Volkswirtschaft

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Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2021

Binyamin Appelbaum, Die Stunde der Ökonomen, Falsche Propheten, freie Märkte und die Spaltung der Gesellschaft. Übersetzt von Martina Wiese. S. FISCHER, 2020, geb., 552 S., ISBN 978-3-10-397346-4, € 26,00.

Binyamin Appelbaum, 42, ist ein vielfach ausgezeichneter Wirtschaftsjournalist. Er hat an der University of Pennsylvania Geschichte studiert und schreibt seit 2010 für die New York Times.

Mit dem vorliegenden Buch, seinem 2019 als „The Economists‘ Hour“ erschienenen Erstlingswerk, legt er eine kenntnisreiche, detailfreudige, quellengesättigte und glänzend geschriebene Geschichte vom Aufstieg der Ökonomen und ihrem Denken in der Politik vor. Wie in einem Schauspiel lässt er die handelnden Ökonomen und Politiker auftreten, skizziert in farbigen Bildern Werdegang, Wirken und Persönlichkeit und bindet so Ideen an Personen. Ein Füllhorn eingestreuter, die Personen oftmals trefflich charakterisierenden Anekdoten macht die Lektüre zu einem kurzweiligen Vergnügen. Worum geht es inhaltlich? Appelbaum legt dar, dass in der Politik der USA bis in die 1960er-Jahre hinein Ökonomen faktisch keine Rolle spielten. Die Politik bestimmte, die Wirtschaft folgte. Die Märkte waren kontrolliert: Ein straffes Kartellrecht verhinderte unternehmerischen Machtmissbrauch auf den Gütermärkten, starke Gewerkschaften sorgten für eine Machtbalance auf den Arbeitsmärkten, auf den Finanzmärkten waren die Zinssätze reguliert und die Wechselkurse zwischen den Währungen fixiert. Seit Roosevelts „New Deal“ war ein hoher Beschäftigungsstand das primäre wirtschaftspolitische Ziel. Und hohe Steuersätze auf hohe Einkommen boten ein starkes Korrektiv für die sehr ungleich verteilten Markteinkommen. Der Staat hatte, so Appelbaums Weltsicht, das Ruder in der Hand, und er fährt fort: „Was geschah, als die Staaten beschlossen, die Hände vom Ruder zu nehmen, erzähle ich nun.“ In zehn Kapiteln erzählt er dann, wie Ökonomen und ihr Denken mehr und mehr Einfluss auf die Politik gewannen. Ihrem Wirken schreibt er zu, dass der Staat als wirtschaftspolitischer Akteur an Ansehen und Bedeutung verlor und eine naive Marktgläubigkeit an seine Stelle gesetzt wurde. Die „Stunde“ der Ökonomen datiert er auf die Zeitspanne 1969–2008. Die Folge dieser Fehlentwicklung seien eine Spaltung der Gesellschaft, ein drohender Verlust der liberalen Demokratie sowie eine Missachtung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen.

Es begann mit Nixon. Er unterfütterte seine Absicht, die Wehrpflicht abzuschaffen, mit einem ökonomischen Gutachten, das einen hohen volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsverlust aus der wehrdienstbedingten Nichtverfügbarkeit junger Männer am Arbeitsmarkt berechnete. Mit diesem Entscheid sieht Appelbaum erstmals vordergründigem ökonomischen KostenNutzen-Kalkül den Vorrang vor gesellschaftlichen Erfordernissen eingeräumt. In der Amtszeit von Nixon wurde mit George Shultz, Ökonomieprofessor, später unter Reagan Außenminister und gerade erst, 100jährig, verstorben, erstmals ein Ökonom Finanzminister. Mit der Auflösung der Goldkonvertibilität des US-$ 1971 und der zwei Jahre später folgenden Aufgabe fixer Wechselkurse wurden Goldpreis und Devisenkurse den Marktkräften überlassen. Beiden Entscheidungen, der Beendigung der Wehrpflicht und der Einführung flexibler Wechselkurse, hatten Empfehlungen Milton Friedmans, des in der Nachkriegszeit neben Hayek bedeutendsten Befürworters freier Märkte, zugrunde gelegen.

In der makroökonomischen Politik der 1970er-Jahre gewann mit der zunehmenden Inflation während der Carter-Regierung Friedmans regelgebundener Monetarismus Vorrang vor aktivistischer keynesianischer Fiskalpolitik. Einen weiteren Rückzug des Staates aus dem Marktgeschehen brachte in den 1980er-Jahren Ronald Reagans Credo des Segens niedrigerer Steuern. Er setzte drastische Steuererleichterungen für Investoren durch, die wesentlich zur wachsenden Ungleichheit beitrugen. Die wissenschaftliche Unterstützung für dieses Programm kam von Ökonomen wie Mundell und Laffer. Mundell hatte in den 1960erJahren die Makroökonomik offener Volkswirtschaften mit einer Reihe bahnbrechender Aufsätze zur Rolle der Geldund Fiskalpolitik revolutioniert und einen wegweisenden Beitrag zur Theorie von Währungsunionen publiziert. Als Steuerexperte war er nicht bekannt, aber seine Reputation als Makroökonom verlieh seinen Forderungen nach Steuersenkungen politisches Gewicht.

In der Wettbewerbspolitik drängten Ökonomen wie Stigler und Coase auf eine größere Entscheidungsfreiheit für Unternehmen bezüglich ihrer Größe, Organisationsform und Vertragsgestaltungen. Mit Verweis auf Kosten- und Preissenkungspotentiale von Großunternehmen und Fusionen wurden die Antitrustbestimmungen nach und nach durchlöchert. Die Kehrseite der von Verbraucherverbänden begrüßten niedrigeren Preise war aber ein Druck auf die Löhne und die Vernachlässigung von Umweltstandards. Als weiteres Beispiel für die desaströsen Folgen ökonomischer Botschaften führt Appelbaum Famas These von der Effizienz der Finanzmärkte an. Fama hatte 1970 gezeigt, dass in den Aktienkursen alle verfügbaren Informationen enthalten sind, von Über- oder Unterbewertungen oder von Preisblasen daher nicht gesprochen werden könne. Wenn Preise also immer richtig sind, kann und sollte auf ihre staatliche Regulierung verzichtet werden. Gestützt auf die Fama-These wurden Finanzmarktregulierungen abgebaut, die Bankenaufsicht gelockert, ungesicherte Kreditverbriefungen zugelassen und Stabilitätsrisiken unterschätzt. In der Finanzkrise 2008 zeigte sich dann, dass von Stabilität und Effizienz der Kapitalmärkte keine Rede sein kann. Banken mussten mit Steuergeldern gerettet werden und zur Bekämpfung der Produktions- und Beschäftigungseinbrüche musste auf die zuvor als wirkungslos bezeichneten staatlichen, keynesianischen Konjunkturprogramme zurückgegriffen werden. Damit waren für Appelbaum die Weisheit und die Stunde der Ökonomen an ihrem Ende angelangt.

Als deren Ergebnis diagnostiziert er eine stark gewachsene ökonomische Ungleichheit, gerettete Banken mit durch hohe Abfindungen noch belohnten Managern auf der einen Seite und beschäftigungslos gewordenen Menschen ohne sozialen Schutz auf der anderen Seite, kurz eine gespaltene Gesellschaft und mehr noch: Eine Gefahr für die Demokratie, wie man an Trump und Johnson erkennen könne.

Aber ist das von Appelbaum gezeichnete Bild eines von Ökonomen beförderten, 40jährigen ungebremsten Marktliberalismus tatsächlich zutreffend?

„Die Stunde der Ökonomen“ bietet ein sehr einseitiges Bild der Zunft. Sie besteht nicht nur aus den o.g. Chicago-Ökonomen, alle mehr oder weniger Marktapologeten wie Friedman, den Appelbaum mit großem Abstand am häufigsten zitiert, sondern auch aus Leuten wie Stiglitz, Krugman und anderen, die für ihre Arbeiten über Marktunvollkommenheiten Nobelpreise erhalten haben. Musgrave, der die wissenschaftlich fundierteste Rollenverteilung von Staat und Markt vorgelegt hat, wird überhaupt nicht erwähnt. Ferner ist das gezeichnete Bild sehr USAspezifisch. Der schwedischen Wohlfahrtsstaat, die ordoliberale, soziale Marktwirtschaft in Deutschland sowie der französische Etatismus sind doch deutlich andere Konzepte. Und schließlich ist auch zu bedenken, dass Entwicklungen wie der Technische Fortschritt oder die Globalisierung von der Politik oder den Ökonomen nicht aufgehalten werden können. Man kann sich nicht, wie Appelbaum, darüber freuen, dass in den genannten 40 Jahren die weltweite Armut um 40% zurückgegangen ist und gleichzeitig beklagen, dass in den USA Jobs an das Ausland verloren gegangen sind.

Ist die Stunde der Ökonomen zu Ende? Wer soll an ihre Stelle treten? Juristen? Historiker? Mediziner? Wer sonst? Appelbaums These erinnert mich an einen Dialog des großen polnischen Aphoristikers Jerzy Lec. Er lässt den jungen Dichter sprechen „Ich bin ein Dichter von morgen“ und den alten Dichter antworten „Sprechen wir darüber übermorgen“.

Appelbaum schließt mit den Worten: „Die Marktwirtschaft bleibt eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit, eine mächtige Maschine zur Schaffung von Wohlstand.

Der Maßstab für eine Gesellschaft ist jedoch die Lebensqualität am unteren Ende der Pyramide, nicht an der Spitze. Die in den letzten 50 Jahren demonstrierte vorsätzliche Gleichgültigkeit gegenüber der Verteilung von Reichtum hat entscheidend dazu beigetragen, dass heute nichts weniger als die Überlebensfähigkeit der liberalen Demokratie von nationalistischen Demagogen auf die Probe gestellt wird, so wie schon in den 1930er-Jahren.“ Seine Mahnung ist ernst zu nehmen.

 

Andrew McAfee, Mehr aus Weniger, Die überraschende Geschichte, wie wir mit weniger Ressourcen zu mehr Wachstum und Wohlstand gekommen sind und wie wir jetzt unseren Planeten retten. Aus dem Englischen von Karsten Petersen. DVA 2020, Hardcover mit SU, 384 S., 20 s/w Abb., ISBN 978-3-421-04846-2, € 26,00.


McAfee, 53, ist Professor an der Sloan School of Management des MIT in Boston/USA. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Wirkung der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Mit seinem Koautor Brynjolfsson hat er 2014 „The Second Machine Age: Wie die nächste Digitale Revolution unser aller Leben verändern wird“ verfasst, ein Buch, das 2015 den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis erhielt.

In „Mehr aus Weniger“ greift er historisch und inhaltlich weiter aus und zeichnet das Bild einer wirtschaftlichen Entwicklung, die, beginnend mit der industriellen Revolution, zu einer ständigen Verbesserung der Lebensbedingungen geführt hat. Alles spricht dafür, so seine These, dass dieser, vom Technischen Fortschritt getragene und von der Digitalisierung beschleunigte Prozess auch in Zukunft anhalten wird. Vor diesem Hintergrund beklagt er, dass die bisher erreichten globalen Wohlstandszunahmen nur unzureichend gewürdigt werden und für die Zukunft eher pessimistische Perspektiven vorherrschen. Insbesondere werde die seit den 1970er-Jahren deutlich erkennbare Entkopplung von volkswirtschaftlicher Produktion und Rohstoffverbrauch, die das titelgebende Mehr (an Produktion) aus Weniger (an Rohstoffeinsatz) ermögliche, nicht zur Kenntnis genommen. Mit der Dematerialisierung der Produktionsverfahren seien auch viele Umweltbelastungen bereits geringer geworden und würden im Digitalisierungszeitalter weiter sinken.

So stellt der Autor ein von wissenschaftlichem Enthusiasmus bestimmtes, optimistisches Bild zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung dem Zeitgeist entgegen. Was ist davon zu halten?

Sein Optimismus stützt sich auf vier Quellen. Die ersten beiden sind Kapitalismus und Technischer Fortschritt. Der Kapitalismus mit seinen am Gewinn orientierten Unternehmen und ihrem Bewährungserfordernis am Markt bietet die Gewähr, dass sowohl alle Technischen Möglichkeiten effizienter Produktion genutzt werden als auch den Bedürfnissen der Konsumenten Rechnung getragen wird. So hat der aus dem hohen Nachkriegswachstum resultierende Preisanstieg der Rohstoffe bewirkt, dass die rohstoffnutzenden Unternehmen den Verbrauch dieser Güter durch Substitution und Einsparungen kostensparend reduziert und so den o.g. Entkopplungsprozess herbeigeführt haben. Da kapitalistische Unternehmen am Markt im Wettbewerb stehen, sind sie gezwungen, permanent in Technischen Fortschritt zu investieren, um überleben oder Wettbewerbsvorteile erzielen zu können. So wird der Kapitalismus zu einer Triebfeder des Technischen Fortschritts.

Die anderen beiden Quellen sind öffentliches Bewusstsein und bürgernahes Regieren. Diese beiden Erfordernisse einer gedeihlichen Zukunft folgen der Erkenntnis, dass Kapitalismus nicht genug ist, sondern einer öffentlichen Kontrolle und Korrektur bedarf. So muss der Staat den rechtlichen Rahmen setzen, in dem sich die Marktteilnehmer bewegen können. Ferner bedarf es in Fällen, in denen mit Produktion und Konsum negative externe Effekte einhergehen, staatlicher Regulierung, um die Preise mit den sozialen Kosten und Nutzen in Einklang zu bringen. Umweltschäden wie Luftverschmutzung, Wasserverschmutzung und Lärmbelästigung, hervorgerufen durch Produktion, Konsum, Verkehr, Heizen u.a. sind markante Beispiele für Regulierungsbedarf. Hier bedarf es eines wachen öffentlichen Bewusstseins und des Willens, auf die Missstände aufmerksam zu machen. Die öffentliche Unmutsäußerung muss danach Resonanz bei den Regierenden finden, also auf bürgernahes Regieren treffen, um Missständen durch gesetzliche Maß- nahmen entgegen wirken zu können.

McAfee spricht anschaulich von seinen vier optimistischen Reitern, denen er die vier apokalyptischen Reiter des Johannes-Evangelium entgegenstellt. Dass die zuletzt genannten zwei seiner vier Reiter privaten und staatlichen

Handlungsbedarf anzeigen, belegt, dass er nicht einem naiven wirtschaftspolitischen Laisser-Faire anhängt, sondern die Unvollkommenheiten des Marktes sehr genau sieht.

So widmet er ein ganzes Kapitel dem Problem der Konzentration, der örtlichen durch Verstädterung, der betrieblichen durch digitale Riesen wie Google und Amazon, der finanziellen bei Vermögen und Einkommen. In einem anderen Kapitel behandelt er das Phänomen der wachsenden sozialen Isolation. Mit Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen in Schwellenländer verliert insbesondere die untere Mittelschicht in den alten Industrieländern Arbeitsplätze und Einkommen. Damit einher geht der Verlust an Gemeinschaftsgefühl und an Wertschätzung, im eigenen Unternehmen und im eigenen Land. Das schrumpfende Selbstwertgefühl treibt viele Menschen dann in die Isolation.

All das hält McAfee nicht davon ab, einen sehr positiven Ausblick in die Zukunft zu geben. Seiner Zuversicht bezüglich der wirtschaftlichen Lebensbedingungen kann man sich anschließen. Bezüglich der ökologischen Lebensbedingungen scheinen Zweifel angebracht. Ob die globalen CO2-Emissionen durch die politisch festzulegenden Emissionsmengenreduktionen in ausreichendem Umfang gesenkt werden können, scheint angesichts der damit einher gehenden Ungleichbelastungen, national wie international, doch sehr fraglich. Und für den von ihm selbst für wahrscheinlich gehaltenen Fall, dass dies nicht gelingt, sieht er in Wanderungen aus hitzebedingt unbewohnbar werdenden Gebieten in sich weniger aufheizende Regionen eine realistische Option. Das setzt dem Optimismus dann doch erhebliche Grenzen. Den vermutlich anhaltenden, wenn nicht noch wachsenden Energiebedarf einer immer noch wachsenden Weltbevölkerung will er mit Atomstrom bedienen. Aber nicht jedem ist das Anlass zu Optimismus.

Zusammenfassend: Das Plädoyer des Autors, dem Technischen Fortschritt, also dem Erfindungsreichtum der Menschen, mehr zuzutrauen und – darauf gestützt – den vielen negativen Narrativen über die Zukunft eine positive Perspektive entgegen zu setzen, verdient Respekt und bietet zudem jedem Leser eine interessante und lehrreiche Lektüre.

Das Plädoyer des Autors, dem Technischen Fortschritt, also dem Erfindungsreichtum der Menschen, mehr zuzutrauen, verdient Respekt und bietet zudem jedem Leser eine interessante und lehrreiche Lektüre.

 

Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker, Stefan Dudey, Atlas der Weltwirtschaft 2020/21, Zahlen, Fakten und Analysen zur globalisierten Ökonomie, Westend Verlag 2020, Broschur, 128 S., ISBN 978-3-86489-295-0, € 18,00.

Die Autoren sind Volkswirte. Flassbeck, 70, langjähriger Chefvolkswirt der UNCTAD und Honorarprofessor in Hamburg ist Autor zahlreicher wirtschaftspolitischer Bücher, Spiecker freie Wirtschaftspublizistin, Dudey Autor zahlreicher gesundheitsökonomischer Beiträge.

Mit dem Atlas der Weltwirtschaft legen die Verfasser ein höchst originelles Ökonomiebuch vor. Eine Fülle von optisch einfallsreich gestalteten Schaubildern, Graphiken, Tabellen ergänzt die Ausführungen im Text. Die Abbildungen illustrieren in vielfältigen Varianten die Größenordnungen der Variablen, um die es geht. In 14 Kapiteln werden (a) Sozialprodukt, Konsum, Investition, Außenhandel, Strukturwandel und Beschäftigung, (b) Finanzierung, (c) Preise, Löhne, Zinsen und Wechselkurse, sowie (d) Bevölkerung, Klimawandel und – als Sonderteil – der Corona-Schock behandelt.

Die Daten stammen überwiegend von internationalen Organisationen wie UNO, IWF, WELTBANK, EUROSTAT. Sie beziehen sich, außer in (d), weitgehend auf die Periode 2000–2019 und werden jeweils für die Welt als Ganze, für sieben Ländergruppen sowie für ausgewählte einzelne Länder präsentiert. Die in den einzelnen Kapiteln verwendeten Begriffe werden in gesonderten gekennzeichneten Kästen sehr sorgfältig und zutreffend erklärt. Der besondere Beitrag des Buches besteht darin, die Fülle der Daten „zum Sprechen zu bringen“. Die Autoren erläutern die Zahlen in verständlicher, wissenschaftlichen Jargon vermeidender Sprache, machen auf unterschiedliche Entwicklungen zwischen Ländern und Regionen aufmerksam und weisen auf nicht sofort ersichtliche Zusammenhänge hin. Das Buch leitet den Leser auch an, das wirtschaftliche Geschehen aus globaler Sicht zu betrachten. Das Buch enthält neben seinen darstellerischen Besonderheiten auch inhaltlich interessante, keineswegs allgemein bekannte Befunde. So zeigt z.B. das unter (b) erwähnte Kapitel über die Finanzierungsrechnung eine markante Veränderung: Während in den 1960er-Jahren das Finanzierungsdefizit der Unternehmen nahezu vollständig den Finanzierungsüberschuss, d.h. das Sparen, der privaten Haushalte absorbierte, nahm es seitdem kontinuierlich ab, und ist in den letzten beiden Jahrzehnten sogar einem Finanzierungsüberschuss gewichen! Wenn aber beide private Sektoren, Haushalte und Unternehmen, Finanzierungsüberschüsse realisieren wollen, müssen die verbleibenden beiden Sektoren, Staat und Ausland, bereit sein, Finanzierungsdefizite einzugehen, d.h. sich zu verschulden. Die wachsende Verschuldung des Auslandes gegenüber dem Inland und eine wachsende interne Staatsverschuldung sind somit unabdingbar die Kehrseite des zunehmenden privaten Sparens. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in der gesamten EU. Die Zahlen scheinen die von Weizsäcker-These des säkularen Sparüberschusses (vgl. die Besprechung in FBJ 5, 2020) zu bestätigen.

Der hohen Qualität von Inhalt, Form und fachlicher Erläuterung der präsentierten Daten steht leider eine wirtschaftspolitisch zuweilen arg dogmatische und einseitige Deutung der Zusammenhänge gegenüber.

Im Vorwort, gleich im zweiten Absatz, wird der Ton vorgegeben: „Tut man das (die Daten erklären, K.S.) stellt man fest, „dass sich bestimmte Muster in den Volkswirtschaften ganz verschiedener Länder wiederholen, weil überall ähnliche wirtschaftspolitische Fehler gemacht werden, die sich wiederum zumeist auf eine ungeeignete Theorie zurückführen lassen“. Was die geeignete Theorie, die wirtschaftspolitische Fehler vermeidet, ist, wissen die Autoren, die (dummen?) Wirtschaftspolitiker aber offenbar nicht.

Die von den Autoren gegebene wirtschaftspolitische Deutung der Daten folgt einseitig der keynesianischen Theorie und marktinterventionistischem Denken. Die Höhe von Produktion und Beschäftigung hängt danach ausschließlich von der Höhe der Gesamtnachfrage ab. Zinsen und Wechselkurse sehen sie als Spielball der Spekulation und wollen sie deshalb vom Staat fixiert sehen. Im Sparen sehen sie nur den Nachfrageausfall, in Europa eine von Deutschland erzwungene Austeritätspolitik. Die Daten geben freilich eine solch einseitige Sicht auf die Produktion nicht her. Wenn die Daten eine Zunahme des Sozialprodukts ausweisen, sind Güterangebot und Güternachfrage höher als zuvor. Es kann sein, dass das Güterangebot höher ist als zuvor, weil die Güternachfrage gestiegen ist. So würden die Autoren den Sachverhalt interpretieren. Es kann aber genauso gut sein, dass die Güternachfrage höher ist als zuvor, weil das Güterangebot gestiegen ist und mit ihm das Volkseinkommen zunimmt. Man kann es den Zahlen nicht ohne weiteres ansehen, ob die Nachfrageoder die Angebotsbedingungen die treibenden Kräfte der Produktionsausweitung sind. Mit der Fixierung von Zinsen und Wechselkursen ist nichts gewonnen. Gewiss sind marktbestimmte Zinsen und Wechselkurse volatil. Aber bei fixierten Zinsen und Wechselkursen ist die Volatilität nicht weg, sie zeigt sich nur woanders, nämlich in den Interventionsmengen der Zentralbank. So wurden die fixierten Wechselkurse in den 1970er-Jahren deswegen abgeschafft, die Kurse also frei gegeben, weil die Zentralbanken ihren kursstützenden Interventionsverpflichtungen am Devisenmarkt nicht mehr nachkommen konnten, ohne die Kontrolle über den Geldumlauf zu verlieren. Wie sollte das heute, bei noch viel höherer internationaler Kapitalmobilität als damals, gelingen?

Der hohen Qualität von Inhalt, Form und fachlicher Erläuterung der präsentierten Daten steht leider eine wirtschaftspolitisch zuweilen arg dogmatische und einseitige Deutung der Zusammenhänge gegenüber.

Ein potentieller Käufer könnte sich fragen ob es sich lohnt, einen noch so guten wirtschaftskundlichen Atlas wie diesen anzuschaffen, wenn dessen Daten doch notwendigerweise rasch veralten? Die Frage ist entschieden zu bejahen, denn zum einen bietet der Aufbau der Daten ein Gerüst, mit dessen Hilfe man auch neue Daten gut interpretieren kann, zum anderen liefern die 20 Jahre und länger zurückreichenden Daten, zusammen mit den beigefügten Interpretationen, einen wirtschaftshistorischen Erfahrungsschatz von eigenem Wert.

Prof. Dr. Karlhans Sauernheimer (khs) wirkte von 1994 bis zu seiner Emeritierung im März 2010 als Professor für VWL an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er publiziert schwerpunktmäßig zu Themen des internationalen Handels, der Währungs- und Wechselkurstheorie sowie der Europäischen Integration. Er ist Koautor eines Standardlehrbuchs zur Theorie der Außenwirtschaft und war lange Jahre geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften.

karlhans.sauernheimer@uni-mainz.de

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