I Die Quellen – die Aneignung
Carsun Chang, Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie. Herausgegeben von Heiner Roetz und Joseph Ciaudo. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2016. 401 S. – ISBN 978-3-465-03881-8. EUR 88,00.
Sébastien Billioud, Joë Thoraval, The Sage and the People. The Confucian Revival in China. Oxford: Oxford University Press 2015. VII+332 S. – ISBN 978-0-019-025814-6.
Robert H. Gassmann. Menzius. Eine kritische Rekonstruk tion mit kommentierter Neuübersetzung. 3 Bände. Berlin: Walter de Gruyter 2016. XXVIII+375, XI+615, 354 S. – ISBN 978-3-11-044105-5. EUR 199,95.
Laotse: Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung. Chinesisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Rainald Simon. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2009. 319 S. – ISBN 978-3-15-010718-8. EUR 24,95.
Shijing. Das altchinesische Buch der Lieder. Chinesisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Rainald Simon. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2015. 855 S. – ISBN 978-3-15-010865-9. EUR 49,95.
Piotr Adamek, A Good Son Is Sad if He Hears the name of His Father. The Tabooing of Names in China as a Way of Implementing Social Values. Leeds: Maney Publishing 2015. Xvii+392 S. – ISBN 978-1-9096-6269-8.
Wie Texte in die Welt kommen und Verbreitung finden und welches Gewicht und welche Bedeutung sie gewinnen, ist über Jahrhunderte diskutiert worden. Dies gilt für das Abendland wie für China, wo sich auch der translatio-Theorie des europäischen Mittelalters entsprechende Diskurse finden.
Während man im vergangenen Jahrhundert glaubte, dass die Klassiker der Vergangenheit angehören, sind sie erneut in den Blick gerückt. Dabei stellt sich mehr und mehr heraus, dass mit einem nunmehr freieren Blick Chinas Vergangenheit nicht nur für westliche Augen, sondern auch für chinesische Betrachter in einem neuen Licht erscheint. Lange Zeit glaubte man auch im Westen der chinesischen Selbstauslegung folgen zu müssen, wonach China lebendig nur in der Zeit vor der Reichseinigung gewesen sei und sich danach konfuzianisch versteinert habe. Diese Vorstellung ist von vielen Seiten in Zweifel gezogen worden, und neue Lektüren nicht nur der klassischen Überlieferung, sondern auch Texte späterer philosophischer Ordnungsvorstellungen zeigen die Lebendigkeit Chinas über viele Jahrhunderte. Die Vielfalt der Schulen und Diskurstraditionen war größer als lange angenommen. Dafür, wie diese Vielfalt im 20. Jahrhundert neu gedeutet und für die Gegenwart fruchtbar zu machen versucht wurde, ist das für 1941 zur Veröffentlichung in deutscher Sprache vorgesehene und erst jetzt von Heiner Roetz herausgegebene Werk Carsun Changs (1886–1968) zur „Geschichte der neukonfuzianischen Philosophie“ ein gutes Beispiel. Auch wenn die heutige Jugend weltweit fast ausschließlich in der Gegenwart und in den neuen Medien lebt, so werden doch auch die Diskurse der Vergangenheit immer wieder ihre neuen Auftritte haben. Solches selbst mit anzustoßen oder darauf vorbereitet zu sein, bedeutet zugleich eine Ermöglichung von Kreativität. Zudem ist es ratsam, die Änderungen in der kulturellen Selbstauslegung anderer Länder aufmerksam zu verfolgen, weil daraus oft neue Herausforderungen an die internationalen Beziehungen resultieren. Dies gilt für China in besonderem Maße, weil man sich auch dort über längere Zeit auf offizieller Seite der Illusion hingegeben hatte, das „alte China“ gehöre gänzlich der Vergangenheit an.
Wie kraftvoll und lebendig in China die Beschäftigung mit der klassischen Überlieferung inzwischen wieder geworden ist, veranschaulicht das ursprünglich auf Französisch erschienene und nun auf Englisch vorliegende Buch „The Sage and the People“ von Sébastien Billioud und Joël Thoraval, welches zeigt, wie der Konfuzianismus als Lehre inzwischen den Alltag und vielfältige Rituale bestimmt. Dabei finden neben Konfuzius selbst auch andere Gründerväter der konfuzianischen Bewegung Beachtung, wie etwa Mengzi, latinisiert: Menzius, dessen Werk in den letzten zweitausend Jahren in China ebenso bedeutsam war wie die dem Konfuzius zugeschriebenen Schriften. Dem Werk des Menzius hat Robert H. Gassmann eine monumentale Studie gewidmet, die sich mit den anspruchsvollsten kommentierten Ausgaben dieses Klassikers in China auf eine Stufe stellt und manche Einsichten und Thesen vorträgt, die auch in China als wissenschaftliche Herausforderung verstanden werden dürften. Denn obwohl man in China heute noch weitgehend zwischen der Chinakunde außerhalb Chinas einerseits und der von Chinesen betriebenen Wissenschaft von China als einer Art Nationalkunde andererseits unterscheidet, haben diese beiden Seiten der Beschäftigung mit China mehr miteinander gemein, als das offizielle China gerne wahrhaben möchte. Diese Einsicht bedarf jedoch einer weiteren sorgfältigen Fundierung, die nicht zuletzt der Bereitstellung immer wieder neuer Übersetzungen der klassischen Literatur bedarf, wie sie erfreulicherweise nun auch der Verlag Reclam mit den zweisprachigen Ausgaben des „Shijing. Das Altchinesische Buch der Lieder“ und des „Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung“, beide in der Übersetzung von Rainald Simon, vorlegt. Auch wenn es unübersehbar ist, dass sich alle diese Texte nicht im Alltag des gegenwärtigen China finden und das Interesse junger Leute sich in der Regel auf gänzlich anderes richtet als die traditionelle Kultur, so wird einem bei längerem Verweilen doch klar, dass auch die heutigen kulturellen Zusammenhänge nur unter Rückgriff auf die traditionelle Überlieferung verstanden werden können. Und da kann es beim Verständnis von Gepflogenheiten wie etwa der Vermeidung von Namensnennungen durchaus hilfreich sein, sich die Kultur der Tabuisierung von Namen, insbesondere des Namens des Vaters, wie sie traditionell üblich und vorgeschrieben war und gesellschaftliche Normen und Werte spiegelte und bis heute nachklingt, durch die umfassende Studie von Piotr Adamek zu vergegenwärtigen.
II Das Eigene und das Fremde
Harold R. Isaacs, Die Tragödie der chinesischen Revolution. Essen: Mehring Verlag 2016. 590 S. – ISBN 978-3-88634-109-2. EUR 29,90.
Victor D. Cha. Powerplay. The Origins of the American Alliance System in Asia. Princeton-Oxford: Princeton University Press 2016. XV+330 S. – ISBN 978-0-69114-453-2. GBP 24.95.
Jean-Jacques Wendorff, Der Boxeraufstand in China 1900/1901 als deutscher und französischer Erinnerungsort. Ein Vergleich anhand ausgewählter Quellengruppen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2016. 240 S. – ISBN 978-3-631-66351-6. EUR 49,95.
Hartmut Walravens, Hrsg., Chinesische Romane in deutscher Sprache im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 2015. 206 S. – ISBN 978-3-447-10438-8. EUR 48,00.
Hartmut Walravens, Hrsg., Chinesische Singspiele, Novellen, Essays und Gedichte in deutscher Sprache im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 2016. 230 S. – ISBN 978-3-447-10691-7. EUR 52,00.
Dominik Thoma, Moltke Meets Confucius. The Possibility of Mission Command in China. Marburg: Tectum Verlag 2016. xvi+142 S. – ISBN 978-3-8288-3770-6. EUR 34,95.
Das Nebeneinander philosophischer Strömungen im 20. Jahrhundert findet seine Entsprechungen im politischen Gegeneinander in der Formierung des modernen politischen China, dessen interne Auseinandersetzungen nur zu verstehen sind, wenn man die Rolle der ausländischen Mächte, vor allem Japans und Russlands, aber auch Englands, Frankreichs und der USA mit ins Kalkül zieht. Harold R. Isaacs (1910–1986) gehört zu jenen Ausländern, die sich in der Frühphase der kommunistischen Bewegung in China engagierten und zu einem eigenen Standpunkt fanden. In seinem 1938 publizierten Buch, welches nun in deutscher Sprache vorgelegt wird, schildert er die Erfahrungen der trotzkistischen Aktivisten mit der chinesischen Revolution unter dem Diktat Stalins in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch wenn es etwas mühsam ist, die vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verortete Ansicht des Autors nachzuvollziehen, so wird man die Komplexität der internationalen Konstellation jener Jahre nur verstehen, wenn man sich auf solchen Perspektivwechsel einlässt, den uns die Lektüre des Berichtes über die „Tragödie der chinesischen Revolution“ ermöglicht. Wie sehr die Entwicklung Chinas im 20. Jahrhundert von den Interessen umliegender Länder, darunter die Sowjetunion, aber auch die USA und Japan, geprägt wurde, ist inzwischen in vielfacher Hinsicht erforscht worden. Daher ist es ratsam, auch die gegenwärtigen Interessenverflechtungen und Allianzen genauer zu betrachten. Einen guten Überblick aus US-amerikanischer Perspektive gibt Victor D. Cha in seinem Buch „Powerplay. The Origins of the American Alliance System“, welches gerade auch Europazentrikern zur Lektüre zu empfehlen ist und welches insbesondere die transpazifische Perspektive in den Blick nimmt. Da man bei der Beschäftigung mit Ereignissen in der Vergangenheit neben zeitgenössischen Quellen und Zeugnissen stets auch spätere Bilder einbeziehen muss, um diese mit zu reflektieren, ist dies besonders dann erhellend, wenn Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Blickwinkeln beteiligt waren, wie bei dem sogenannten Boxeraufstand in China 1900/1901 und der Reaktion europäischer Mächte. Solche Studien wie die von Jean-Jacques Wendorff, die den Boxeraufstand „als deutschen und französischen Erinnerungsort“ darstellt, sind gerade in Zeiten hilfreich, in denen Europa erneut eine gemeinsame Außenpolitik, gegebenenfalls mit gemeinsamen Streitkräften anstrebt. Hier ist der Ansatz der Studie von Wendorff hilfreich, auch wenn die vorliegende Studie nur als erster Versuch gelten kann, zumal sie viele der im Literaturverzeichnis genannten Titel noch ausführlicher hätte einbeziehen können. Ebenso wichtig aber wie die Beschäftigung mit unterschiedlichen Erinnerungstraditionen ist das Wissen um die frühen kulturellen Begegnungen auf den verschiedensten Gebieten, woraus das Hintergrundwissen unserer eigenen älteren Überlieferung erst zu verstehen ist. Dabei kommt der Literatur und Erzählkunst eine besondere Bedeutung zu. Hierzu hat Hartmut Walravens in zwei Bänden im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitete chinesische Romane sowie Singspiele, Novellen und Gedichte zusammengetragen. Dabei ist gar nicht zu überschätzen, wie solche Texte zu ihrer Zeit das Bild von China prägten. Solche Materialsammlungen sind grundlegend für eine vergleichende Literaturwissenschaft, hier wie in China, wo man sich in besonderer Weise für die Geschichte des Austauschs mit anderen Ländern und Kulturen interessiert. Freilich bleiben kulturell geprägte Unterschiede, die zu berücksichtigen eine wesentliche Basis für Erfolg in jeglicher Hinsicht ist. Dominik Thoma untersucht in seiner Studie „Moltke meets Confucius“ die Übertragbarkeit von „Auftragstaktik“ (Mission Command) in chinesischen Kontexten und kommt zu dem Ergebnis, dass wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Übertragbarkeit fehlen. Auch wenn immer wieder auf die militärische Zielerreichung durch Führung bzw. selbständiges Handeln eingegangen wird, lassen sich die handlungstheoretischen Ergebnisse auf alle Formen der effektiven Erreichung von Zielen übertragen. Wegen der Kulturgebundenheit der Erfolgsstrategien bekräftigt der Verfasser für international agierende Unternehmen die Nützlichkeit der Einsetzung sich selbst steuernder lokaler Teams, da diese am ehesten erfolgreich handeln werden. Der Aufwand allerdings für die Herleitung solcher Ergebnisse rechtfertigt sich vermutlich nur durch den Umstand, dass transkulturelles Handlungswissen eben nicht leicht zu implementieren ist.
III Die Vielfalt der Religionen und Regionen
Frauke Drewes, Orientalisiert – Kriminalisiert – Propagiert? Die Position von Muslimen in Gesellschaft und Politik der Volksrepublik China heute. Würzburg: Ergon Verlag 2016. 422 S. – ISBN 978-3-95650-138-8. EUR 65,00.
Ylva Monschein, Mythos Yimeng. Eine chinesische Berg region und ihre Entwicklung zum Erinnerungsraum. Wiesbaden: Harrassowitz 2015. 932 S. – ISBN 978-3-447-10351-0. EUR 148,00.
Martin Gimm, Ein Monat im Privatleben des chinesischen Kaisers Kangxi. GaoShiqis Tagebuch Pengshan miji aus dem Jahre 1703. Wiesbaden: Harrassowitz 2015. 189 S. – ISBN 978-3-447-10483-8. EUR 35,00.
Die Reise in den Westen. Ein klassischer chinesischer Roman. Mit 100 Holzschnitten nach alten Ausgaben. Übersetzt und kommentiert von Eva Lüdi Kong. Stuttgart: Reclam 2016. 1320 Seiten. ISBN 978-3-15-010879-6. EUR 88,00.
Doch bei jeder Begegnung mit China sind stets auch spezifische regionale und sonstige religiös-kulturelle Unterschiede unter den Menschen zu berücksichtigen. Denn trotz einer gewissen Neigung zur Einheit und Einheitlichkeit staatlicher und administrativer Strukturen ist China seit jeher durch Vielfalt, bis hin zu inneren Gegensätzen gekennzeichnet. Dabei ist Fragen der Religion und des Kultus stets eine besonders wichtige Rolle zugefallen, weil es sich bei Fragen der religiösen Sinnstiftung immer auch um Zugehörigkeits- und damit um Loyalitätsentscheidungen handelt. Seit erste Modernisierungs- und Nationsbildungsbestrebungen vor mehr als hundert Jahren die Völker an Chinas Rändern erfassten, richtete sich verstärkte Aufmerksamkeit auch auf die Rolle der Muslime in China. Deren Stellung ist Thema einer im Rahmen eines Exzellenclusters der Universität Münster entstandenen Studie von Frauke Drewes. Zunächst klärt sie den Unterschied zwischen den gemeinhin als „Hui“ bezeichneten chinesischen Muslimen und den muslimischen Uighuren, die insbesondere in der autonomen Provinz Xinjiang beheimatet sind. Das Besondere an dieser Studie ist, dass sie sich auf die Beziehungen zwischen Staat, Muslimen und Nichtmuslimen einlässt und durch Befragungen die Einstellungen der unterschiedlichen Akteure zueinander beleuchtet. Im Ergebnis verschweigt die Autorin nicht die gegenwärtigen spannungsvollen Beziehungen der Verwaltung und des Staates zu der uighurischen Bevölkerung, zeigt aber zugleich das gelegentlich spannungsreiche, insgesamt aber doch friedliche Miteinander der Hui und der Han-Bevölkerung. Bei der Begegnung mit China ist neben dem Wissen um solche ethnischen und immer wieder auch religiös unterlegten Spannungen viel mehr noch eine eingehendere Kenntnis der regionalen und lokalen Verhältnisse von grundlegender Bedeutung. Am Beispiel einer Bergregion in der Provinz Shandong im Osten Chinas führt uns dies Ylva Monschein in ihrem Buch „Mythos Yimeng“ eindrucksvoll vor Augen. Sie hatte diese Gegend über lange Jahre im Rahmen eines deutsch-chinesischen Entwicklungsvorhabens zur Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung kennengelernt und entfaltet nun ein Bild dieser Region in der Provinz Shandong, die nicht nur eine eigene Geschichte hat, sondern für die dortigen Menschen, aber auch darüber hinaus einen Erinnerungsraum von einer Weite und Tiefe darstellt, der es einem erst verständlich macht, wie das riesige China von der Ausdehnung Europas gerade aus der Vielzahl solcher Erinnerungsräume Dynamiken entfaltet und Vielfalt und Verschiedenheit organisiert. Die am Beispiel dieser Bergregion erzählte lange Geschichte Chinas wird so auf eigentümliche Weise fassbar und konkret, und der Gedanke lässt einen nicht mehr los, dass man, wo immer man sich in China aufhält, erst nach einer die Vielschichtigkeit von lokalem und regionalem Wissen ausschreitenden Beschäftigung mit einem Ort oder einer Region dort „angekommen“ sein kann. Wer mit Neugier und Aufgeschlossenheit China begegnen möchte oder einfach auch etwas über die Entfaltung von Erinnerung und die daraus resultierenden Kräfte erfahren möchte, wird sich freudig und dankbar dieser mit Liebe zu ihrem Gegenstand geschriebenen Studie von Ylva Monschein aussetzen. Einen gänzlich anderen Zugang bieten Aufzeichnungen aus dem Tagebuch eines kaiserlichen Hofbeamten, wie sie uns einer der intimsten Kenner der letzten Kaiserdynastie, Martin Gimm, in seinem neuesten Buch „Ein Monat im Privatleben des chinesischen Kaisers Kangxi“ vermittelt. Die Lektüre solcher Tagebuchnotizen aus dem kaiserlichen Hofleben des Jahres 1703 darf man sich nach dem literarischen Erfolg von Christoph Ransmayrs Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ (2016) als besonders reizvoll vorstellen. Der kaiserliche Hof wird in dem Roman „Die Reise in den Westen“ (Xiyou ji), einem der vier klassischen Romane der Blütezeit des vormodernen China, der jetzt in vollständiger deutscher Übersetzung bei Reclam erschienen ist, aufgerufen. Denn darin wird der Unruhe stiftende Affenkönig Sun Wukong, der Prototyp des respektlosen Abenteurers und Forschers, der weite Räume und lange Zeitspannen durchmisst und dessen Neugier frech und ungebremst ist, nicht durch die weltliche Macht, sondern nur durch Buddha selbst gezähmt. Die Durchführung des Auftrags, einen buddhistischen Pilger bei der Beschaffung Heiliger Schriften aus Indien zu begleiten und zugleich zu beschützen, wird zugleich zu einem Bildungs- und Zivilisierungsprozess. Der gesamte Götterhimmel und damit auch sämtliche Wertsphären der chinesischen Zivilisation werden in diesem seit dem 16. Jahrhundert überaus populären Roman aufgerufen, in dem wir mehr über bis heute in der chinesischen Welt selbstverständliches kluges Handeln in der Welt erfahren als in irgendeiner gelehrten Analyse.
IV Ansichten und Architekturen
Michael Hofmann, Deutsche Kolonialarchitektur in China und der Südsee. Petersberg: Michael Imhof Verlag 2016. 222 S. – ISBN 978-3-7319-0331-4. EUR 39,95.
Hartmut Walravens, Hrsg., Ernst Boerschmann: Pagoden in China. Das unveröffentlichte Werk „Pagoden II“. Wiesbaden: Harrassowitz 2016.709 S. – ISBN 978-3-447-10580-4. EUR 98,00.
Interior Designer, Hrsg., Chinese Architekture Today. Basel: Birkhäuser Verlag 2016. 239 S. – ISBN 978-3-0356-0979-0. EUR 49,95.
Kathleen Bühler, Hrsg., Chinese Whispers. Neue Kunst aus den Sigg und M + Sigg Collections (dt./engl.). Bern: Kunstmuseum 2016.368 S. – ISBN 978-3-7913-5525-2. EUR 49,95.
Kim Karlsson und Alexandra von Przychowski, Magie der Zeichen. 3000 Jahre chinesische Schriftkunst. Zürich: Scheidegger & Spiess 2016. 192 S. – ISBN 978-3-85881-468-5. EUR 48,00.
Manche im vergangenen Jahrhundert entstandene Kluft in der wechselseitigen Wahrnehmung wird erst durch neuere Aufmerksamkeit überbrückt, wie etwa mit dem auf deutsche Bauwerke in China aus der Zeit um 1900 gerichteten Blick, den Michael Hofmann in einem mit zahlreichen ansehnlichen zeitgenössischen Fotos ausgestatteten Werk über „Deutsche Kolonialarchitektur in China und der Südsee“ dokumentiert, etwa mit dem Blick auf das Prinz-Heinrich-Ufer am Yangzi in Hankow und dort auf das Gebäude der Deutsch Asiatischen Bank oder das mit einem Adler gekrönte Kaiserlich Deutsche Konsulat (alle um 1910). Kontrastierend dazu ist es reizvoll, die mehr als siebzig Jahre nach ihrer Niederschrift nunmehr von Harmut Walravens aus dem Nachlass publizierte zweite Studie Ernst Boerschmanns (1873–1949) zu den „Pagoden in China“ zu studieren, der nach seiner Versetzung in den Kolonialdienst im Jahre 1902 zu einem der Pioniere der Architekturgeschichte Chinas wurde. Dessen Hinwendung zu den Pagoden und damit zu jenen Bauwerken, die mit der aus Indien über die Seidenstraßen nach China gekommenen Religion des Buddhismus dort entstanden sind und das Landschaftsbild und Stadtsilhouetten in weiten Teilen des vormodernen China geprägt haben, erhellt auf besondere Weise eine andere Tradition der Adaption ursprünglich fremdländischer Architektur. Da man sich in China inzwischen bereits seit einigen Jahrzehnten wieder stärker mit dem architektonischen Erbe beschäftigt, ist diese Dokumentation der Forschungsergebnisse Ernst Boerschmanns eine allseits hochwillkommene Bereicherung unseres Wissens, welches auch für die heutige Sicherung der noch verbliebenen Überreste nützliche Informationen zu liefern geeignet ist. Die Brücke zur Architektur der Gegenwart schlagen Publikationen wie die mit internationaler Beteiligung erstellte Dokumentationen über chinesische Architektur, bei der nicht nur einzelne spektakuläre Neubauten, sondern auch die Umgestaltung historischer Bausubstanz sowie unterschiedliche Nutzungskonzepte entfaltet werden. Dabei spielen überraschende Formen, aber auch die gezielte Verwendung einheimischer Materialien, wie zum Beispiel Bambus, eine wichtige Rolle. Daran wird zugleich deutlich, wie auch in China Architekten und ihre Teams durch Renovierungen ebenso wie durch Neubauten Räume für öffentliche wie private Nutzungskonzepte in überzeugender Weise gestalten – und es ist nicht auszuschließen, dass manches bald zum Vorbild für das Bauen in Europa oder in anderen Teilen der Welt werden könnte.
Überhaupt öffnet sich China mehr und mehr, und während in den Nachrichten von Superlativen berichtet wird wie der höchsten Straßenbrücke der Welt oder der höchsten in bewohnten Gebieten je gemessenen Feinstaubbelastung werden leicht die Zwischentöne und die ungemeine kreative Vielfalt übersehen, wie sie etwa in den Sphären der Kunst zum Ausdruck kommt, die auf überzeugende Weise seit langem der Sammler Dr. Uli Sigg und andere zusammentragen und die in der Ausstellung „Chinese Whispers“ bzw. dem gleichnamigen Katalog vorgestellt werden. Anlässlich dieser Ausstellung erklärte der Künstler Ai Weiwei bei einer Konferenz im Zentrum Paul Klee in Bern: „Kunst spiegelt die Gesellschaft besser wider als jedes Geschichtsbuch“. Da ist es erfreulich, dass dem nach wie vor wichtigsten gestalterischen Element allen chinesischen Ausdruckswillens, nämlich der Schrift, auch in Europa zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie zuletzt in dem durch einen höchst informativen und liebevoll gestalteten Katalog „Magie der Zeichen. 3000 Jahre chinesische Schriftkunst“ zu einer an mehreren Orten gezeigten Ausstellung, die so nachträglich im Buch „nachgelesen“ werden kann.
V Globale Strukturen
Yuanshi Bu, Hrsg., Juristische Methodenlehre in China und Ostasien. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. Xiii+520 S. – ISBN 978-3-16-154260-2. EUR 89,00.
Harro von Senger, Marcel Senn, Hrsg., Maoismus oder Sinomarxismus? Rechtswissenschaftlich-sinologische Tagung an der Universität Zürich, 5. und 6. Dezember 2014. Stuttgart: Franz Steiner 2016. 300 S. – ISBN 978-3-515-11028. EUR 54,00.
Peter Seele, Region, Religion und Rücküberweisungen. Zur Migration Hochqualifizierter aus Indien und China in deutschsprachige Länder und der Einfluss informeller Institutionen. Marburg: Metropolis-Verlag 2015. 260 S. – ISBN 978-3-7316-1119-6. EUR 39,80.
Tobias Voß, Wie werden auch die Zweiten reich? Chinas nationale Verteilungspolitik im Spiegel wirtschaftswissenschaftlicher Auseinandersetzungen zwischen 1992 und 2012. Marburg: Tectum Verlag 2015. 442 S. – ISBN 978-3-8288-3609-9. EUR 39,95.
All jene, die in China investieren oder mit China Handel treiben, können von vielfältigen Schwierigkeiten, oft aber auch von Erfolgen berichten, und es wird rasch deutlich, wie viele Schwierigkeiten noch zu bewältigen, welch langen Wege noch zurückzulegen sein werden, auch wenn die langfristigen Chancen und Vorteile offenkundig sind. Dabei mag mancher Hoffnung daraus schöpfen, dass man gerade auf der Ebene rechtlicher Regelungen in China auf Elemente deutscher Rechtstraditionen trifft. Die Aneignung und die Umsetzung in die Praxis sind jedoch von unterschiedlichen kulturellen Vorgaben geprägt. Darauf weist in seinem zusammenfassenden Beitrag zur Entwicklung der juristischen Methodenlehre in Deutschland und der westlichen Welt Rolf Stürner in dem von der Freiburger Inhaberin des Lehrstuhls für Internationales Wirtschaftsrecht, Yuanshi Bu, herausgegebenen Sammelband hin, in dem die juristische Methodik in China und Ostasien thematisiert wird. Auch wenn die „gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen und ökonomischen Voraussetzungen“ unterschiedlich sind und es offen bleiben muss, ob sich diese Voraussetzungen zur Grundlage „gelungener Rechtsstaatlichkeit“ (S. 390) entwickeln werden oder schon entwickelt haben, ist es doch sinnvoll, Rezeption und Aneignung von Rechtsmethoden zu erörtern, sofern man die Wirkmächtigkeit von Ideen für möglich hält. Diese Überlegungen von Rolf Stürner stellen die vorangehenden Teile des Buches überhaupt erst in einen Kontext. Nachdem die Herausgeberin in ihrer Einleitung die wichtige Rolle der Begrifflichkeit im Chinesischen aufruft und Rechtsmethoden im engeren Sinne als „Methoden richterlichen Entscheidens“ definiert, wird in den folgenden Beiträgen deutlich, wie sich in den letzten Jahrzehnten eine lebendige Debatte entfaltet hat, deren Auswirkungen insbesondere auf die juristische Ausbildungspraxis in mehreren Beiträgen aufgegriffen wird. Dabei wird die auch in anderen Bereichen bekannte Beobachtung mitgeteilt, dass standardisierte Tests bevorzugt werden und „die Abfrage des Gedächtnisses im Vordergrund“ steht (S. 12). Entsprechend sind die meisten Beiträge von der ausdrücklichen oder impliziten Forderung nach weiterer Methodendiskussion geprägt, um auf diese Weise die Grundlage für eine Steigerung des Niveaus richterlichen Entscheidens zu schaffen. Ganz allgemein geht es in dem vorliegenden Band neben den innerchinesischen Methodendiskussionen stets auch um Fragen der Rezeption westlichen, vor allem aber deutschen Rechts in den letzten einhundert Jahren. Dabei ist es höchst verdienstvoll, dass einige der ursprünglich in Chinesisch verfassten Beiträge für den Band ins Deutsche übersetzt wurden, so dass auf diese Weise die wechselseitige Informiertheit gesteigert wird. Nach der Erörterung wissenschaftlicher Methodendiskussion folgen zwei Beiträge zur Methodendiskussion in der Praxis, einmal zur Methode der Fallentscheidung in der Praxis und der Bezugnahme auf Entscheidungen des Obersten Volksgerichtshofes (OVG) und zum anderen zur juristischen Ausbildung in der Volksrepublik China mit konkreten Empfehlungen. Die fünf Beiträge zur Methodendiskussion in Japan, Korea und Taiwan unterscheiden sich wegen der in diesen Regionen erheblich längeren und intensiveren Rezeptionsgeschichte von denjenigen über die Volksrepublik China erheblich. Sehr viel optimistischer im Hinblick auf eine Verständigung zwischen Europa und China zeigen sich die Herausgeber der Dokumentation einer Züricher rechtswissenschaftlichsinologischen Tagung. Unter dem Titel „Maoismus oder Sinomarxismus?“ werden – und das ist eine Besonderheit – nicht nur die Beiträge, sondern auch die anschließenden Diskussionen ausführlich wiedergegeben. Im Hinblick auf die Chancen der Überbrückung der Gegensätze zwischen China und dem Westen kommen die Herausgeber zu dem bis heute immer noch bemerkenswerten Schluss, „dass beide Systeme gegenseitig voneinander lernen können und […] dies auch unbedingt tun sollten“. (S. 290) So erweist sich, wie fruchtbar die Bemühung um bessere Einblicke in das politische Selbstverständnis der heutigen chinesischen Führung sein kann.
Darüber, wie sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und damit auch die Grundlagen für gesellschaftliche Teilsysteme wie es das Rechtswesen darstellt, in China rapide ändern, gibt es vielfältige Ansichten. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass sich manche Entwicklungen langsam und lange Zeit unbemerkt vorbereiten. Wesentliche Faktoren dürften in Zukunft aus den Folgen von zwei anscheinend voneinander unabhängigen, aber doch miteinander verknüpften Entwicklungen resultieren: der Internationalisierung des Arbeitsmarktes einerseits und der Verbreiterung des Segments mittlerer Einkommen in China. Die Internationalisierung ist auch eine Folge der von jungen Chinesen bei Studien im Ausland gesammelten Erfahrungen. Neue Untersuchungen zeigen, dass die Kriterien für einzelne Migrationsschritte durchaus unterschiedlich sind. In seiner Studie „Region, Religion und Rücküberweisung. Zur Migration Hochqualifizierter aus Indien und China in deutschsprachige Länder“ zeigt Peter Seele, dass entgegen den Gründen für den „affirmativen Karriereaufbruch“ für die Rückkehr Familie, Sprache und Kultur bzw. Religion eine Rolle spielen, weswegen er von hier den Begriff der „restitutiven Heimatrückkehr“ verwendet. Während das Verbleiben Hochqualifizierter zumindest in Maßen von den Bedingungen im Gastland abhängt, könnte die Bereitschaft zur Heimatrückkehr von einem im Wesentlichen von der Binnenwirtschaftspolitik des Herkunftslandes abhängigen Faktor beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang ist die Studie zu den innerchinesischen wirtschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzungen von Interesse, die Tobias Voß mit seiner Kölner Dissertation unter dem Titel „Wie werden auch die Zweiten reich?“ für die Vergangenheit untersucht und in der er zu dem Ergebnis kommt, dass es eine starke Disparität zwischen der fortgeschrittenen sehr differenzierten wirtschaftswissenschaftlichen Debatte einerseits und der Schaffung politischer Rahmenbedingungen für die stabile Ausbildung eines breiten chinesischen Mittelstands gibt. Wie sich dieses Verhältnis weiter entwickelt, dürfte eine der spannenderen Fragen der Gegenwart und der näheren Zukunft darstellen.
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist und Professor für Ostasiatische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Göttingen. Von 1981 bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaften an der Universität München, von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 2008 bis 2013 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Chinastudien. Seit 2015 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde. Er unterrichtete an den Universitäten Bonn, München, Hamburg und Hannover. Im Jahr 2015 erhielt er den „Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur“.
Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de