Landeskunde

Von Ivan IV. zu Katharina II.

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2023

Russische Geschichte vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit

Jan Kusber, Katharina die Große. Legitimation durch Reform und Expansion, Stuttgart: W. Kohlhammer 2022, 370 S., 12 Abb. und 6 Karten, kartoniert, ISBN 978-3-17-021630-3, € 34,00.

Ebenso wie Sissi/Sisi kennen Katharina (1729–1796, reg. 1762–1796) auch diejenigen, die nie etwas über sie gelesen haben, aus Filmen und Berichten jeglicher Art und Weise. Der Mainzer Osteuropahistoriker Jan Kusber beschäftigt sich mit ihr und ihrer Zeit seit seinen Studienzeiten in den späten 1980er Jahren. Er nennt sie am Ende seines Buches einen „personalisierten Erinnerungs-ort“, was den Kern durchaus trifft. Von Lucie Höflich und Pola Negri über Marlene Dietrich bis zu Catherine ZetaJones und Dame Helen Mirren haben sie Generationen von Schauspielerinnen dargestellt. Die Attraktivität und die Bekanntheit Katharinas beruht in hohem Maße auf ihren tatsächlichen oder behaupteten zahlreichen Affären mit Angehörigen des russischen und des polnischen Adels. Kusber behandelt diesen Aspekt sowohl kenntnisreich als auch dezent in dem Kapitel „Katharina und ihre Favoriten“, in dem alles Wichtige zu diesem Thema dargestellt wird. Wer nach Details sucht, findet sie in der dort angeführten Literatur.

Kusbers Biografie besteht aus 21 unterschiedlich langen Kapiteln, die alle wesentlichen Aspekte von Katharinas Leben und Herrschaft behandeln. Katharina wurde als ­Sophie Friederike Prinzessin von Anhalt-Zerbst geboren und heiratete 1745 den späteren russischen Kaiser ­Peter III. (1728– 1762), den seine Tante, die regierende Kaiserin Elisabeth als ihren Nachfolger bestimmt hatte. Zwar war Peter III. ein Enkel Peters I., aber dennoch landfremd, denn er hatte bis 1742 ausschließlich in Schleswig-Holstein gelebt. Die Ehe der beiden, die wohl unterschied­licher kaum hätten sein können, war unglücklich. Katharina vertiefte sich in jenen Jahren in anspruchsvolle philosophisch-politische Literatur, was sie nicht daran hinderte, den ein oder anderen Geliebten zu haben. Während Katharina sich rasch in die russischen Verhältnisse einlebte, blieb Peter nicht nur das Land, sondern auch der kaiserliche Hof weitgehend fremd. Als er nach Elisabeths Tod den Thron bestieg, musste Katharina fürchten, in Ungnade vom Hof entfernt zu werden. Wie ihre beiden Vorgängerinnen, Anna und Elisabeth, wurde sie mit Hilfe der Garden, bei denen sie viele Sympathien genoss, inthronisiert. Peter III. starb wenige Ta-ge später unter bis heute nicht gänzlich geklärten Umständen.

Im Verlauf des Putsches bediente sich Katharina erstmals jener „symbolischen Kommunikation“, die ihr ganzes Herrscherinnenleben durchzog. Wie ihre Vorgängerin Elisabeth ritt sie in der Uniform eines Obersten der PreobraženskijGarde in die Hauptstadt ein und ließ sich auch, erneut wie Elisabeth, entsprechend malen, und saß, wie könnte es anders sein, auf einem Schimmel. Was ihr allerdings vor allem fehlte, war jede Form von Legitimation, die sie einerseits durch die Hilfe des Adels, der in den Garden diente, insbesondere aber durch die Unterstützung des hohen Klerus der Orthodoxen Kirche, mit dem sie sich, im Unterschied zu Peter, eine gute Beziehung erarbeitet hatte, zu erreichen suchte. Auf diese beiden Säulen stützte sie sich während ihrer mehr als 30-jährigen Herrschaft, die sie, wie Kusber im Untertitel hervorhebt, zudem durch Reformen und Expansionen legitimierte. Über beide Aspekte lässt sich durchaus diskutieren, wofür diese Biografie eine ausgezeichnete Grundlage liefert.

Katharina selbst verstand sich als aufgeklärte und absolute Monarchin und dachte selbstverständlich nie daran, diesen Anspruch aufzugeben. Wobei gefragt werden muss, ob sie denn überhaupt in der Lage war, sich etwas anderes, also eine andere Form der Herrschaft, vorzustellen. Wer, wie sie, Montesquieu, Diderot und Voltaire sowie ­diverse andere Aufklärungsliteratur gelesen, zudem Diderot rund ein halbes Jahr an ihrem Hof gehabt hatte, aber von der Revolution in Frankreich dennoch überrascht war und gar nicht verstand, worum es denn eigentlich ging, der musste schon in einer gewissen Form der Abschottung leben. Das ändert selbstverständlich nichts daran, dass sich Katharina im Rahmen ihres Herrschaftssystems bemühte, dass Recht und Gesetz galten und es für spezifische gesellschaftliche Gruppen oder Schichten bestimmte Formen einer Partizipation gab. Dies war weit mehr, als andernorts praktiziert wurde.

Ein wenig zu kurz ist meines Erachtens der Abschnitt über die Entwicklung der Wissenschaften zu Katharinas Zeiten geraten. Wer sie, wie Katharina es tat, förderte, der beförderte auch die Aufklärung. Einer der besten Köpfe, der über vierzig Jahre seines Lebens im Dienste der Wissenschaft in Russland verbrachte, war der aus Berlin stammende Arzt, Naturwissenschaftler und Geograph Peter Simon Pallas. Ihm verdanken wir nicht nur den von Kusber erwähnten Bericht über seine Forschungsreise durch Sibirien, sondern auch eine zweibändige „Sammlung historischer Nachrichten über die Mongolischen Völkerschaften“, eine ebenfalls zweibändige Darstellung seiner Reise durch Südrussland und die Krim mit praktischen Vorschlägen zur Verbesserung vieler Lebensbereiche. Schließlich gab er auf besonderen Wunsch Katharinas in den späten 1780er Jahren ein vergleichendes Wörterbuch aller Sprachen heraus, für das die Kaiserin selbst Vorarbeiten geleistet hatte. Bemängeln möchte ich die Ausstattung des Buches, bei der der Verlag in jeder Hinsicht gespart hat, denn die zumeist farbigen Bild­originale werden meist stark verkleinert nur als schwarz-weiß Abbildungen gezeigt, auf denen kaum etwas zu erkennen ist. Dies gilt auch für die Karten, deren Grundton grau ist und auf denen die Städtenamen fast unleserlich schwarz gedruckt sind. Bei einem Preis von 34,00 € ist etwas mehr zu erwarten. Dafür kann der Autor sicherlich nichts.

Der Text ist flüssig und gut lesbar geschrieben, manchmal wäre die ein oder andere Hilfe für Nichtspezialisten hilfreich gewesen. Aber in jedem Falle halten wir fest, dass Kusbers Katharina-Biografie in jeder Hinsicht zu empfehlen ist und hohe Maßstäbe für die Zukunft setzt.

Reinhard Frötschner (Hg.), Die illustrierte Chronikhandschrift des Zaren Ivan IV. Groznyj. Ein Schlüsselwerk der Moskauer Historiographie und Buchkunst zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin: Frank & Timme 2021, 263 S., 47 farbige Abb., broschiert, ISBN 978-3-7329-0668-0, € 49,80.

Der vorliegende Sammelband ist aus einer Münchner Tagung hervorgegangen und enthält neben dem Vorwort des Herausgebers elf Artikel, von denen einer in englischer, zwei in deutscher und acht in russischer Sprache verfasst sind. Es ist ein Band von Spezialisten für Spezialisten. Wie der Titel zeigt, geht es um die ­„Illustrierte Chronikhandschrift“ des Zaren Ivan IV., geschrieben und gemalt zwischen 1568 und 1576. Es ist eine Darstellung der Weltgeschichte von der Schöpfung bis ins Jahr 1567 aus russischer Sicht. Diese, nur als Handschrift überlieferte Chronik, umfasst zehn gebundene Bände mit rund 16.000 farbigen Abbildungen. Sie war, wie der Herausgeber in seinem Vorwort schreibt, bis ins Jahr 2011 auf das staatliche Historische Museum sowie auf die Russische Nationalbibliothek und die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg verteilt. Zwischen 2008 und 2011 erstellte der russische ­AKTEON-Verlag eine vierzigbändige Faksimile-Ausgabe, die nun allerdings auch online vollständig zugänglich ist bzw. sein sollte, denn einige Server in Russland sind derzeit nicht erreichbar. In seinem Vorwort weist Frötschner darauf hin, dass die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Quelle erst am Anfang stehe, denn sie enthalte eine „ungeheure Informationsfülle“ und zeige eine „enorme Komplexität des Sinngefüges“. Er sieht seinen Band als „einen weiteren kleinen Schritt auf dem langen Weg zu einem besseren Verständnis dieser Schlüsselquelle zur Geschichte des Moskauer Reiches“ unter Ivan IV. Solche Veranstaltungen wie seinerzeit in München, an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Russland, den USA, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Belarus und Deutschland teilnahmen, sind nun wohl auf längere Sicht kaum mehr möglich. Für diejenigen Spezialisten, die des Russischen mächtig sind, lohnt die Lektüre sicherlich. Ich, der ich kein Spezialist für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Russland bin, kann die bisher geleistete Forschung nur bewundern. (dd)

Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische ­Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration.

ddahlman@gmx.de

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