Sozialwissenschaften

Über die Herkunft aus einem nicht-akademischen Elternhaus

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2020

 

Julia Reuter / Markus Gamper / Christina Möller und Frerk Blome (Hg.), Vom Arbeiterkind zur Professur.  Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen, Bielefeld: transcript Verlag 2020, 434 S., ISBN 978-3-8376-4778-5, € 28,00

Ungleichheit, sei sie sozial, kulturell, politisch, religiös oder wie auch immer definiert, war und ist auch in der Historiographie ein stets aktuelles Thema. Die Verlagsankündigung des Buches rief meine Neugier hervor, denn als Aufsteiger aus einem „nicht-akademischen Elternhaus“ zum Universitätsprofessor hoffte ich auch auf „persönliche“ Erkenntnisse. Doch schon der Titel ist großenteils irreführend, denn „Arbeiterkinder“ kommen kaum vor, stattdessen ist der kleinste gemeinsame Nenner die genannte Herkunft aus „nicht-akademischen“ Verhältnissen. Das Buch ist, grob formuliert, in fünf Teile gegliedert: eine lange Einleitung, eine „sozialwissenschaftliche Rahmung“, 19 autobiographische Texte, „soziobiographische Kommentierungen“ sowie einen „Dialog“ unter der geistreichen Überschrift „Auch der Homo academicus hat eine Herkunft“. Wer hätte das gedacht?

Was mir bei der Lektüre der 19 autobiographischen Texte sofort auffiel, ist der Tatbestand, dass einige meines Erachtens wichtige Sozialisationsinstanzen und Verhaltensmuster kaum erwähnt werden. Mein „klassisches Jungen-gymnasium“ der 1960er Jahre war eine nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewertete Oberrealschule, die auf der „Grünen Wiese“ einen Neubau und einen neuen Namen, Geschwister-Scholl-Gymnasium, bekam. Deren Angehörige, Lehrer und Schüler, sollten sich dem Geist der Namensgeber verpflichtet fühlen. Nach der Aufhebung des Schulgeldes am Ende der 1950er Jahre war die Schülerschaft recht heterogen, neben ein paar Söhnen von Juristen und Medizinern bzw. anderen Angehörigen der oberen Mittel- oder der Oberschicht kam die große Mehrheit meiner Mitschüler aus den Mittelschichten und der oberen Unterschicht: Lokomotivführer, Handwerker mit eigenem Betrieb, Angestellte, Beamte oder kleinere und mittlere Gewerbetreibende. Wichtig war bei den Mitschülern zunächst, so erinnere ich mich, nicht die Herkunft, sondern Fußball und Fernsehen. Spielte man Fußball, und wenn ja wie gut, kannte man die Spieler der heimischen Fortuna und der Nationalmannschaft, hatte man einen Fernseher und was durfte man gucken? Spätestens ab 1964/65 wurde das erweitert zu der Frage, welche Musik man hörte: Beatles, Rolling Stones, kannte man auch die Kinks, die Doors etc. oder hörte man etwa deutsche

Schlager? Da spielte der Teppich im Wohnzimmer (S. 352) überhaupt keine Rolle. Wer am Samstag ab 15.30 Uhr im Stehplatzbereich des Düsseldorfer Rheinstadions beim Fußballspiel dabei war, war „IN“, ebenso diejenigen, die ein Rockkonzert in der alten Tonhalle, damals Rheinhalle genannt, besuchen durften oder konnten. Ja, selbstverständlich spielten die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten eine Rolle, aber sie waren nicht entscheidend. Das galt auch später während des Studiums. Man duzte sich, hatte längere Haare, trug die „Studenten/innen-Uniform“: Jeans oder Cordhose und Pullover, dazu Sandalen. Fertig! Ging man ins „Café Voltaire“, auch als „Café Kaputt“ bekannt, wo sich die philosophische Linke traf, verkehrte man in den „richtigen“ Kneipen in der Düsseldorfer Altstadt? Da brauchte man auch kein Rotweinglas richtig zu halten (S. 352 und 355, offensichtlich ein Trauma des Vf.s), denn da trank man Altbier. Dass diese klischeehafte Unterscheidung von Weintrinkern aus den höheren Schichten und Biertrinkern aus dem „Proletariat“ immer noch als relevantes Unterscheidungskriterium gebraucht wird, finde ich eher belustigend. Eine solche Sicht begrün-det eine neue, diesmal selbstinszenierte Ungleichheit. Ich war und bin in den Kategorien dieser Untersuchung ein arrivierter Bildungsaufsteiger ohne „nennenswerte Akkulturationsprobleme“ und ohne eine „Herkunftsscham“ oder eine „Heimkehrscham“, was immer das denn sein mag. Von den 19 autobiographischen Beiträgen stammen 12 von Männern und 7 von Frauen aus den Jahrgängen zwischen 1941 und 1983, darunter nur ein Mediziner, drei Juristen/innen, zwei Mathematiker, dazu mehrere Geisteswissenschaftler/innen und Professoren/innen aus Fächern der angewandten Wissenschaften. Das ergibt einen hübschen Flickenteppich, aber leider auch nicht mehr, denn der kategoriale Rahmen der „nicht-akademischen Herkunft“ führt zu einer Heterogenität, die kaum irgendwelche Schlüsse zulässt. Der Kommentator Michael Hartmann nennt das „eine derart bunte Mischung von individuellen Berichten“. Die nichtakademische Herkunft ist kein Kriterium für eine Klasse, ein Milieu oder eine Sozialschicht, allenfalls für eine soziale Gruppe, sozial so heterogen wie  nur  möglich. Aufschlussreich und zugleich unverständlich ist es, dass zwei der bekanntesten „sozialen Aufsteiger“ in die akademische Welt keine Erwähnung finden. Weder der Ökonom Hans-Werner Sinn, dessen Vater Taxifahrer war, noch der Jurist Udo Di Fabio, zugleich mit „Migrationshintergrund“, werden genannt.

Erstaunlich finde ich manche kategorialen und kategorischen Aussagen. So stellt Zoe Clark, Jg. 1983, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen, fest, wir lebten „in einer kapitalistischen, von Ausbeutung geprägten Klassengesellschaft“ (S. 154) und rechnet sich am Ende ihrer Notizen teils dem „Lumpenproletariat“ oder dem „Kleinbürgertum“ zu. Julia Reuter (S. 111, 113 und 115) spricht von „Klassenunterschieden“, „Klassengrenzen“ und „Klassengeschichte“ sowie vom „Herkunftsmilieu“? Was nun, so frage ich: Klasse oder Milieu oder geht auch beides? Keiner der Begriffe wird auch nur annähernd definiert oder operationalisiert. Beim Begriff „Klassen-gesellschaft“ finde ich immer noch den Verweis auf Karl Marx‘ Kapital, 3. Band, S. 892 f., in den sattsam bekannten blauen Bänden (= Marx/Engels Werke, DDR-Ausgabe, nicht in der offiziellen Zählung), die man aus Anhänglichkeit an die eigene Geschichte immer noch verfügbar hat, angebracht. Das 52. Kapitel über „Die Klassen“ endet nach knapp eineinhalb Druckseiten, nachdem Marx die „unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen“, die Arbeiter wie Kapitalisten spaltet, konstatiert hat. Worauf dann die marxistisch orientierte Wissenschaft ihren Klassenbegriff gegründet hat, ist mir stets ein Rätsel geblieben, wenn es denn der Meister selbst nicht wusste. Auch woraus das Lumpenproletariat bestand, der Begriff stammt übrigens von Marx, hat er fein säuberlich aufgelistet. Er orientierte sich dabei am damaligen Verständnis des französischen Begriffs „la bohème“. Das reichte von entlaufenen Galeerensklaven über Scherenschleifer und Lumpensammler bis zu Zuhältern; eine in der Tat flexible Begrifflichkeit, aus der man sich nach Belieben bedienen kann (MEW, Bd. 8, S. 160 f.), für die akademische Welt taugt allerdings keine Bezeichnung. Und wenn man genauer hinschaut, dann hilft auch der weitaus am häufigsten zitierte französische Soziologe Pierre Bourdieu, auch ein „sozialer Aufsteiger“, nicht wirklich weiter. Mit dessen „Habitus“ haben mehrere der Autoren/innen so ihre Probleme und Bourdieu selbst wohl auch. Neuere soziologische Konzepte und Theorien, wie sie die systemtheoretische Soziologie, etwa Rudolf Stichweh, mit dem Konzept von Inklusion und Exklusion in eine Vielzahl von Sozialsystemen vertritt, werden nicht einmal erwähnt. Bisweilen habe ich mich über die immer noch bestehenden Ressentiments der „Aufsteiger“ gegenüber den „Etablierten“ gewundert. Mir waren die sozialen Unterschiede völlig egal. Sie bestanden schlicht und ergreifend, und ich konnte sie nicht aus der Welt schaffen. Sie waren aber auch meinen akademischen Lehrern egal, die übrigens alle drei aus „angesehenen Familien“ mit langer Tradition in Wissenschaft und/oder Wirtschaft kamen. Keiner von ihnen hat sich für meine Herkunft interessiert, sondern für meine wissenschaftlichen Leistungen. Dabei ist die Herkunft sicherlich kein Tabu, aber nach welchen Kriterien soll man sie denn berücksichtigen. Bekommen Aufsteiger nun heutzutage fünf Credit Points mehr? Dürfen sie mehr orthographische und Zeichensetzungsfehler in ihren DFGAnträgen machen?

Es gäbe noch viel zu sagen und zu schreiben über dieses Buch, aber das würde dann, wie man so sagt, zu weit führen. Abschließend noch einige Bemerkungen. Als Erb-senzähler kann ich es nicht unterlassen, auf die falsche Schreibweise des ehemaligen Spielers von Eintracht Frankfurt István Sztáni, nicht Iztvan Sztani, zu verweisen (S. 301). Ein „Plümo“ (Oberbett), das Sabine Hark im Moselfränkischen – dort mit doppeltem „n“ geschrieben – verortet, kennt auch jeder Rheinländer und die Wiener auch.

Bei den Rheinländern kann man die Übernahme als Lehnwort aus dem Französischen „plumeau“ noch erklären, bei den Wienern wird’s schwieriger. Bleibt die Frage, ob man nicht zunächst, weil ein Oberbett eher ungebräuchlich war, das Lehnwort „eingedeutscht“ und erst danach eine Übersetzung gefunden hat. Das im Buch angewandte Konzept trägt nicht sehr weit, weil „Arbeiterkind“ keine „eindeutige Kategorie“, sondern, wie auch die Herausgeber/innen einräumen, „eine Konstruktion“ ist (S. 40), worauf übrigens schon Gerald Wagner in der Besprechung eines Aufsatzes der Mitherausgeberin Christina Möller in der FAZ vom 4. Juni 2014 hingewiesen hat. Mehr als problematisch ist der Verweis darauf, dass soziale Aufsteiger von den „Oberschichten“ häufiger als „Maskottchen oder Symbole“ benutzt würden. Vielleicht hätten die Herausgeber/innen dazu einmal Hans-Werner Sinn oder Udo Di Fabio fragen sollen. Ziel dieser Studie ist es jedoch, implizit und explizit „wachsende soziale Ungleichheiten“, von denen auch der französische Star-Ökonom Thomas Piketty andauernd redet, nachzuweisen, dazu scheint offensichtlich jedes Mittel recht. (dd)

Prof. em. Dr. Dittmar Dahlmann (dd), von 1996 bis 2015 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, hat folgende Forschungsschwerpunkte: Russische ­Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts- und Sportgeschichte sowie Migration.

ddahlman@gmx.de

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