Fotografie, Kunst

Utopie auf Platte

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2022

Im Gespräch: Kristina Frick und Wenke Seemann

Wenke Seemann, Jahrgang 1978, aufgewachsen in Rostock, ist eine in Berlin lebende Fotografin und Performancekünstlerin. Mit ihrer Ausstellung Utopie auf Platte hat sie im Sommer in der Kunsthalle Rostock zum ersten Mal ihre Werkserie Archivdialoge #1 – Bauplan Zukunft ausgestellt, und wenn Sie schon immer etwas über die Entstehung von ostdeutschen Plattenbauvierteln wissen wollten, sollten Sie jetzt nicht aufhören zu lesen. Vielleicht gehören Sie auch zu den Menschen, die an Jena-Lobeda auf der Autobahn vorbeibrausen und froh sind, dort nicht wohnen zu müssen. Aber gönnen Sie sich eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Gefühl. Eine Ausstellungszeitung gibt es zu beziehen über die Künstlerin selbst (www.seemannsbilder.de) und obwohl die Ausstellung in der Kunsthalle Rostock schon vorbei ist, gibt es im Rahmen des Eur ­ opäischen Monat der Fotografie schon im März 2023 die Möglichkeit, sie in Berlin im Projektraum Meinblau erneut zu sehen. (kf)

Wie ist deine Werkserie – denn so muss man diese große Arbeit wohl eher bezeichnen – entstanden?

Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war das Archiv meines Vaters. Mein Vater war Fotograf. Nach seinem Tod hat er mir zehn Umzugskartons mit Abzügen und Negativen hinterlassen. Monatelang habe ich dieses Archiv gesichtet und sortiert. Dabei bin ich auf ein mir unbekanntes Konvolut gestoßen, das die Entstehung der Neubaugebiete im Rostocker Nordwesten in den 1970er und 1980er Jahren dokumentiert und mich auf merkwürdige Weise berührt hat. Es enthält viele Aufnahmen von Lichtenhagen und Groß Klein, den Stadtteilen, in denen ich aufgewachsen bin.

In diesen Bildern habe ich zum ersten Mal etwas gesehen, das ich zuvor nie mit ostdeutschen Plattenbausiedlungen in Verbindung gebracht hatte: einen Geist von Aufbruch und Erneuerung, ein Versprechen der Moderne an die Generation meiner Eltern. Das fand ich deshalb so interessant, weil das in einem gewissen Widerspruch zu meinem eigenen Verhältnis zu den Orten meiner Kindheit steht. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Berlin zog, war davon nichts mehr zu spüren. In der politischen und sozialen Umbruchzeit der Nachwendejahre war ich permanent auf der Hut vor Neonazis, während immer mehr Familien wegzogen und die soziale Mischung der Neubauviertel sich stetig auflöste. Nach dem Abitur bin ich auch gegangen und über die Jahre auf Distanz geblieben. Aber genau dieser Widerspruch hat mich interessiert, ich wollte meine eigene Ambivalenz zu den Orten meiner Kindheit und Jugend erforschen, und ich habe begonnen, mich intensiv mit den Archivbildern zu beschäftigen.

Ein Foto zeigt z.B. Groß Klein, das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, im Jahr 1979, es ist damals noch eine Baustelle, nur ein paar Blöcke sind schon zu sehen. Ich habe mich gefragt, wie meine Eltern damals auf diese Baustelle geblickt haben und meine Mutter befragt: Sie haben zu dieser Zeit mit mir als Baby ganz in der Nähe im Haus meiner Großeltern in eineinhalb Dachzimmern gewohnt, mussten sich die Waschküche und das Bad teilen. Für meine Eltern war die Aussicht auf eine Neubauwohnung mit Warmwasser, Heizung, Schlaf- und Kinderzimmer eine wahre Verheißung.

Ist deine Arbeit auch ein Blick auf die Geschichte deiner Eltern?

Es geht nicht unbedingt um die Geschichte meiner Eltern. Ich habe mich gefragt, inwiefern mein ambivalentes Verhältnis zu den Vierteln– abgesehen von Lichtenhagen und dem Pogrom – geprägt ist durch meine eigenen Erfahrungen und wie hoch der Anteil einer äußeren Bewertung ist, die ich übernommen habe.

Mir ist aufgefallen, dass bestimmte Lebenserfahrungen in der gesamtdeutschen Erzählung kaum oder gar nicht vorkommen. An den ostdeutschen Plattenbauvierteln kann man das gut sehen, – die Erfahrung meiner Eltern und auch meine eigenen Kindheitserinnerungen sind in der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung dieser Viertel fast vollständig überdeckt vom Label des sozialen Brennpunkts und des Ghettos, in dem man nicht landen möchte. Auch die Architektur wird nicht, anders als z.B. Corbusier, im Kontext der Moderne betrachtet, obwohl sie in derselben Tradition steht. Auch ich bin lange nicht auf die Idee gekommen, – erst in den Aufnahmen meines Vaters wurde für mich dieser Zusammenhang sichtbar, auch weil sich die architektonischen Strukturen so klar herausheben in der Entstehungsphase, als weder Grünflächen noch Bäume eine Ablenkung boten.

Meine Motivation ist, meine Geschichte, die unweigerlich mit der meiner Eltern verknüpft ist, als einen Teil der gesamtdeutschen Erfahrung anhand dieser Viertel zu erzählen, dieser Architektur und der Form des Zusammenlebens, dieser Utopie einer Gesellschaft, die sich nicht eingelöst hat.

Deine Ausstellung besteht aus vielen, in sich geschlossenen Serien und unterschiedlichen Medien. Du hast eine Art Gesamtwerk geschaffen, das sehr persönlich ist und dennoch nicht intim und somit auch eine gewisse Allgemeingültigkeit für sich beansprucht. Wie muss man sich die Arbeit vorstellen?

Ich habe mit den Fotos meines Vaters und meinen Plattenbaugeschichten angefangen.

Die Geschichten waren zu Anfang als Notizen gedacht. Aber sie sind zu einer eigenständigen Arbeit geworden, weil ich gemerkt habe, dass sie mehr als nur Notizen sind. Es sind auch nicht nur meine persönlichen Erinnerungen, sondern ich kombiniere sie mit assoziativen Recherchen über Dinge, die mich an den Fotos interessiert haben. Es gab immer etwas, das ich in den Bildern gesehen und worüber ich dann nachgeforscht habe. So hat sich eine Kettenreaktion ergeben. Es ging mir gar nicht um ein Konzept, sondern ich habe einfach immer wieder Dinge gefunden, denen ich weiter nachgehen wollte. Einige Fotos zeigen zum Beispiel unsere Wohnung vor dem Einzug 1982 mit den verschiedenen Blumenmustertapeten im Stil der 1970er Jahre. Daraufhin habe ich nach diesen Tapeten geforscht und tatsächlich noch Altbestände erstehen können, die ich zu den WohnungsgrundrissCollagen der Serie „Musterwohnung“ verarbeitet habe. Jetzt wohne ich in einer Wohnung, die der Wohnung von damals gar nicht so unähnlich ist und dann habe ich mich gefragt, wieso diese Wohnung jetzt so viel größer ist, obwohl die Zimmer scheinbar dieselben sind? Also habe ich die Grundrisse der Rostocker Anpassung an den Wohnungsbautyp WBS70 im Bauarchiv der DDR recherchiert und herausgefunden, dass die hiesigen Stadtplaner und Architekten ihre ambitionierte Klinker- und Farbgestaltung der Fassaden über eine Verkleinerung der standardisierten Wohnungsgrößen finanziert haben. Da im Zuge der Sanierungen der vergangenen dreißig Jahre wiederum diese Originalfassaden fast komplett verschwunden sind, habe ich angefangen, sie in Zeichnungen nach Archivbildern zu rekonstruieren. Und so ist wieder eine neue Serie entstanden: „Fassaden“.

Diese Suchbewegungen haben mich zum Beispiel auch von dem Foto einer Straßenkreuzung über Bertolt Brecht zu Beate Uhse geführt, mal von einer Poliklinik über Salvador Allende zum Pioniergeburtstag und der Privatisierung des ostdeutschen Gesundheitssystems.

Das Ergebnis dieser Arbeitsweise ist ein Dialog von und mit unterschiedlichen Archiven, der Ursprung dieser Auseinandersetzungen liegt immer in den Bildern aus dem Archiv meines Vaters.

Du arbeitest, ohne zu glorifizieren oder abzulehnen. Du hast eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit dem, was war, geschaffen und gibst gleichzeitig einen Hinweis darauf, was sein könnte – in Anbetracht der Wohnungsnot von bezahlbaren (!) Wohnungen in Großstädten.

Nicht nur in Anbetracht von Wohnungsnot, sondern auch von Ressourcenmangel ist das schon ein Konzept, mit dem man sich näher beschäftigen könnte. Wenn man sich überlegt, wie viele Wohnungen in der DDR in 20 Jahren gebaut worden sind, in sehr kurzer Zeit von einem Staat, der keine Ressourcen hatte und daraus irgendwie das ­Beste macht, lohnt sich doch ein Blick darauf.

Aufgrund des Mangels hat man kleinere und viele Wohnungen gebaut, nicht Eigenheime. Das hätte ökonomisch gar nicht funktioniert. Eigenheime wurden auch gebaut, aber viel weniger und es hat viel länger gedauert. Die Frage ist doch, wieso ist der soziale Wohnungsbau heute so schwer umzusetzen?

Corbusier oder solche Architekten werden geachtet. Bei den Stadtplanern von Rostock-Schmarl ist es noch nicht so weit. Aber die Unterschiede sind nicht so groß. Auch Corbusiers Viertel sind nicht schön. Es geht um die Idee von günstigem Wohnraum für Menschen unterschiedlicher, vor allem niedriger Einkommensgruppen. Wie bringt man Menschen würdevoll und ökonomisch sinnvoll unter, die sich nicht jederzeit ein Eigenheim kaufen oder bauen können? Und wie integriert man das in eine Stadt? Da kann man auf jeden Fall mal hinschauen.

Weitere Serien innerhalb der Ausstellung sind:

„Lichttisch“. Sie markiert das Archivmaterial als Ausgangspunkt und materielle wie visuelle Grundlage der Archivdialoge.

„Die Collagen-Reihe „Deconstructing Plattenbau“ geht dem visionären Kern und der Materialität der Architektur nach, konzentriert sich auf Form und Struktur und setzt sie zu Utopie und Realität gleichermaßen ins Verhältnis.

„Revisiting Rituals and Gestures“ hingegen unterzieht vormals gewöhnliche Rituale, wie Fahnenappelle oder kollektive Arbeitseinsätze, und die mit ihnen verbundenen Gesten, einer aktuellen Revision.

„Wohnstrukturen“ legt die baulichen Grundstrukturen verschiedener Plattenbausiedlungen frei und überführt sie in grafische Abstraktion.

„Becoming“: Vom Werden und Wachsen der Wohnkomplexe in Lichtenhagen und Groß Klein zeugen drei 180° bis 360° Panoramen aus den Jahren 1979, 1983 und 2021: Vom freien Feld, zur klar abgezeichneten, architektonischen Form zur Strukturintervention der Natur. Ergänzt werden die großformatigen Panoramen durch eine Videoinstallation.

Zu sehen:

Wenke Seemann | Marthe Howitz – Musterstadt OST – 10. bis 19. März 2023 Projektraum Meinblau, Pfefferberg Berlin

© Wenke Seemann

Wäre eine Auseinandersetzung mit den westdeutschen Großwohnsiedlungen als Nachfolger dieser Werkserie denkbar?

Ich fände es toll, das mit anderen Künstlerinnen und Künstlern zusammen zu machen, die eine eigene Motivation haben, sich mit den Vierteln im Westen auseinanderzusetzen. Mich interessiert das Spannungsfeld von Systemwechsel und unserer Positionierung heute. Es gibt schon Archivdialoge #2, dabei geht es um Staatsbürger und systemstabilisierende Faktoren, ohne die großen Bereiche wie Stasi oder Parteimitgliedschaft für sich zu beanspruchen. Wir haben zwei Diktaturen erlebt, die gerade im Osten nie richtig aufgearbeitet wurden und diese Auseinandersetzung interessiert mich, das ist eine Motivation für die Arbeiten. Aber ich fände es toll, wenn man eine gemeinsame Arbeit machen könnte, in der man das Thema Großwohnsiedlung und sozialer Wohnungsbau aufgreift.

Ich selbst muss das nicht machen, mein Beitrag wäre diese Arbeit, aber ich fände es großartig, wenn sich ein Diskurs darüber ergeben würde. Es geht dabei auch nicht nur um Architektur, sondern auch um Klassen und bestimmte Erfahrungen und ich glaube, dass sich die Erfahrungen mehr ähneln, als wir denken.

Liebe Wenke, wir danken für dieses Gespräch.

 

Kristina Frick (kf) ist Fotografin, Autorin und Übersetzerin und lebt in Berlin. Sie hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik und Ethnologie in Mainz, Berlin und Edinburgh studiert. 2019 erschien ihr Fotobuch „Ich hab von ihm geträumt und von Affen“. Ausstellungen in Berlin, Istanbul, Potsdam. Mitglied des fotografischen Kolloquiums Kreuzberg.

kristina.frick@gmx.de

 

 

 

 

 

 

 

 

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