Kinder- und Jugendbuch

Was ist eigentlich normal? Und wer bestimmt das?

„Wären wir alle gleich – wie langweilig wäre das Leben.“


Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2018

In dem Sachbuch „Ich so du so. Alles super normal“, nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch, provozieren die zehn Künstlerinnen und Künstler der Frankfurter Labor Ateliergemeinschaft mit der Frage „Warum bewerten wir Menschen, Situationen und Sachen als normal oder unnormal? Ist normal sein gut oder schlecht?“.

Mit witzigen Fotos, lustigen Bildgeschichten, Collagen, Comics und interessanten Sachinformationen spielen sie mit dem „Normal-O-Meter“ eines Jeden und laden verschmitzt zum Nachdenken ein. Aufschlussreich sind die Antworten von Kindern aus der ganzen Welt auf Fragen nach ihren Gewohnheiten; dies wird ergänzt durch Geschichten von Erwachsenen, die aus ihrer Kindheit Situationen beschreiben, in denen sie sich nicht so „normal“ gefühlt haben. Schnell stürzen in diesem originellen und vielseitigen Mitmachbuch Schubladen gefüllt mit Klischees und Vorurteilen ein. Und dabei kommt das Schmunzeln und Lachen nicht zu kurz. „Ich so du so“ ist ein starkes Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Anderssein: „Wir wollen sein dürfen, wer wir sind, und dazugehören – (…) Denn jeder Mensch ist vielseitig und einzigartig. Und er kann sich verändern. (…) Wären wir alle gleich – wie langweilig wäre das Leben.“

Das französische Künstlerpaar Kerascoët entführt uns mit zauberhaften, zarten Illustrationen in dem Buch „Malalas magischer Stift“ in eine märchenhafte Welt. Autorin des Bilderbuchs ist die junge pakistanische Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai. Ein kleines Mädchen schaut im Fernsehen ihre Lieblingsserie über einen Jungen, der einen magischen Stift besitzt: „Wenn er hungrig war, zeichnete er eine Schale Curry und sie erschien.“ Und sie wünscht sich nichts sehnlicher als einen solchen magischen Stift, „um eine bessere Welt zu zeichnen“ und Kinder, die in Müllbergen nach Metallresten fischen, in die Schule zu schicken wie es ihr selber möglich ist, „Mädchen und Jungen zusammen als Gleichberechtigte“. Mit Unterstützung ihres Vaters entschließt sie sich, für ihr Menschenrecht auf Bildung öffentlich einzutreten, selbst als die Taliban Mädchen den Zugang zu Schulen verbieten und trotz der drohenden Lebensgefahr. Zum Tag des Attentats heißt es auf schwarzem Grund: „Meine Stimme wurde so mächtig, dass die gefährlichen Männer versuchten, mich verstummen zu lassen. Aber es ist ihnen nicht gelungen.“ (…) „Ich hatte endlich die Magie gefunden, die ich gesucht hatte – in meinen Worten und in meiner Arbeit.“ Mutig und voller Hoffnung verkündet Malala am Ende des Buches vor den Vereinten Nationen: „Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“ Im Anhang gibt es einen Brief der jungen Autorin an die Leser und einen kurzen Lebenslauf.

Mut und Zivilcourage zeigt auch Starr, die 16-jährige Erzählerin in dem Debütroman der amerikanischen Autorin Angie Thomas „The Hate U Give“. In ihrem Wohnviertel Garden Heights, einer „Normalität“ mit Drogen und Gewalt, muss sie mit zehn Jahren miterleben, wie ihre beste Freundin erschossen wird. Die Eltern beschließen daraufhin, die Kinder auf eine Privatschule zu schicken, wo sie eine der wenigen farbigen Schülerinnen ist. Dort hält sie „den Mund, wenn ihr Leute blöd kommen, damit keiner sie für ein ‚Angry Black Girl‘ hält“ und gibt „niemandem einen Grund, sie ein Ghetto-Girl zu nennen. Ich hasse mich selbst dafür, aber trotzdem benehme ich mich so.“ Aber ihre schwarz-weiße Parallelwelt bricht zusammen, als ihr Kindheitsfreund Khalil vor ihren Augen von einem weißen Polizisten ohne Grund hinterrücks erschossen wird. Starr ist die einzige Zeugin. Wütend realisiert sie, dass die Behörden an der Aufklärung dieses Mordes wenig Interesse haben: „Leute wie wir werden in solchen Situationen zu Hashtags, aber Gerechtigkeit kriegen sie kaum einmal.“ Dazu verunglimpfen die Medien Khalil als Gangmitglied. Nach anfänglichem Zögern bricht sie ihr Schweigen und trägt die Wahrheit in die Öffentlichkeit: „Ich wusste gar nicht, dass man einen Toten wegen seiner eigenen Ermordung anklagen kann?“ Ein berührender, sprachgewaltiger Roman, der Mut macht und zeigt: „The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody. T-H-U-G L-I-F-E. Das bedeutet, was die Gesellschaft uns als Kinder antut, das kriegt sie später zurück, wenn wir raus ins Leben ziehen. Kapiert?“ Zweifach nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Labor Ateliergemeinschaft, Ich so du so. Alles super normal, 176 Seiten, Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2017, € 16,95. Ab 8 Jahren

 

Malala Yousafzai (Text), Kerascoët (Bild): Malalas magischer Stift. Übersetzung aus dem Englischen von Elisa Martins. 48 Seiten, NordSüd Verlag, Zürich 2018, € 16. Ab 7 Jahren

 

 

Angie Thomas, The Hate U Give. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner. 512 Seiten, Verlag cbt, München 2017, € 18,00. Ab 14 Jahren

 

David Hogg, Lauren Hogg, Das Manifest einer Rebellion #Never again. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Leena Flegler und Henriette Zeltner. 160 Seiten, btb Verlag, München 2018, € 8,00 Ab 14 Jahren

 

Anne Frank, Ari Folman, David Polonsky, Das Tagebuch der Anne Frank. Graphic Diary. Übersetzung Mirjam Pressler, Ulrike Wasel, Klaus Timmermann. 160 Seiten, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, € 20,00. Ab 13 Jahren

Am 14. Februar 2018 erleben die 13-jährige Lauren und ihr älterer Bruder David Hogg, wie ein Amokläufer mit Sturmgewehr in ihrer Schule, die Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida eindringt und wild um sich schießt. Sie überleben, Laurens vier beste Freundinnen sterben. Zusammen haben sie „Das Manifest einer Rebellion #Never again“ geschrieben, in dem sie versuchen, das Wahnsinnsgeschehen in Worte zu fassen. Sie berichten, wie sie Angst, Ohnmacht und Verzweiflung zu überwinden suchten und mit anderen Überlebenden die #Never again-Bewegung initiierten: „Wenn du die Augen aufschlägst und der Albtraum trotzdem nicht aufhört, bleibt dir nichts anderes übrig, als etwas zu unternehmen. (…) Man hat uns immer erzählt, dass es für uns US-Amerikaner nichts gebe, was wir nicht bewältigen könnten; (…) Alles – nur unser Problem mit der Waffengewalt, das können wir nicht lösen. (…) Als handelte es sich um höhere Gewalt oder eine Naturkatastrophe – etwas, was nicht in unseren Händen liegt und dem wir hilflos zusehen müssen. Etwas, das sich aller Logik und Vernunft wider- setzt.“ Entstanden ist eine Bewegung, die Amerika abrüsten will und fordert: „Never again! – Schützt Kinder, nicht Waffen!“, getragen von einer Generation, die wie Lauren Hogg „seit dem Kindergarten mit sogenannten Code Red Drills (Probealarmen und Amokübungen) groß geworden“ ist. Ein Manifest, das ein anderes, starkes Amerika zeigt.

„Das Tagebuch der Anne Frank“, ein Klassiker der Weltliteratur, als Graphic Diary, als Bildgeschichte! Ist eine solche Form vertretbar? Der Anne Frank Fonds in Basel hatte es dem mehrfach ausgezeichneten israelischen Regisseur und Autor Ari Folman und David Polonsky, preisgekrönter israelischer Illustrator und Comiczeichner vorgeschlagen. Das Ergebnis ist beeindruckend und geht unter die Haut. Das Graphic Diary beginnt wie das Original am 12. Juni 1942, Annes 13. Geburtstag und endet abrupt am 1. August 1944, drei Tage vor der Verhaftung im Hinterhaus der Prinsengracht 263 durch die SS.

Die kluge Auswahi von Originaltexten, die sensible, weektreue Verdichtung der Originallaufzeichnungen mit ausdrucks starken Bildern und pointierten fiktiven Dialogen („ZUM GLÜCK HAT DER MOND KEINE RELIGION“) geben einen tiefen Einblick in Atmosphäre und Beziehungsgeflecht im Versteck und in das Seelenleben von Anne Frank. Sie zeigen einen jungen Menschen voller Hoffnungen und Träume, der sich im Konflikt mit der Mutter befindet, unter dem Vergleich mit der „perfekten“ Schwester

Margot leidet und Pha sen der Verzweiflung und Depression durchlebt. Ein Mädchen, das die politische Lage genauestens verfolgt, ein unglaubliches Maß an Selbstreflexion besitzt und mit Humor und Sarkasmus vieles entschärfen kann. Ihr Rezept für „verwirrte Gehirne“: „Alle (…) müssten mal aufgeschüttelt werden, wie man ein Kissen aufschüttelt. Vielleicht legen sich die verwirrten Gehirne dann in etwas richtigere Falten!“

 

Renate Müller De Paoli ist freie Journalistin, Autorin und Geschichtenerzählerin. Sie lebt im Weserbergland, der Heimat des Rattenfänger von Hameln und des Baron von Münchhausen. RMDEP@t-online.de

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