone Muster umgesetzt werden, aus denen sich z.B. die Kriegsfolgen, Wirtschaftsentwicklungen, Urbanisierung und plötzliche menschliche Aktivitätsveränderungen ablesen lassen (vgl. S. 83). Weltweite Emissionsverschiebungen zwischen 2012 und 2016 sind in den Faltkarten «Lichtlevel» erfasst. Hellgelbe Farbpunkte in großen Teilen Indiens signalisieren den Erfolg des Elektrifizierungsprojekts «Saubhagya» (Hindi für «Glück»), während Syrien durch die Zerstörung Aleppos zu einem der dunkelsten Flecken der Landkarte wurde. −

Dreißig Vergleichsgrafiken belegen die «Ungleiche Last» (S. 132f), die Frauen nach OECD-Erhebungen über unbezahlte Arbeit im Alltag schultern. Mit 25% Mehrleistung gegenüber Männern ist das Geschlechtsverhältnis in Schweden am ausgewogensten, während es in Indien, wo Frauen mit 460% fast sechsmal mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer, am unausgewogensten ist. – Grafiken zu «Feigheitsausbrüchen» (S. 134f) zeigen laut Armend Conflict Location und Event Data (ACLED) für 2019 in Indien die größte Anzahl von Übergriffen durch gewalttätige Mobs. Dass die alleinige Tatsache, eine Frau zu sein, in zahlreichen Ländern ein Risiko für geschlechtsspezifische Gewalt darstellt, belegen Grafiken zur beschämend weit verbreiteten Misogynie.

Umweltprognosen sagen dramatische Klimaveränderungen voraus. Vergleichskarten der Temperaturanomalien von 1890 bis 2019 lassen keinen Zweifel an der «Hitzewallung» unseres Planten und erahnen, was uns in Zukunft alles erwartet (S. 158f). – Wärmesensoren von Satelliten zeichneten im Zeitraum 2018-2019 aktive Vegetationsbrände auf. Die «Brandnarben» haben sich bis in die nördlichen Breiten ausgedehnt, darunter sog. Zombie-Feuer in Sibirien, die winters überdauern und im Frühjahr wieder aufflammen (S. 162f). Der Trend setzt sich bedrohlich fort, wie der diesjährige Sommer zeigt, in dem weltweite Feuer unsere Ressourcen fressen. Dazu steigt die Anzahl tropischer Zyklone jährlich dramatisch. Die Karte «Stürmische See» (S. 164).illustriert, dass kein Hafen vor den Welleneffekten der globalen Erwärmung sicher ist. All das ist keine negative Utopie, sondern der geoinformatorisch geschärfte Blick auf die Realität! „Was nützt unser Wissen, wenn wir nur weiter zuschauen? “ (S. 198), mahnt Cheshire. Es gilt zu handeln! Jetzt! Fazit: Wenn ein gutes Sachbuch sich dadurch auszeichnet, dass es Gegenstände des Wissens über unsere Geschichte, Gegenwart und Zukunft akkumuliert, auf an- und aufregende Weise Erkenntnisse vermittelt, unserr Denken über die Welt modifiziert und uns zu neuen Einsichten führt, dann erfüllt der Atlas des Unsichtbaren diese Kriterien in exzellenter Weise. Insbesondere deshalb, weil er uns «Sehtiere» durch eine wahre Bilderflut fesselt; aber der Band bietet weit mehr als pure Unterhaltung. Er mahnt eindringlich zur Menschlichkeit, prangert himmelschreiende soziale Disparitäten an, ächtet geschlechtsspezifische Gewalt und offenbart eine bedrohliche Sicht auf die gewaltige ökologische Schieflage unserer Welt. – Welch ein spektakuläres Sachbuch der Premier League! (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. henkew@uni-mainz.de

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