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„Uns eint die Liebe zum Buch“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

Mohr Siebeck kann in diesem Jahr seinen 220. Geburtstag feiern, andere Verlage sind Neugründungen aus dem 21. Jahrhundert wie der Katapult Verlag. Unabhängig vom Alter der Verlage haben alle ihre spezifische Geschichte, die den Verlag einzigartig und seine Bücher unverwechselbar macht. Zur Geschichte der Verlage gehört auch die Geschichte weiterer Beteiligter wie diejenige von Herausgebern und Lektoren, ohne die Bücher häufig nicht ihre charakteristische Gestalt erhielten. An die Bedeutung einzelner Bücher für die Naturwissenschaften erinnert Brian Clegg mit der Vorstellung von Büchern, die die Welt veränderten.

Konstantin Ulmer, Man muss sein Herz an etwas hängen, das es verlohnt, Die Geschichte des Aufbau Verlages 1945 – 2020, Aufbau Verlag, geb. mit SU, 384 S., ISBN 978-3-351-03747-5, € 28,00.

„Ein Verlag ist mehr als seine Autoren, mehr als seine Verleger und mehr als seine Mitarbeiter, mehr auch als sie alle zusammen.“ (S. 365) Wie zutreffend diese Einschätzung von Konstantin Ulmer für den Aufbau Verlag ist, zeigt der Literaturwissenschaftler und Verlagshistoriker auf über 350 Seiten in seiner Geschichte eines der bedeutenden belletristischen Verlage, auch als „Suhrkamp der DDR“ bezeichnet. Vielfalt und eine gewisse Widersprüchlichkeit zeichneten die Entwicklungsgeschichte des Verlags von Anfang an aus und am Ende hat der Leser den Eindruck, mehr als einen Verlag kennengelernt zu haben.

Die chronologisch aufgebaute Verlagsgeschichte orientiert sich an Zäsuren im Verlagsgeschehen wie Verleger- oder später Inhaberwechsel: von Walter Janka über Klaus Gysi zu Elmar Faber, später die Ära der Inhaber Bernd Lunkewitz und Matthias Koch. Ausführlich werden prägende Persönlichkeiten auf Verlags- wie auch auf Autorenseite portraitiert. Der oft als „Gründungsvater“ des Verlags titulierte Johannes R. Becher gehört ebenso dazu wie die Autoren Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig oder Hans Fallada, von dem der Titel der Verlagsgeschichte stammt. Mit der ersten Verlagslizenz nach Kriegsende in Deutschland gründeten Klaus Gysi, Heinz Willmann, Kurt Wilhelm und Otto Schiele 1945 den Verlag; Wilhelm und Schiele fungierten als Geschäftsführer. Neben deutschen Klassikern galt ein besonderes Bemühen den remigrierten Schriftstellern, denen „bei den Wiedersehensfeiern oftmals ihre eigenen Bücher in die Hand gedrückt“ wurden (S. 24), eine Geste von unschätzbarem Wert für die jahreslang aus dem deutschen Geistesleben Verbannten. Ein erster großer Erfolg für den Verlag war auch das dokufiktionale Werk Theodor Plieviers Stalingrad, ein weiterer Meilenstein die zwölfbändige Thomas-Mann-Ausgabe (1955). Mit der Verhaftung Walter Jankas und Wolfgang Harichs 1955/1956 erfolgte eine fast traumatische Zäsur für den Verlag und eine tiefgreifende Kursänderung im Programm. Erst spät erfolgte die Rehabilitation von Janka. 1993 erscheinen seine Erinnerungen im Aufbau Verlag. Trotz staatlicher Eingriffe kann Aufbau ein eigenes literarisches Profil entwickeln, Editionssorgfalt und Ausstattung machen die Werke auch im Westen zu gern gesehenen Büchern, so fragt zum Beispiel Siegfried Unseld – ein „gefährlicher Freund“ (S. 135) – bei Aufbau an. Trotzdem bleibt es für Aufbau immer wieder auch ein Ringen um die Stellung als Leitverlag für DDR-Gegenwartsliteratur (S. 113). Wirklich gefährdet war diese Stellung freilich nur selten, in den 1950er Jahren etablierte sich der Mitteldeutsche Verlag, in den 1970er Jahren kurzzeitig der Hinstorff Verlag als ein weiterer führender literarischer Verlag. An die Bedeutung von Aufbau konnten sie freilich nicht heranreichen.

Belastungen ganz anderer Art kommen nach der Wende auf den Verlag zu, als viele Autoren in westdeutsche Verlage abwandern, dort unter Vertrag blieben und Aufbau das Nachsehen hatte. Im Rahmen der Privatisierung investiert Bernd F. Lunkewitz und übernimmt den Verlag. Mit dem Unterhaltungsroman Die Päpstin von Donna W. Cross und den Tagebüchern von Victor Klemperer kann der Verlag wirtschaftliche und programmatische Erfolge verbuchen. Schließlich kommt der traditionsreiche Verlag mit Matthias Koch in ruhigere verlegerische Gewässer: Neue Reihen werden initiiert, editorische Traditionen bewusst gepflegt und Verlage wie Blumenbar hinzugekauft. Das Programm wird weltläufiger und löst damit den frühen Anspruch von Aufbau wieder ein. 2018/2019 stößt der Christoph Links Verlag zur Aufbau Gruppe hinzu.

Der Autor vermittelt in seiner sorgfältig recherchierten, anschaulich bebilderten und sehr gut lesbaren Verlagsgeschichte ein lebendiges Bild der Schwierigkeiten und Beschränkungen im Verlagsalltag der DDR. Was man sich vielleicht gewünscht hätte, wäre eine intensivere Ausein­ andersetzung mit den Entwicklungslinien des Verlags nach der Wende. Während Ulmer die frühe Verlagsgeschichte detailliert behandelt, wird die Zeit nach der Wende, die eigentlich das interessantere Objekt für Analysen und Einordnungen gewesen wäre, häufig eher dokumentiert als analysiert. Insgesamt gelingt Ulmer eine Verlagsgeschichte die neben den bereits erschienen Werken ihren festen Platz in der Aufbauhistorie finden wird, so wie der Autor für den Verlag resümiert: „Hier treffen sich Kunst und Kommerz, Geist und Macht. Aufbau ist ein Verlag mit einer ganz eigenen Geschichte, der dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung seinen Platz gefunden zu haben scheint.“ (S. 365)

 

Anselm Hartinger, Johanna Sänger, Andrea Lorz, Andrea (Hrsg.), „Uns eint die Liebe zum Buch“. Jüdische Verleger in Leipzig (1815-1938). Leipzig: Hentrich und Hentrich Verlag 2021, Klappenbroschur, 164 S., 68 Abb., ISBN 978-3-95565-460-3, € 17,90.

Die Tatsache, dass Leipzig im 19. Jahrhundert die zentrale Stadt des Buch- und Verlagsgewerbes war, ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist, dass Leipzig zu dieser Zeit auch ein „Knotenpunkt jüdischer Geschichte und Kultur“ (S. 16) war. Nicht nur deshalb stellt es ein Verdienst des von Anselm Hartinger, Johanna Sänger und Andrea Lorz herausgegebenen Ausstellungskatalogs dar, einige inzwischen fast unbekannte jüdische Buchhändler und Verleger aus Leipzig vor dem Vergessen zu bewahren. Neben Verlagen wie der bereits im 19. Jahrhundert international renommierten Buchhandlung Gustav Fock oder dem traditionsreichen Leipziger Musikverlag C. F. ­Peters, neben bekannten buchhändlerischen Persönlichkeiten wie Leo Jolowicz oder Kurt Wolff, der jüdische Wurzeln mütterlicherseits hatte, stellt der Band auch Verlage wie den Musikverlag Anton J. Benjamin – wie C. F. Peters bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet – oder die Buchhandlung M. W. Kaufmann dar und macht auf Entwicklungslinien aufmerksam: So stammte der Gründer des schwedischen Bonnierkonzerns, Gerhard Bonnier, als Gutkind Hirschel ursprünglich aus Dresden und Familienmitglieder der Bonniers haben unter anderem in Leipzig gewirkt. Auch in Leipzig waren jüdische Buchhändler als Geschäftspartner akzeptiert, aber von vielen buchhändlerischen Aktivitäten ausgeschlossen. Heinrich Brockhaus fasst die Ressentiments seiner Kollegen zusammen: „Es ist wahrhaft lächerlich, jemand den Besuch der Messe zu verbieten, wenn man sich doch nicht scheut, mit ihm in Rechnung zu stehen!“ (S. 17). Welche Bedeutung Bücher umgekehrt für die jüdische Tradition besaßen, zeigt der Satz des Leipziger Rabbiner Felix Goldmann „Denn das Buch ist des Juden Seele.“ (S. 39). Ein Exkurs zu der jüdischen Literatur und Verlagen in der SBZ und DDR – so haben sich vor allem der Aufbau Verlag, der Verlag Volk und Welt und der in Leipzig beheimatete Verlag Philipp Reclam jun. um die jüdische Literatur verdient gemacht – benennt spätere Entwicklungen und rundet das Werk ab. Die teilweise aufwändig recherchierten Beiträge bieten nicht nur spannend zu lesende Verlags-, sondern auch beeindruckende Lebensgeschichten jüdischer Verleger aus Leipzig.

 

Heidi Specker, Henning Ziebritzki, Mohr Siebeck Verlag für die Wissenschaften. Walther König, 2020, Hardcover, 96 S., ISBN 978-3-96098-797-0, € 38,00.

Work in Progress nennt der Verlag sein Projekt, den Umzug der Verlagsauslieferung und des Lagers fotografisch festzuhalten. Heidi Specker, Professorin für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, hat Motive des Verlagsgeschehens eingefangen und daraus Bilder komponiert, die den gewohnten Alltag in Verlag und Auslieferung aus einer ungewohnten Perspektive zeigen. Bücher und Kabel stehen dabei sinnbildlich für zwei wesentliche Elemente der Verlagsarbeit. Sie bilden auf den Fotografien von Specker nie einen Gegensatz, sondern erscheinen eher wie eine Symbiose im Verlagsalltag. „Den Fotografien, die Spuren vergangener Arbeitsweisen festhalten, wohnt die anrührende Kraft inne, uns gegen jede Endgültigkeitserwartung, die mit technischen Neuerungen einhergeht, skeptisch zu immunisieren.“ (S. 52) resümiert Henning Ziebritzki, Geschäftsführer von Mohr Siebeck, in seinem Essay zum Bildband. Für den Verlagspraktiker und Buchhistoriker bedeuten Bilder wie diejenigen aus dem Verlag Mohr Siebeck immer auch einen Blick auf eine bedrohte, vielleicht schon untergegangene Welt der klassischen Buchauslieferungslager, die selten so feinfühlig in Bildern eingefangen wird. Insofern stellt der Fotoband des Verlags Mohr Siebeck in vielerlei Hinsicht eine kleine sehr lesens- und betrachtenswerte Rarität dar.

 

Jan Röhnert (Hrsg.), Avantgarde Intermedial. Theorie und Praxis des Künstlerbuchs. Harrassowitz, 2021, Paperback, VI, 212 S., 64 Abb., 2 Tafeln, ISBN 978-3-447-11556-8, € 48,00.

Mit seinem Doppelcharakter als Kunstobjekt einerseits und als klassisches Buchmedium andererseits bildet das Künstlerbuch ein lohnendes interdisziplinäres wie intermediales Forschungsfeld. Entsprechend vereint der anlässlich eines Kolloquiums an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel entstandene Sammelband Beiträge zum Künstlerbuch als Forschungs- und Sammelobjekt, häufig mit Fokus auf die Wolfenbütteler Sammlungen inklusive zahlreicher Beispiele, sowie zur Praxis des Künstlerbuches „Material und Poiesis“. Dabei unterliegt der Forschungsgegenstand als Kunst- und Buchobjekt einem stetigen Wandel, das Künstlerbuch untersteht „einem sich ständig neu justierenden, flexibel auf sozialpolitische Wandlungen reagierenden Kunstbegriff“ (S. 39). Wie vielfältig der Forschungsbereich und die Anwendungspraxis des Künstlerbuches ist, zeigt der von Jan Röhnert herausgegebene Band, der nicht nur eine Einführung wie eine Standortbestimmung darstellt. Interessant ist auch der Entstehungsprozess von Künstlerbüchern, den Thorsten Baensch vom Verlag Bartleby & Co. anhand von fünf Beispielen beschreibt. Zu erwähnen sind zudem die zahlreichen Abbildungen von Werken, die zusätzlich einen lebhaften Einblick in die Welt der Künstlerbücher vermitteln. Der Band schließt mit zehn bisher unveröffentlichten Gedichten von Christoph Meckel.

 

Brian Clegg, Susanne Schmidt-Wussow (Übersetzung), Bücher, die die Welt veränderten. Die bedeutendsten Werke der Naturwissenschaften von Archimedes bis Stephen Hawking. Bern: Haupt 2020, ISBN 978-3-258-08199-1, € 36,00.

„Schreiben überwindet Zeit und Raum. Und genau das ist seine Bedeutung: Es macht Wissenschaft erst möglich.“ (S. 6). Welche Distanzen Bücher überwinden und dem Erkenntnisfortschrift dienen können, zeigt der bekannte britische Wissenschaftsjournalist Brian Clegg in seiner Darstellung der wichtigsten naturwissenschaftlichen Werke der Geschichte. Dabei wird auch ein Stück Naturwissenschaftsgeschichte anhand der wichtigsten Publikationen geschrieben. Zeitlich wird der Bogen weit gespannt: von den mesopotamischen Tontafeln 4.000 v. Chr. bis zum EBook-Reader, der auf das Erscheinungsjahr 2004 datiert wird. Im 19. Jahrhundert fand eine Professionalisierung in den Wissenschaften – und auch in der Wissenschaftskommunikation – statt. Vorgestellt werden unter anderem Henry Gray Anatomy (1858), Charles Darwin On the Origin of Species (1859), Gregor Mendel Versuche über Pflanzenhybriden (1866) – erschienen in den Verhandlungen des naturforschenden Vereines in Brünn und zunächst wenig beachtet –, Marie Curie Traité de Radioactivité (1910), Albert Einstein Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (1917), um nur einige herausragende Werke zu nennen. Manche Werke wie Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1899–1904) standen dabei durchaus an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft (S. 178). Der opulent ausgestattete und reichhaltig bebilderte Band zeigt wichtige Werke mit Titel und Beispielseiten der Originalausgaben. Damit erinnert er nicht nur an die Verzahnung von technischen Innovationen und entsprechenden Veröffentlichungsmöglichkeiten, sondern auch an die Verdienste der Werke und ihrer Autoren für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt.

 

Anke Jaspers, Andreas B. Kilcher (Hrsg.), Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2020, geb. m. SU, 390 S., 59, z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-8353-3667-4, € 29,90.

„Einlagen, Randbemerkungen, An- und Unterstreichungen, selbst Eselsohren und andere physische Gebrauchsspuren lassen Schlussfolgerungen über die Lektüre- und Schreibpraxis von Autorinnen und Autoren zu und können Auskunft darüber geben, mit welcher Intensität, mit welchen Interessen und unter welchen intellektuellen Voraussetzungen und Implikationen Werke gelesen wurden.“ (S. 8) Der von Anke Jaspers, Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Universität Graz, und Andreas B. Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, herausgegebene Band versammelt Beiträge zu Autorenbibliotheken an der Schnittstelle zwischen Bibliotheks- und Literaturwissenschaft und unterstreicht die Bedeutung des Zusammenspiels von Archiv, Bibliothek und Wissenschaft. Der Sammelband entstand aus einem Forschungsprojekt zu Thomas Manns Nachlassbibliothek an der ETH Zürich im Kontext eines Digitalisierungsprojektes, insofern ist nicht verwunderlich, dass sich vier der vierzehn Beiträge dieser Bibliothek widmen. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Bibliotheken Theodor Fontanes, Friedrich Nietzsches, Christa Wolfs und Stefan Zweigs. Im theoretischen Teil des Bandes werden Themen wie „Lesespuren als Inskriptionen“ (Uwe Wirth) oder „Border Lines – Zeichen am Rande des Sinnzusammenhangs“ (Magnus Wieland) behandelt. In der Rubrik Praxeologie wird unter anderem auf die Autorschaftsinszenierung in der Nachlassbibliothek von „(Frau) Thomas Manns Bibliothek“ (Anke Jaspers), die Visualisierung von Lese- und Gebrauchsspuren in Fontanes Bibliothek „Fontane als Leser“ (Anna Busch) oder „Christa Wolf auf den Spuren des Exilanten Thomas Mann“ (Birgit Dahlke) eingegangen. Der dritte Teil des Sammelbandes befasst sich mit der Poetologie und enthält Beiträge wie „Bücher aus Büchern“ über bibliothekarisches Schreiben in Thomas Manns Josephsroman (Andreas B. Kilcher). Entstanden sind die Forschungen und Reflexionen häufig im Rahmen von Erschließungs- und Digitalisierungsprojekten. Der ansprechend gestaltete und angemessen bebilderte Sammelband beleuchtet die Chancen und Möglichkeiten der Recherche in Autorenbibliotheken, setzt sich aber auch kritisch mit den Grenzen und Einschränkungen dieses Forschungsfeldes auseinander.

 

Ines Barner, Von anderer Hand. Praktiken des Schreibens zwischen Autor und Lektor. Göttingen: Wallstein 2021, Hardcover, 373 S., 10 z.T. farb. Abb., geb. m. SU, ISBN 978-3-8353-3753-4, € 39,00.

„Je weniger die Handschrift des Lektors zutage tritt, desto erfolgreicher seine Praxis.“ (S. 12) Der Lektor als der „unsichtbare Zweite“ – so der Titel der wegweisenden Studie von Ute Schneider aus dem Jahr 2005 – ist das prominenteste Beispiel für Verlagsmitarbeiter, die an der Entstehung eines Werkes wesentlich beteiligt sind, mit ihren Tätigkeiten in der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen werden. Die Literaturwissenschaftlerin Ines Barner zeigt in ihrer Arbeit über die „Praktiken des Schreibens zwischen Autor und Lektor“ anhand von vier quellenbasierten Fallstudien wie vielgestaltig sich die Aufgaben des Lektorats entwickeln können und wie sich das Tätigkeitsspektrum des Lektors und das Verhältnis zwischen Autor und Lektorat im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat. Der Fokus ihrer Studie liegt auf dem „Beziehungsgeflecht von Autor, Lektorin und Manuskript in ihrer Wechselwirkung“ und den „scheinbar peripheren Gesten des Umschreibens“ (S. 14, 17) jeweils an einem spezifischen Autorentext. Zeitlich umfassend und spannungsreich ist die Mischung der dargestellten Lektor-Autor-Beziehungen von Robert Walsers Geschwister Tanner (1907) über Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien (1923) und Peter Handkes Langsame Heimkehr (1979) bis hin zu Marcel Beyers Flughunde (1995). Dabei werden verschiedene Aspekte umfassend erläutert wie Veränderungen der Manuskripttextmaterialität, also Veränderungen im Umgang mit handschriftlichen oder maschinengeschriebenen Autorentexten; die Autorin ­ kommt zu dem Schluss, „dass handschriftlich verfasste Manuskripte andere Modi der Rezeption und Revision zu begünstigen scheinen“ (S. 318). Am Ende des 20. Jahrhunderts stehen eher die Lesbarkeitsdebatte und Gesichtspunkte der Vermarktung des Werkes im Vordergrund. Barner sieht den Lektor in einer „Zwischenrolle als am Privatgebiet des Schreibens partizipierender, das Entstehende prozessual begleitender und mitformender Intimus des Schriftstellers auf der einen, als professionelle, finalisierende, die Werkförmigkeit, Öffentlichkeit und Rezeption des Textes antizipierende Instanz auf der anderen Seite“ (S. 316) und konstatiert einen „deutlich selbstverständlicheren, vielleicht kooperativeren Umgang mit lektorierender Mit- und Zuarbeit“ (S. 320). Das Werk setzt sich nicht nur intensiv mit den Fallstudien auseinander, sondern zeigt implizit immer auch die Entwicklung und das Anforderungsprofil des Lektorats im Laufe des 20. Jahrhunderts.

 

Erika Thomalla, Anwälte des Autors, Zur Geschichte der Herausgeberschaft im 18. und 19. Jahrhundert, Wallstein November 2020, 518 S., 25 Abb., geb. m. SU, ISBN 978-3-8353-3808-1, € 59,90.

Was heute an der Funktion und Rolle des Herausgebers selbstverständlich scheint, war im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder Gegenstand von Kontroversen. Die Literaturwissenschaftlerin Erika Thomalla untersucht die Geschichte der Herausgeberschaft über 200 Jahre vom frühen 18. bis zum späten 19. Jahrhundert. In der Regel stand die Herausgeberschaft einem doppelten Anspruch der „Professionalisierung und Popularisierung“ (S. 367) gegenüber. Bekannte Herausgeber waren neben Gottsched auch Lessing, Schlegel, Wieland oder Tieck. Mit dem Entstehen eines kommerzielleren Buchmarkts im 18. Jahrhundert wurde „das Konzept einer natürlichen Autorschaft, die gegen jedes ökonomische Kalkül gerichtet war […] zum dichterischen Leitbild“ (S. 175). Viele Manuskripte wurden anonym oder vermittelt durch Herausgeber veröffentlicht. So erschien der Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie von La Roche 1771 anonym. Umstritten waren Bearbeitungen durch Herausgeber auch bei Volksliedsammlungen wie bei Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano (1805/1806). Vor allem die „Vermengung von wissenschaftlichen und populären Editionspraktiken“ (S. 281) hielten viele Herausgeber wie beispielsweise die Brüder Grimm nicht für angemessen. Allmählich setzte sich ein autorschaftliches Selbstverständnis durch, wonach nur dem Verfasser selbst Änderungen an dem von ihm verfassten Text zustanden oder er diese zumindest genehmigen musste. Es bildeten sich zunehmend allgemeine Richtlinien für eine Herausgebertätigkeit ab, die Funktionen des Herausgebers wurden eindeutiger von denjenigen des Autors selbst differenziert: weder „zweiter Schöpfer“ noch „Verbesserer“. Im Gegenteil, das „Verhältnis des neuen Herausgebertyps zum Text und seinem Autor war ein positives, emphatisches und protektives.“ (S. 293). Dabei konnten Herausgeber, die noch im 19. Jahr­hundert keinen rechtlichen Anspruch auf die gedruckten Ergebnisse ihrer Arbeit hatten, selbstverständlich eigene Interessen verfolgen, ihre Editionen als kulturpolitisches Kapital nutzen und die Rezeption der von ihnen herausgegebenen Werke beeinflussen. Thomalla stellt die Geschichte der Herausgeberschaft anhand ausgewählter Fallbeispiele detailreich dar und arbeitet Entwicklungslinien heraus. Sie legt eine anschauliche Historie der vielfältigen Kontroversen um Editionen und Herausgeberschaft vor, die gut lesbar ist und viele über die Geschichte der Herausgeberschaft hinausgehende Facetten beinhaltet.

 

Joseph Melzer, Ich habe neun Leben gelebt. Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert. Frankfurt/ Main: Westend 2021, 336 S., Hardcover m. SU, ISBN 9-783-8648-9306-3, € 24.00.

„Er wollte in erster Linie die unterdrückten, verbrannten und aus dem deutschen Buchhandel entfernten Bücher jüdischer Autoren wieder zum Leben erwecken“ (S. 334). Dies schreibt Abraham Melzer in einem Epilog über seinen Vater. Und wer die Lebenserinnerungen des Buchhändlers, Antiquars und Verlegers Joseph Melzer gelesen hat, versteht die Bedeutung dieses Satzes. 1908 in Galizien geboren, kam er 1918 nach Berlin und floh als Jude 1933 nach Palästina. Dort eröffnete er erfolgreich seine erste Buchhandlung, die allerdings rasch wieder aufgab, da er 1936 nach Paris zog. Auch dort handelte er mit Büchern, vor allem mit hebräischen Werken. Nach dem Krieg übernahm er die Verlagsfiliale von Am Oved in Haifa. Auch als er mit seiner Familie 1958 nach Deutschland zurückkehrte, besuchte er sofort wieder die Buchmessen und kam über die Herausgabe der Schriften Martin Bubers auch zu einem eigenen Verlag. Das Verlagsgeschäft gestaltete sich schwierig. Wirtschaftlicher Erfolg stellte sich ein, als Jörg Schröder, der spätere Verleger des März Verlags, bei Joseph Melzer anheuerte und man vor allem die Geschichte der O von Pauline Réage absetzte. Der Streit und Bruch zwischen Melzer und Schröder bzw. seinen Mitarbeitern ist vielfach beschrieben, Joseph Melzer fügt dem in seinen Erinnerungen weitere Facetten hinzu. Nachdem die Mitarbeiter den Verlag verlassen hatten, trat sein Sohn Abraham in den Verlag ein und gemeinsam wurden die Verlagsgeschäfte wieder konsolidiert. Als Abraham Melzer seinen eigenen Verlag gründete, wurde Joseph Melzer wieder Antiquar. Die Lebenserinnerungen Melzers beschreiben ausführlich „ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert“, breiten Raum nehmen auch die Schilderungen von Verhaftungen und Flucht durch Europa ein.

 

Benjamin Fredrich, Andrea Köster (Ill.), Die Redaktion (Roman über die Entstehung von KATAPULT). Greifswald: KATAPULT Verlag 2020, 248 S., Hardcover m. SU, ISBN 978-3-9489-2303-7, € 18,00.

„Welche krummen Angebote aus der Verlagswelt haben wir schon alle bekommen und welche Kackfirmen gibt es neben Hoffmann und Campe noch?“ fragt die Rückseite des als Roman bezeichneten Erfahrungsberichts über die Gründungsgeschichte des Katapult-Magazins von Benjamin Fredrich. Wer zum fünften Geburtstag seines Unternehmens so auftrumpft – Hoffmann und Campe blickt immerhin auf stolze 240 Jahre zurück, Julius Campe war kein geringerer als der Verleger von Heinrich Heine – sollte in seiner eigenen Geschichte einiges zu bieten haben. Und so wartet Fredrich mit einer über 245 Seiten kurzweilig erzählten Geschichte auf, welche die üblichen Höhen und Tiefen einer Magazingründung lebendig und immer auch ein wenig selbstironisch beschreibt. Neben wirtschaftlichen Problemen, Unverständnis bei Banken und Quartiersuche sind dies wechselvolle Mitstreiter- und später Mitarbeiterkonstellationen, aber auch erste Anerkennungen als neues Magazin. Berichte in den Medien sorgen für über 500 neue Abonnenten und für eine größere Reichweite und die wirtschaftliche Stabilisierung des Magazins. Fredrichs „Roman“ ist erfrischend zu lesen und beeindruckt durch die Offenheit, mit welcher der Autor seine Magazingründung, Rückschläge und Erfolge reflektiert. (uh)

Dr. Ulrike Henschel ist Juristin, Geschäftsführerin des Kommunal- und Schul-Verlags in der Verlagsgruppe C.H.Beck und korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Über die Entwicklung des juristischen Verlagswesens hat sie am Buchwissenschaftlichen Institut in Mainz promoviert.

Ulrike.Henschel@kommunalpraxis.de

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