Harald Haarmann, Die seltsamsten Sprachen der Welt. Von Klicklauten und hundert Arten, ich zu sagen. München: C.H.Beck, 2021. 206 S., Hardcover. ISBN 978-3-406-76726-5. € 18,00.
Dem Sprachwissenschaftler Harald Haarmann eignet in hohem Maße die Forschertugend curiositas – Wissensdurst, Neugier. Er hat sich in Sprachen rund um den Globus umgetan. Anderswo geht’s anders zu. Im Register (Seite 203-206) wimmelt es von exotischen Sprachnamen. In den Literaturhinweisen (185-201) finden sich zu 29 der 51 Kurzabschnitte des Buches eigene Veröffentlichungen Haarmanns auf Deutsch oder Englisch. „Was im vorliegenden Buch zusammengetragen wurde, ist nicht als Kuriositätenkabinett gedacht“, schreibt er einleitend (12). Es wirkt aber so. Nachdem er sich zu erklären bemüht hat, wie „äußerst differenziert“ das Ungarische, „eine hochgradig agglutinierende Sprache“, Worte vermittels eines Sammelsuriums anzuklebender Anhängsel bildet, (58ff), fragt er (61): „Schwirrt Ihnen der Kopf?“
Sprachen sind Ausdrucks-Erfindungen neugieriger Wesen zwecks Verständigung unter gemeinsam Lebenden. Direkte Verständigung geschieht vermittels wahrnehmbarer Äußerungen, die ein ‚Gesprächs‘-Partner am anderen sieht (Körperbewegungen) oder hört (hervorgebrachte Laute). Verstetigte Äußerungsweisen – Sprachen – haben sich bei der Verständigung über Wahrgenommenes gebildet und lenken ihrerseits die Wahrnehmungen. „Wie die verschiedenen Sprachgemeinschaften die sie umgebende Welt wahrnehmen, wird von den lautlichen, grammatischen und lexikalischen Strukturen bestimmt.“ (29) Was bei den sich miteinander Verständigenden als selbstverständlich gilt, bleibt stumm. Dieses Phänomen kennzeichnet die Sprachwissenschaft mit dem „Nullzeichen“ ø. (10f) Das Buch ist in acht Teile gegliedert: Laute (13ff), Wort anordnungen (32ff), Wortschätze (64ff), Zählweisen (98ff), sozialordnungsgebundene Ausdrucksweisen (107ff), Sprechen von Heiligem (130ff), Verschriftlichung (149ff), Spracherfindung (174-183).
Seltsame Wort-Laute (13-17): Am Südende Afrikas, wo man die Wiege der anatomisch modernen Menschheit vermutet, werden als Bedeutungsträger Klicklaute artikuliert. Acht verschiedene benutzt San, die Sprache der Buschleute. Diese Menschengruppe ist nicht von anderswo eingewandert. Begann menschliche Sprache mit solchen Lauten? Einige davon übernahmen später zugewanderte Bantu-Stämme. Der Name des Herkunftstammes von Nelson Mandela, des Wegbereiters der Apartheidüberwindung, Xhosa, beginnt mit einem Klick. Ich hätte gern gelernt, diesen und andere Klicks korrekt auszusprechen. Trotz geduldiger Anleitung durch Einheimische gelang es mir nicht.
Seltsame Wort-Folge (50-53): Die häufigste Anordnung von Worten in einer Aussage ist S[ubjekt]V[erb]O[bjekt], Handlungsträger–Tätigkeit–Betreff (‚Wir betätigen Hausbau‘). Sie herrscht in den europäischen Sprachen vor. Sehr selten ist die Abfolge OSV (‚Haus wir Bautätigkeit‘). Diese benutzen die Ainu, Selbstbenennung mit der Bedeutung „Mensch“, die hauptsächlich Hokkaido bevölkerten, Japans nördlichste Insel. Im Sprachenkontakt übernahmen sie Japanisch als Zweitsprache. Haarmann übernimmt von anderen Forschern den Befund, die Japaner hätten von den Ainu Animismus übernommen, nämlich Shinto, kami-no-michi, „Wege der Götter“. – Von Animismus spricht
Haarmann auch an anderen Stellen des Buches; im Register steht der Begriff nicht. Er wurde von dem englischen Völkerkundler Edward Taylor (1832–1917) geprägt für den Glauben, es gäbe anima, Seele, auch getrennt von Lebewesen, und das wäre die Wurzel von Religion. Mich haben Indianer anders belehrt. Die Lenni Lenape, Selbstbenennung mit der Bedeutung „Mensch“, sind ein nordamerikanischer Waldlandstamm, dessen Sprache im 18. Jahrhundert von deutschen Missionaren erfasst wurde („Lenni Lenape“ ist auf deutsche Weise auszusprechen). Mit dieser Sprache bekam ich als Hilfskraft eines Wissenschaftlers an der Ohio State University in den 1950er Jahren zu tun. Dabei leuchtete mir ein: tschip/ai, vom Leben Abgetrenntes, Totengeister, Gespenster, sind durchaus nicht höhere Wesen, sie gehören keineswegs zu den manitu, den unterschiedlichen Vermögen, etwas machen zu können, geschweige denn zu Kittanittowit, dem All-Mächtigen. – Dass Leben in Lebendem steckt, müsste sprachwissenschaftlich eigentlich durch ø gekennzeichnet sein. Die Abbildung einer nordwestaustralischen Höhlenmalerei auf dem Buchdeckel – eine Mundöffnung, Augen, die zu brennen scheinen, darüber zwei Feuerkränze, der innere von etwas Schlangenförmigem zusammengehalten – kündigt die Beschäftigung mit dem Wortschatz australischer Aborigines (92-97) an. Haarmann hat in einem Lexikon der Sprache der Pintupi / Luritja nach Aufschluss gesucht, was es wohl mit der seltsamen Traumzeit auf sich habe. Jukurrpa verweist auf „Traum-gesehen“, auf Landschaftsformen, auf jemandes Totemtier. – Wiederum fühlte ich mich unter ‚meine‘ Indianer versetzt. Träume können geheime und wichtige Dinge offenbaren, allerdings nicht jeder beliebige Traum. Vor dem Übergang ins Erwachsenenleben setzen Aufwachsende sich der Einsamkeit im Busch aus, um zu ‚träumen‘, oder, anders ausgedrückt, auf der Suche nach Eingebung („vision quest“). Der Lehrmeister der jungen Leute kann beurteilen, ob es der rechte Traum war. Was geträumt wird, ist meist ein Tier – die Lebensform eines manitu, eines Vermögens, an dem der junge Mensch teilzuhaben ‚träumt‘. Er geht in sich, be-sinnt das, was es gibt, in der Hoffnung, ganz Wichtiges, Wahres, falle ins Bewusstsein. Ganz Wichtiges muss bewahrt werden. Auf dessen mündliche Weitergabe verstehen sich schriftlose Völker. – Geologen fanden heraus, dass ein Vulkanausbruch, von dem in einer Aborigine-Überlieferung berichtet wird, sich „vor ca. 37 000 Jahren“ ereignete. Und in Aus tralien, nur dort, hilft tatsächlich ein Bussard oder Falke als „Feuervogel“ den Menschen beim Legen der zum Pflanzenwachstum notwendigen Buschbrände. Zählen (98f): Neben dem Dezimalsystem gibt es auch das Vigesimalsystem, die „Zwanzigerzählung“, wie im Französischen ab 60 und ab 80, „quatre-vingt(s)“. Sozialordnung und sprachlicher Ausdruck (116f): Wie drückt ein Sprecher aus, dass er sich selber meint? Nicht überall in der Welt sagt er immerzu „ich“, sondern bezeichnet sich unterschiedlich je nach der Beziehung, in der sein Gegenüber zu ihm steht.
Bei seltsamem Sprechen – oder Schweigen („Tabu“) – von Heiligem soll es nach Haarmann wieder um Animismus gehen (131 u.ö.); das übergehe ich jetzt.
Eine aparte Schreibweise (161-165) führen RongorongoTafeln vor, die auf Rapa Nui, der „Osterinsel“ im Südpazifik, aufgefunden wurden: Der Schreiber drehte das Holzstück nach jeder Zeile um 180°; jede zweite Zeile steht Kopf.
Im Schlussteil würdigt Haarmann außer der Wiederbelebung des Hebräischen als Iwrit (174-177) auch die Konstruktion des Klingonischen (181-183) zwecks kultivierter Verständigung unter Star-Trek-Weltraumfahrern. Haben diese Pröbchen Sie neugierig gemacht? Das Buch ist ein Füllhorn, dicht bepackt mit Wissens- und Lächelnswertem. (it)
Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 nebenamtlich Kollegiumsmitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg. itoedt@t-online.de