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Über die Freiheit: Harriet Taylor Mill offenbar Mitautorin

Über die Freiheit von 1859 ist eines der einflussreichsten Werke der Philosophiegeschichte. John Stuart Mill hat es mehrfach als Gemeinschaftsarbeit mit seiner Ehefrau bezeichnet. Gleichwohl wird es immer noch als sein alleiniges Werk im Kanon geführt. Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) kommen in einer computergestützten Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Abhandlung mit hoher Sicherheit nicht allein von ihm verfasst wurde. Lange Passagen wurden teils von Harriet Taylor Mill, teils von beiden gemeinsam getextet. Die Forschenden berichten in der Fachzeitschrift Utilitas. (DOI: 10.1017/S0953820821000339)

„Wie bei allem, was ich seit vielen Jahren geschrieben habe, kommt die Autorschaft ihr ebenso zu wie mir“, schrieb der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill – in der Übersetzung von Dr. Angela Marciniak – in der Widmung des Werks an seine im Jahr vor der Drucklegung verstorbene Frau. Gleichwohl entschied er sich, Harriet Taylor Mill nicht als Mitverfasserin auf dem Titel zu nennen. Eine Forschungsgruppe am Institut für Technikzukünfte (ITZ) – Department für Philosophie des KIT ist mit digitaler Stilometrie der Frage nachgegangen, welchen Anteil die Autorin und frühe Frauenrechtlerin an dem Text hat. Statistische Methoden ermöglichen es dabei, umfangreiche Textmengen hinsichtlich des Sprachstils computergestützt zu erschließen. Auch wenn die Untersuchung keinen vollständigen Nachweis liefere, sei das Ergebnis hinreichend substanziell, um die Mitautorschaft von Harriet Taylor Mill an Über die Freiheit zu begründen, so die Forschenden. „Wir können mit hoher Sicherheit sagen, dass es einen anderen Stil gibt als den von John Stuart Mill“, sagt Professor Michael Schefczyk vom ITZ.

Mit digitaler Textanalyse wurde am KIT der Beitrag von Harriet Taylor Mill an Über die Freiheit analysiert (hier in rot). Der wahrscheinlichste Autor wird in den sechs Diagrammen jeweils im unteren Teil gezeigt, der zweitwahrscheinlichste oben. Obwohl sich die Ergebnisse in Abhängigkeit der zugrunde liegenden Modelle unterscheiden, zeigen sie gerade im dritten Kapitel übereinstimmend an, dass einige Passagen dem Schreibstil von Harriet Taylor Mill entsprechen. 
Grafik: ITZ, KIT
Computergestützte Analyse: Rund 270 Bücher und Artikel von Harriet Taylor und John Stuart Mill haben die Forschenden des KIT hinsichtlich des Sprachstils erschlossen.
Foto: Amadeus Bramsiepe, KIT

Digitale Stilometrie: Künstliche Intelligenz legt charakteristische Sprachmuster offen

Rund 270 Bücher und Artikel, die entweder von einer der beiden Personen oder vom Ehepaar Mill gemeinsam verfasst wurden, hat das Forschungsteam als Vergleichsgrundlage mit Methoden Künstlicher Intelligenz (KI) durchsucht. Durch Maschinelles Lernen wurde auf Grundlage der Häufigkeit einzelner Wörter in den Texten ein für die jeweilige Person, beziehungsweise das Schreibduo, charakteristisches Sprachmuster extrahiert. Im Fokus waren dabei unbewusst gewählte Funktionswörter wie „und“, „oder“ sowie Zeichenfolgen und Satzzeichen. Anhand dieser „stilistischen Gesichtserkennung“ des Textes, so Schefczyk, lasse sich am dritten Kapitel von Über die Freiheit am deutlichsten ein anderer Autor als John Stuart Mill erkennen. Dieses Kapitel scheine fast vollständig von Harriet Taylor Mill zu stammen. „Auch inhaltlich ist dies plausibel, das Kapitel handelt von der individuellen Selbstentwicklung und davon, wie wichtig es ist, das eigene Potenzial zu entfalten – ein Thema, von dem wir wissen, dass es Harriet Taylor Mill besonders wichtig war“, sagt Dr. Christoph Schmidt-Petri, Philosoph und Mill-Forscher am KIT. „Unsere Untersuchung ist von mehr als akademischem Interesse, vielmehr geht es um die Frage: Ist eine Frau Mitautorin eines der einflussreichsten Bücher des philosophischen Kanons?“, betont Schefczyk. „Über die Freiheit hat das Rechtsdenken und die politische Kultur in liberalen Gesellschaften zutiefst geprägt“, sagt er. Im Sinne der historischen Korrektheit schlägt die Forschungsgruppe vor, bei künftigen Veröffentlichungen des Textes beide Namen auf dem Titelblatt zu nennen, um deutlich zu machen, dass das Werk eine Frau als Mitverfasserin hat.

Digital Humanities: Zunehmende Bedeutung computergestützter Instrumente in den Geisteswissenschaften

„Computergestützte Methoden der Digital Huma­nities – also der Digitalen Geistes­wissenschaften – bieten Arbeitsinstrumente, mit denen sich viele ideen- und sprachgeschichtliche Aussagen wissenschaftlich fundiert überprüfen lassen“, sagt Schmidt-Petri. Ihr Einsatz sei nicht trivial und setze neben fachlicher Kompetenz technisches Verständnis voraus. Mitautorin des Artikels ist die Studentin des Studiengangs Europäische Kultur und Ideengeschichte (EUKLID) am KIT, Lilly Osburg, die mit ihren informations­wissen­schaftlichen Fähigkeiten einen wesentlichen Beitrag zu der Untersuchung geleistet habe. „Die Bedeutung der Digital Humanities für die geistes­wissenschaftliche Grundlagenforschung wird zunehmen“, erwartet der Philosoph. Dies stelle besondere Anforderungen an künftige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre universitäre Ausbildung. (afr)

Originalpublikation:

Christoph Schmidt-Petri, Michael Schefczyk, and Lilly Osburg: Who Authored On Liberty? Stylometric Evidence on Harriet Taylor Mill’s Contribution; Utilitas, 2021. DOI: 10.1017/S0953820821000339

https://doi.org/10.1017/S0953820821000339
www.kit.edu

 

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