Wissenschaftsgeschichte

Vernetzte Wissenschaft: viele Aufklärer und ein Weltwissenschaftler

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 3/2017

Die Aufklärung gilt als jenes Zeitalter, in dem sich die Vernunft als Leitkriterium für das Urteil durchsetzte. Steffen Martus zeigt uns, dass die Aufklärer zugleich aber feststellten, dass der Mensch eben auch unmündig ist und sich häufig von Gefühlen und Gewohnheiten leiten lässt. Standen Vernunft und Gefühl sowie Gewohnheit in steter Auseinandersetzung, so lernten die Zeitgenossen daraus in jedem Falle, dass unterschiedliche Blickwinkel auf und für das Verständnis der Welt normal und diskussionswürdig waren. Die öffentliche Diskussion, in welcher Form auch immer, wurde ein prägendes Zeichen der Zeit.

Noch im Zeitalter der Aufklärung geboren, verstand sich Alexander von Humboldt als deren legitimer Nachfahre und propagierte, dass mit dem Wissen das Denken komme. Die Erkenntnis galt ihm als „Freude und Berechtigung der Menschheit“. Zentral war für ihn, den wohl letzten Universalgelehrten, die Erforschung und das Verständnis der Natur als ein lebendiges Ganzes.

Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. Aus dem Englischen überragen von Hainer Kober, München: C. Bertelsmann 2016, 556 S., zahlreiche schwarzweiße und farbige Abb., geb. m. SU, ISBN 978-3-570-10206-0. € 24,99

In zwei Jahren, 2019, jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag und zum 160. Mal der Todestag Alexander von Humboldts, des wohl letzten Universalgelehrten im eigentlichen Sinne des Wortes. Andrea Wulfs Biographie über ihn ist somit wohl ein Vorbote dessen, was binnen kurzem nicht nur auf dem Buchmarkt auf uns zukommen wird. Die Lutherfeiern werden aber gewiss nicht übertroffen werden. So berühmt ist der Held dieses Buches nun auch wieder nicht, obwohl es sicherlich in sehr, sehr vielen deutschen Städten eine Humboldtstraße gibt. Das Buch der in Indien geborenen, in Deutschland aufgewachsenen und in Großbritannien lebenden Historikerin und Publizistin erschien 2015 im englischen Original und 2016 in deutscher Übersetzung. In den USA und in Großbritannien erhielt das Werk zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den renommierten „Science-Book-Prize“ der altehrwürdigen Royal Society, gegründet 1660, deren Mitglied Alexander von Humboldt war. In Deutschland wurde Andrea Wulfs Buch 2016 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Während Alexanders älterer Bruder Wilhelm vor allem mit der Gründung der Berliner Universität 1809, die seit 1949 nach den beiden Brüdern benannt ist, und der Idee der Universität als eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, in deren Angelegenheiten sich der Staat nicht einmischen sollte, verbunden ist – heutzutage in weiten Kreisen obsolet geworden – beruht Alexanders weltweiter Ruhm vor allem auf seiner langjährigen lateinamerikanischen Forschungsreise an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eine zweite, gänzlich anders geartete Reise, stets im Schatten der ersten stehend, führte ihn 1829 für einige Monate ins Russische Reich.

Andrea Wulf ist ihrem Helden auf einigen seiner lateinamerikanischen Spuren gefolgt und hat wie er den in Ecuador gelegenen Chimborazo bestiegen, der in jener Zeit als höchster Berg der Erde galt. Seinen russischen Spuren ist sie jedoch nicht gefolgt, was der Osteuropahistoriker nur bedauern kann. Humboldt war nicht nur der „bedeutendste Naturforscher“ seiner Zeit, wie Charles Darwin ihn nannte, sondern auch „ein unerschöpflicher Brunnen des Wissens“, wie Johann Wolfgang von Goethe meinte. Humboldt war eben ein Universalgelehrter, der sich nicht nur mit der Naturgeschichte und Ethnologie (damals noch Völkerkunde) befasste, sondern auch mit Kultur- und Sprachgeschichte, mit Kunst und Politik beschäftigte und die Welt im Wortsinne vermaß, denn fast überall schleppte er seine Vermessungsgeräte mit hin. In Humboldts Denken verbanden sich noch Geistes-, Sozialund Naturwissenschaften zu einer an ästhetischen Formen orientierten Einheit. Zudem kannte er fast alle bedeutenden Wissenschaftler und viele Politiker seiner Zeit nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit persönlich oder korrespondierte mit ihnen. In seinen späteren Jahren erhielt er zwischen 2.500 und 3.000 Briefe pro Jahr. Humboldt galt als guter Redner, auf Gesellschaften oder bei Versammlungen konnte er jedoch durchaus „nerven“, denn er neigte zum Monologisieren und redete, so die Zeitzeugen, bisweilen drei Stunden ohne Unterbrechung und ließ selbst Charles Darwin nicht zu Wort kommen.

Eine intellektuelle Biographie Humboldts kommt, so sehr sich Andrea Wulf auch bemüht, leider zu kurz, denn schon das Original zielte ebenso wie die unveränderte deutsche Übersetzung auf ein breites Lesepublikum. Gelungen sind vor allem jene Kapitel, in denen Wulf den Einfluss Humboldts auf anglo-amerikanische und deutsche Denker zu Umwelt und Natur darstellt: Charles Darwin, Henry D. Thoreau, George Perkins Marsh, Ernst Haeckel oder John Muir. Gerade in diesen Kapiteln wird die Rolle Humboldts als ein Denker, der die Natur als Gesamtheit und als Einheit beschrieb, also Klima, Umwelt und Zerstörung einbezog, deutlich. Die Natur war für ihn ein lebender Organismus, der nicht nur wissenschaftlich, sondern eben auch ästhetisch behandelt werden sollte, so wie er es selbst in seinem Alterswerk „Kosmos“ darstellte. Da Andrea Wulf mit der Ideen- und Geistesgeschichte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht so sehr vertraut ist, kommt dieser Aspekt etwas zu kurz und wird zumeist nur angerissen. Selbstverständlich finden Immanuel Kant Erwähnung und Humboldts Göttinger Lehrer Johann Friedrich Blumenbach, den heute kaum noch einer kennt. Aber die entsprechenden Ausführungen sind nur kurz und knapp und machen Bedeutung und Wirkung für den Fortgang der Wissenschaft nicht hinreichend deutlich. Es genügt beispielsweise ein Blick in das Personenregister des schmalen Bandes mit den Humboldtschen Kosmosvorträgen aus den Jahren 1827/28 (Neuausgabe 1993), um die Weite und Breite seines Horizontes zu erahnen.

Dies mag auch daran liegen, dass Andrea Wulf mit dem neuesten Stand der deutschen Forschung über Humboldt nicht umfassend genug vertraut ist. Zahlreiche wichtige, kommentierte Neuausgaben der Humboldtschen Werke, wie etwa das zentrale Werk über die Russlandreise „Zentral-Asien. Untersuchungen zu den Gebirgsketten und zur vergleichenden Klimatologie“ von 2009 werden nur in alten Ausgaben, in diesem Falle nach der Übersetzung von 1844, zitiert. Von den zahlreichen Arbeiten Ottmar Ettes, des wohl wichtigsten deutschsprachigen Humboldtforschers, wird nur eine Arbeit aus dem Jahre 2001 genannt, nicht jedoch sein wichtiges Werk „Alexander von Humboldt und die Globalisierung“. Keine Hinweise gibt es auf die in Vorbereitung befindliche 14-bändige Berner Ausgabe mit Humboldts Aufsätzen und Essays, die für 2019 angekündigt ist; die ersten beiden Bände sind bereits erschienen. Auch die Neuausgaben des „Kosmos“, mehrere Auflagen seit 2004, oder der „Kritischen Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt“, 2009 neu herausgegeben von Ottmar Ette. Im Kapitel über die Russlandreise wäre ein kurzer Hinweis auf Humboldts Aufenthalt an der Universität Dorpat (heute Tartu), die ihm 1827 die Ehrendoktorwürde verliehen hatte, nicht nur hilfreich, sondern auch wichtig gewesen. Diese damals deutschsprachige Universität bildete die Schnittstelle zwischen der wissenschaftlichen Welt Westeuropas und Russlands und war ein Zentrum der Erforschung des asiatischen Teils des Russischen Reiches. Humboldt kannte dort fast alle Gelehrten entweder persönlich oder er hatte deren Werke gelesen und nahm auf seine Reise viele Anregungen von dort mit. So bleibt als Fazit, dass das Buch eine anregende Lektüre für diejenigen ist, die nur wenig über Humboldt wissen und eine Einführung in dessen Denken erhalten wollen. Neues bringt er uns nicht, denn er ist bedauerlicherweise nicht auf dem neuesten Stand der Forschung. (dd)

 

Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin: Rowohlt 2015, 1037 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-3-87134-716-0. € 39,95

Steffen Martus, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität, legte 2009 eine exzellente Doppelbiographie der Brüder Grimm vor, die Jakob und Wilhelm Grimm zugleich im Kontext ihrer Familie und ihrer Epoche verortete.

Nun folgt ein rund eintausendseitiges Epochenbild der deutschen Aufklärung, glänzend und souverän erzählt, zugleich aber auch mit präzis analytischem Zugriff geschrieben. Martus verschränkt in seiner Darstellung unter anderem die Welt der Literatur der Wissenschaft, der Politik und der Theologie miteinander und setzt deren Akteure in ihren sozialen Kontext. Im Zentrum stehen also, wie es am Ende der Einleitung heißt, die Menschen der Aufklärung als „Mängelwesen“, als „Gewöhnungs- und Gefühlstiere“, die viel Pflege, Nachsicht und Verständnis benötigen. Die Bedeutung der Aufklärung, so Martus, liege nicht so sehr im Aufruf zur rationalen Ermächtigung, sondern vielmehr darin, dass wir uns „unsere Unmündigkeit eingestehen und mit ihr produktiv umgehen“. Das sanfte Licht der Aufklärung, so heißt es am Ende des Buches, zeige uns, wie man sich an unklare Verhältnisse und unruhige Zeiten gewöhnen könne.

Unklar und unruhig war dieses 18. Jahrhundert durchaus. Kriege gab es häufiger und bilaterale oder internationale Spannungen waren fast alltäglich. Ebenso stand Streit unter den Aufklärern, Aufklärerinnen waren selten – immerhin widmet Martus den Frauen der Epoche der Aufklärung ein eigenes Kapitel –, beinahe dauerhaft auf der Tagesordnung. Einer der prägenden Streithähne war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, dessen Definition der Aufklärung in seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahre 1784 deren zentrale Idee auf den Punkt brachte. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, weshalb sich der Mensch seines Verstandes bedienen sollte. Salopp nennt Martus den großen Philosophen, einen „begnadeten Werbetexter“, der übrigens mit der geforderten Meinungsfreiheit und Diversität der Aufklärung so seine Probleme hatte und auch vor übler Polemik, wie in seiner Auseinandersetzung mit Johann Gottfried Herder, nicht zurückschreckte.

Martus zeigt uns die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit dieser Epoche, geprägt von einer rasanten Entwicklung der Öffentlichkeit in jeder Form, seien es Kaffeehäuser oder philosophische Journale. Der Buch- und Zeitschriftenmarkt explodierte geradezu. An den intellektuellen und sonstigen Debatten konnte jeder, der des Lesens kundig war, teilnehmen bzw. sie rezipieren. Indem jedoch die Aufklärer die „Vernunft“ als Leitbild herausstellten, auch die Religion sollte auf der Vernunft gründen, und sich vehement gegen Okkultes und Unvernünftiges wandten, bewahrten sie unter anderem diese Seiten des Volksglaubens vor dem Vergessen. Mit Blick über den Zaun zum französischen Nachbarn sei angemerkt, dass Voltaire nur in einer Angelegenheit mit den Ansichten der katholischen Kirche übereinstimmte: Der auf dem Balkan weitverbreitete Glaube an Vampire sei völliger Unfug und müsse mit aller Entschlossenheit bekämpft werden. Beim Teufelsglauben sah die Sache schon wieder ganz anders aus. Martus entfaltet ein in jeder Hinsicht lesenswertes Panorama des „deutschen 18. Jahrhundert“, indem er uns in aller Breite und Tiefe zeigt, wie intellektuelles, gesellschaftliches, politisches, wirtschaftliches und rechtliches Leben der Aufklärung miteinander verknüpft waren und zusammenhingen. Miteinander verknüpft, heute sagen wir vernetzt, war – nicht nur – die akademische Welt, die Republik der Gelehrten. Statt E-Mails zum Löschen schrieben die Herren „richtige“ Briefe. Von einer der zentralen Figuren, dem Göttinger Gelehrten Albrecht von Haller, sind fast 17.000 Schreiben überliefert. Dabei war Haller keineswegs ein Einzelfall.

Zunehmend faszinierend fand Martus im Laufe seiner Arbeit an diesem Buch, wie er im Epilog schreibt, „wie die Aufklärung sich zwischen den Zeiten zurechtfand, in die Geschichte schielte, zugleich zurück in die Vergangenheit und nach vorne in die Zukunft blickte“. Damals wie heute gilt es, sich mit den Widersprüchlichkeiten der eigenen Epoche auseinanderzusetzen. Von daher ist die Aufklärung so aktuell, anregend und relevant wie vor 300 Jahren. Dazu leistet Martus‘ Darstellung der Epoche der deutschen Aufklärung im 18. Jahrhundert einen in jeder Hinsicht fundierten und höchst lesenswerten Beitrag. (dd)

Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschaftsund Sportgeschichte sowie Migration.

d.dahlmann@uni-bonn.de

 

 

Martin Kintzinger und Sita Steckel unter Mitarbeit von Julia Crispin (2015, Hrsg.): Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne. Achte Internationale Tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitätsund Wissenschaftsgeschichte Band 13. Schwabe Verlag, Basel, CH, VIII, 354 S., mit 2 Farb-, 12 s/w-Abb. u. 7 Tab, gebunden. ISBN 9783796533983. € 98,00

Der Begriff ‹Wissen› ist gegenwärtig zum Schlagwort geworden, indem z.B. Daten und Informationen bereits zum Wissen gezählt werden, obwohl solches erst durch die Verknüpfung von Informationen unter Verwendung bereits existierenden Wissens und individueller Erfahrung generiert wird. Auch der Begriff ‹Wissenskultur› ist als catchword in Mode. Er umfasst alle historischen und gegenwärtigen Prozesse der Konstruktion, Verflechtung und Transformation von Wissensbeständen in spezifischen Kommunikations- und Handlungsräumen. Die vorliegende Sammelschrift ‹Akademische Wissenskulturen› enthält neben den Referaten, die von Historikern, Philosophen, Pädagogen und Politologen im Jahr 2009 (!) auf der 8. Tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (GUW) gehalten wurden, auch nachträglich eingeworbene, ergänzende Beiträge zu ‹Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne›. Inhaltlich geht es um die „Erforschung einer kulturwissenschaftlich definierten Wissensgeschichte mit diachronem Zugriff“ (Vorwort, S. VII), oder detaillierter formuliert, um die historische Perspektive einer wissensgestützten Weltaneignung, um die sozial-, verfassungs- und kulturgeschichtlichen Konstituenten der Generierung, Begründung, Sammlung, Ordnung und Bewahrung von Wissen sowie um dessen Tradierung, Brüche, Verwerfung, Erneuerung und Vermehrung.

Der Tagungsband verfolgt damit die ureigensten Ziele der erst 1995 gegründeten GUW, nämlich „… vor allem die langfristigen, oft ‘stillen’ Veränderungen verständlich [zu] machen, die Universität, Bildung und Wissenschaft in vormodernen und modernen Gesellschaften hervorgerufen haben“ (s. https://guw-online.net/ueber-die-guw/ziele). Im einleitenden Kapitel verdeutlicht Sita Steckel, Historikerin an der Univ. Münster und Mitherausgeberin des Bandes, das Kernanliegen der Tagung, „Perspektiven zu bündeln und miteinander ins Gespräch zu bringen“ (S. 1). Sie konstatiert, dass „[d]er Blick auf die Praktiken […] nicht zuletzt zu Idealen und Deutungen historischer Wissensordnungen zurück[führt], die in der praktischen Konkretisierung hervorgebracht und sichtbar gemacht, aber auch kritisiert und transformiert werden können“, und dass sich „die Deutungsbedürftigkeit praktischen Handelns […] als Einfallstor für mehrschichtige Adaptationen und Instrumentalisierungen“ erweist (S. 2).

Ist das nun nur l’art pour l’lart einer innovationsversessenen Geschichtswissenschaft, deren harte Kritiker die Erkennbarkeit von historischer Wahrheit in Frage stellen, oder bringt der aufgezeigte Perspektivwechsel tatsächlich einen qualitativen Fortschritt?

Wer sich davon überzeugen will, welche neuen Spielräume die Erforschung von ‹akademischen Wissenskulturen› eröffnet, dem bieten die auf drei Sektionen verteilten elf Beiträge vertiefende Informationen zur fachlichen Ausrichtung und Breite von ‹Wissensgeschichte›.

In der I. Sektion geht es um ‹Wissens- und Expertenkulturen als Untersuchungsgegenstände› in unterschiedlichen Epochen, beginnend mit Sita Steckels mediävistischer Analyse von wissensgeschichtlichen Zugängen, Problemen und Potentialen. Es folgt ein aufschlussreicher Beitrag von Marian Füssel (Univ. Göttingen), der die Fortschrittsnarrative der Universität der Frühen Neuzeit kritisch hinterfragt und hervorhebt, „wie sehr die historiographische Rekonstruktion der Genese der modernen Forschungsuniversität sowohl von lokalen wie nationalen Überhöhungen beeinflusst wird“ (S. 85). Füssel plädiert dafür, „die funktionale Eigenheit vormoderner akademischer Wissenskulturen ernst zu nehmen, anstatt sie weiter im Modus eines ‹noch nicht› zu behandeln“ (S. 87). Er exemplifiziert dies an der Komplementarität von „Mündlichkeit und Schriftlichkeit […] mediale[r] Mechanismen der Geltungsgenerierung“ (S. 86).

In dem „essayistisch gehaltenen Beitrag“ (S. 89) des am Deutschen Museum forschenden Technikhistorikers Helmuth Trischler stehen ‹Experten im Fokus› der europäischen Wissensgeschichte des langen 20. Jahrhunderts. Der faktenreiche, sorgfältig illustrierte Aufsatz thematisiert „wie sich Europas vielfältige Wissenschafts- und Techniknetzwerke zwischen den Polen von nationalem Wettbewerb und transnationaler Kooperation formiert haben“, wobei „die wissenschaftsgesteuerte bottom up-Initiative von Experten […] sich als besonders wirksame Antriebskraft […] einer gleichsam verdeckten Integration Europas erwiesen“ hat (S. 116f.).

Die II. Sektion behandelt in drei Beiträgen zeitspezifische ‹Praktiken des Lehrens›. Der Heidelberger Historiker Maximilian Schuh verfolgt in seinem Beitrag ‹Wein ist viel herrlicher als Bier› die bislang wenig erschlossene Rolle der Artistenfakultäten im Spätmittelalter, in denen propädeutisches Wissen zur Vorbereitung auf das Studium an den höheren Fakultäten erworben wurde oder auch nur die „Chancen auf eine Beschäftigung als Kleriker, Lehrer oder Schreiber“ (S. 125) erhöht wurden. Es wird deutlich, wie sich Wissensgeschichte mit Bildungsgeschichte eng überlappt, denn „[n]icht aristotelische Philosophie, die Vermittlung elitären Wissens oder die reine amor sciendi prägten den […] Rhetorikunterricht […], sondern die Notwendigkeit, mit dem während eines relativ kurzen Aufenthaltes erworbenen praxisorientieren Wissen seinen Lebensunterhalt außerhalb der Universität bestreiten zu können“ (S. 141).

In den weiteren Beiträgen dieser Sektion geht es um die Unterrichtspraxis in den Geschichtswissenschaften im 19. Jhdt., um ‹Private Übungen und verkörpertes Wissen› (Kasper R. Eskildsen (Roskilde, DK) sowie den ‹Topos der defizitären Lehre und die studentische Selbsthilfe›, beispielhaft erläutert an der Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. und frühen 20. Jhdts. und der Rolle der studentischen Verbindungen als Sozialisationsorte (Harald Lönnecker, Bundesarchiv Koblenz). Die III. Sektion behandelt ‹Praktiken der akademischen Repräsentation und Abgrenzung›. C. Stephen Jäger, Emeritus an der Universität Illinois und prominenter Vertreter einer interdisziplinär ausgerichteten Mediävistik, legt eine literaturwissenschaftliche Skizze zum hochmittelalterlichen Ideal des ‹vollkommenen Menschen› in Philosophie und Dichtung vor. Ein eingeworbener, ursprünglich in französischer Sprache erschienener Aufsatz von Antoine Destemberg (Université d’Artois, FR) behandelt ‹Die Erfindung des ‹Streiks› an der Universität (13.-15. Jahrhundert)›. Der Autor verdeutlicht, wie die „Waffen des geistlichen Krieges“ (S. 243) auf komplexe soziale Strukturen zurückzuführen sind, und zeigt, wie ausgefeilt und fortschrittlich die Rahmenbedingungen für die Anwendung des Rechts auf cessatio damals schon waren, um „gute und schnelle Gerechtigkeit“ (S. 259) zu erbringen. Martin Gierl, Fellow am Lichtenberg-Kolleg (Göttingen), ist ausgewiesener Experte der Biographie des Geschichtsprofessors Johann Christoph Gatterer (1727-1799), der 1764 die ‹Historische Akademie› (seit 1766 Historisches Institut) gründete, das erste geschichtswissenschaftliche Fachinstitut überhaupt. Gatterers bleibendes Verdienst ist „die Objektivierung der Geschichte mithilfe von Hilfswissenschaften“ (S. 278), wozu bis heute die Disziplinen Chronologie, Diplomatik, Genealogie, Geographie, Heraldik und Numismatik und Statistik zählen, von denen einige in ihrer Methodik und Aussagekraft für die Historiographie von Gierl exemplarisch erläutert werden, um nach Gatterers Leitsatz ‹Geschichte im ganzen Umfang› zu konstruieren und durch „Geschichtsschreibung […] eine objektivierte Kopie der Geschichte [zu] erzeugen“ (S. 277). Der Amerikanistin Charlotte A. Lerg (München, z. Zt. Münster) wirft einen entlarvenden Blick auf die Vergabepraxis von ‹Ehrendoktorwürde[n] im Dienste der transatlantischen Diplomatie›. Da nur soziobiologisch Unbedarfte glauben, dass akademisches ‚Lametta‘ allein der Ehre wegen verliehen wird, sind die Ergebnisse von Charlotte Lergs Quellenstudium zum Selbstverständnis der Universität und zur Kultur-, Werte- und Ersatzdiplomatie wenig überraschend: „Die Universität bot eine eindrucksvolle Bühne für kulturdiplomatische Bestrebungen und das ‹‹academic charisma›› der Gelehrtenrepublik war zugleich Gütersiegel und ein Wert an sich“ (S. 321). Das Tauschverhältnis mit win-win-Charakter wird u.a. an der „Ehrenbürgerschaft“ (S. 316) der FU Berlin für J.F. Kennedy und den Ehrendoktorwürden amerikanischer Universitäten für Konrad Adenauer kurzweilig und bisweilen etwas ins Feuilletonistische abgleitend exemplifiziert.

Im letzten Beitrag ‹Digital Humanities – Wissenschaft in Arbeit› stellen Sonja Palfner und Ulla Tschida (Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin) am ‹Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen› (TUSTEP) und am Forschungsverbund TextGrid, einer virtuellen Forschungsumgebung unter Koordination der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Anwendung von computergestützten Verfahren und die systematische Verwendung von digitalen Ressourcen vor. Ihr staubtrockener Beitrag zeigt technische, rechtliche und organisatorische Dimensionen eines rapide fortschreitenden innovativen Institutionalisierungsprozesses in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaftlern auf, der nach Ansicht der Autorinnen den bisherigen Erfahrungshorizont der einschlägigen Fachwissenschaftler weit überschreitet, weshalb sie vorschlagen, „Digital Humanities als Praxis. Dynamik, Prozess – eben Wissenschaft in Arbeit“ (S. 341) zu betrachten. Abschließend ist zu konstatieren, dass der Tagungsband einerseits durch die inhaltliche Offenheit, Vielfalt der Fragestellungen und die perspektivische Breite der Erforschung von ‹Wissenskulturen› imponiert, anderseits aber auch den irritierenden Eindruck thematischer Beliebigkeit und unverbundener Heterogenität vermittelt. Es fällt daher schwer, die Diversität „unterschiedlicher Blickrichtungen und Epochenschwerpunkte“ […] „nicht als Anzeichen divergenter oder inkommensurabler Entwicklungen“ (S. 5) zu betrachten, wie es Sita Steckel empfiehlt. Unstrittig dürfte jedoch sein, dass das Fach ‹Wissensgeschichte› sich in statu nascendi befindet und es erheblicher Anstrengungen für seine Konsolidierung bedarf. (wh)

 

 

Andrea Schenker-Wicki (2016) Über das Glück. Basler Universitätsreden, Heft 115, Geheftet, 18 Seiten, Schwabe Verlag. Basel, ISBN-13 9783796536458, € (D) 12,00 bei Direktbestelllung über kommunikation@unibas.ch

Seit der griechischen Antike und der Begründung hedonistischer Lehren durch Aristippos von Kyrene und Epikur suchen Generationen von Philosophen nach Formen des Glücks. Ihnen geht es nicht um kurzfristige, euphorische Glücksgefühle, das sog. Zufalls- oder Alltagsglück, sondern um Lebenskonzepte, um Antworten auf die Frage, wie der Mensch ein stetiges subjektives Wohlbefinden erreichen kann. Konsens, wie man aus der kurzen Zeitspanne, die einem das Leben gewährt, das Beste machen kann, wie „Zufriedenheitsglück“ gelingen kann, gibt es nicht. Glück hat viele Gesichter, wie die empirische Glücksforschung belegt.

Die Autorin des vorliegenden Beitrags, Andrea Schenker-Wicki, forschte und lehrte viele Jahre als o. Prof. für BWL an der Universität Zürich, bevor sie Rektorin der Universität Basel wurde. In ihrer Festrede zum Dies academicus 2016 geht die Ökonomin auf die Glücksforschung ihrer Disziplin ein, die das Ziel verfolgt, „herauszufinden, was das Glücksgefühl fördert oder hindert, um daraus Handlungsempfehlungen für die Politik, die Unternehmen, aber auch für die Individuen abzuleiten“ (S. 4).

Nach einer allgemeinen Einleitung zum Thema Glück geht es um die Aristotelische Lehre von Glückseligkeit, guter Lebensführung und „Staatskunst“. Unter Letzterer verstehen Volkswirtschaftler „die institutionellen Rahmenbedingungen und Anreizsysteme, die die Politik setzt“ (S. 6). Was kann nun aber der Einzelne zur Erlangung von Lebensglück tun? Nach Schenker-Wicki sind „40 bis 50 Prozent, und damit die Hälfte des Glücks- und Wohlbefindens angeboren“ (S. 6), ein verhaltensgenetischer Befund, über dessen Validität und Reliabilität sich trefflich streiten ließe. Die positive Botschaft ist jedoch: „Jeder ist seines Glückes Schmied“, denn es steht außer Zweifel, dass das soziale Umfeld und persönliche Erfahrungen entscheidenden Einfluss auf unser Lebensglück haben. Aber welcher Lebensstil macht glücklich? Die Autorin listet zunächst auf, was uns unglücklich macht. Dazu gehören „zu viele Videos, zu viel Fernsehen und zu viele Computerspiele“ (S. 7), denn sie führen zu Konsumzwang und schüren Ängste. Wenn ferner lange Arbeitswege, Krankheiten, vorwiegend psychische Erkrankungen, sowie unfreiwillige Arbeitslosigkeit und die daraus resultierenden Wege in die Hoffnungslosigkeit und potentielle Radikalisierung erwähnt werden, bewegt sich die Verfasserin auf recht ausgetretenem Terrain der Ungleichheitsforschung. Der Leser hofft, dass die Ausführungen zu dem, was uns glücklich macht, origineller sind? Aber da geht es zunächst auch um Altbekanntes: um soziale Beziehungen, das Gefühl gebraucht zu werden, um das Zusammensein mit Gleichgesinnten, um peers, mit denen wir gleiche Werte teilen, um ein Netzwerk aus Freunden und Bekannten, um stabile Partnerschaften. Eine wichtige Rolle spielen Partizipation und das Übernehmen von „Verantwortung […] im Staat, in Wirtschaft, Gesellschaft, Kirche und Kultur“ (S. 10). Auch „Beten und Glauben machen glücklich“, wie neurobiologische Befunde zeigen. Und – das kann eine Universitätsrektorin nicht übergehen – intrinsische Motivation und gute Ausbildung helfen, „denn Autonomie und Selbstbestimmung bei der Arbeit machen glücklich“ (S. 10). Gibt es einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenszufriedenheit? Offenbar nur mit „abnehmendem Grenznutzen“ (S. 11). Die Schweizerin reflektiert über Gewöhnungseffekte bei höherem Wohlstand und über wettbewerbsgetriebene Tretmühlen. Um unsere Ansprüche nicht ins Unermessliche wachsen zu lassen, sollten wir unbedingt vermeiden, „uns ständig mit anderen zu vergleichen. Denn es gibt immer jemanden, der schöner, reicher, einflussreicher und gescheiter ist als wir selbst, sogar wenn wir statusmässig ganz oben angekommen sind“ (S. 13).

Schließlich geht es um das hervorragende Abschneiden der Schweiz im World Happiness Report und die Rolle der Universität Basel in der Glücksdebatte. Schenker-Wicki erklärt den Beitrag der Alma mater zum Glück einer ganzen Region, erläutert das „Ökosystem der Kreativität“ am Standort Basel und beschließt ihre Rede mit einem Appell an die Festversammlung, „Sorge für Ihre Universität [zu tragen], denn sie trägt zur Lebenszufriedenheit und zum Glück in dieser Region viel bei“ (S. 18).

Fazit: Eine Festrede, die weder hochgesteckte Erwartungen erfüllt, noch einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, jedoch solide über Ergebnisse der Glücksforschung informiert. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh)

henkew@uni-mainz.de

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