Anahita Nasrin Mittertrainer, Museum Fünf Kontinente (Hg.): In trockenen Tüchern. Gewebtes und Besticktes aus dem Osmanischen Reich. 176 S., Bildbandformat, 121 farb. Abb., Deutsch mit der türk. Version des Beitrags von Hülya Bilgi. München. Stuttgart: Museum fünf Kontinente. Arnoldsche 2022. Leinen. ISBN 978-3-89790-676-1. € 38,00.
Beginnen wir mit dem „Mut zur freien Fläche“! Vor uns liegt ein in seiner delikaten Schlichtheit, aber auch seiner Farben- und Formenvielfalt beeindruckender Bildband. Als das osmanische Reich mit der ruhmlosen Flucht des letzten Herrschers aus dem Hause Osman, Sultan Mehmed VI., im Jahre 1922 sein Ende fand, verschwanden damit zugleich mehr als sechs Jahrhunderte türkisch-osmanischer Kunst und Kultur im Strudel der Ereignisse. Die intrikate Mischung aus europäischen, zentralasiatischen, iranischen und nordafrikanischen Elementen hatte sich wie ein reich besticktes, buntes Tuch über die heutigen Nationalstaaten der Türkei, des Balkans, der Ukraine und Südrusslands bis nach Aden im Süden, dem Iran im Osten und Algerien im Westen gelegt und – ähnlich wie im k.u.k. Habsburgerreich – für eine gemeinsame kulturelle Zugehörigkeit gesorgt, ja einen Reichsstil geprägt. Der politische Zerfall und die zunehmende industrielle Konkurrenz machte nun all das obsolet, was bis dahin den Ton am Hof, in der Hauptstadt, den Städten und auf dem flachen Land angegeben hatte, aber es blieben doch – bis heute – auf allen Gebieten beeindruckende materielle Überreste dieses differenzierten und reichen kulturellen Erbes erhalten. Was die Textilkunst jener Zeit zu bieten hatte, ist nun in einem Bildband des Museums Fünf Kontinente in München, zu sehen: mehr als 70 Exponate aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, sowohl aus den Beständen des Hauses als auch aus privaten Sammlungen präsentieren bestickte, genähte und gewobene Textilien aus der Welt des Hofes und der hohen Beamtenschaft der Metropole, aber auch der städtischen und bäuerlichen Bevölkerung Anatoliens. Handtücher, Tischdecken und Servietten aus Leinen oder Baumwolle, oft mit Seide oder Metallfäden verziert, dienten dem Bedarf bei Tisch, in der Badestube oder waren als Wandbehang Repräsentationsobjekte. Dass hier oft Männer am Werk waren – Mitglieder der Weber- und Nähergilden – sieht man den Arbeiten nicht an, wohl aber verrät die feine Qualität der floralen Stickereien, Muster und Architekturzitate, oft vor- und rückseitig mit gleicher Sorgfalt gearbeitet, von einer professionellen, ja meisterlichen Beherrschung des Handwerks, die nur für wenige, wahrhaft „Betuchte“ erschwinglich gewesen sein dürfte. Hier und da erkennt man die Einflüsse des hoch entwickelten französischen Gobelin- und Textilgewerbes. Ganz anders dagegen die ländlichen Stickereien und Weberzeugnisse: hier herrscht das Rustikale, Repetitive und Geometrische vor. Aussteuerwäsche, Spiegelüberhänge gegen den bösen Blick oder der dezente Hinweis auf eine Schwangerschaft – ein Tuch mit Stickereien von gefüllten bauchigen Wasserkannen, das über die Stubentür gehängt wurde – gewähren einen Einblick in versunkene Traditionen. Gut erhaltene Gebrauchsgegenstände aus Metall und Keramik, Horn und Holz lassen die Umgebung erahnen, in der die gezeigten Tuche und Stoffe zur Wirkung kamen, und auch mit den technischen Begriffen wird man nicht alleine gelassen, denen eine eigene Übersicht gewidmet ist.
Wer Freude an Farben, Formen und Textilien hat, findet hier eine wahre Augenweide. Der Preis ist angesichts der Ausstattung und der Druckqualität mehr als angemessen. Nicht zu vergessen: dem Lektorat gebührt ein besonderes Lob für die gelungene Ausstattung des Bandes.
Hadi Seif: The Story of the Tekkieh Moaven, K ermanshah, Iran. 144 S., Bildbandformat, 98 meist farb. Abb., Text auf Englisch. Hardcover, ISBN 978-3-89790-668-6. € 38,00.
Nun zur zweiten Neuerscheinung des Verlages. Südlich von Teheran liegt die Provinzhauptstadt Kermanschah, eine Etappe auf dem Pilgerweg in den Irak, nach Kerbala bei Bagdad, wo Hussein, der Enkel des Propheten Mohammed, im Jahr 680 n. Chr. in einer denkwürdigen Schlacht gegen den omayyadischen Kalifen Yazid den Tod fand. Mit der Niederlage war der Grundstein gelegt für den fatalen Zerfall der muslimischen Gemeinde in Schiiten, die nur Familienmitglieder des Propheten als Kalifen akzeptieren, und Sunniten, die aufgrund des Prinzips der Kalifenwahl auch Familienfremde anerkennen. Angesichts der überwältigenden Übermacht der Sunniten, die 90 Prozent der Muslime stellen und sich als Träger der Orthodoxie verstehen, blieb den Schiiten nur die Rolle der Häretiker, der Verlierer und Opponenten. Einzig im Iran und im Irak stellen sie eine Mehrheit oder üben einen gewissen Einfluss aus, der Rest führt – oft verfolgt und misstrauisch beäugt – ein Leben in der Diaspora. Umso intensiver blüht das religiöse Leben innerhalb der Schia selbst, der „Partei“ Alis.
Zentren der Märtyrerverehrung des Prophetenenkels und seiner Familie sind vor allem die im Titel erwähnten Tekkieh – in Pakistan und Indien heißen sie Imambaras –, weitläufige, reich ausgeschmückte Versammlungsgebäude für die verschiedenen religiösen Feste der Schiiten. Eines davon ist die im Titel genannte Tekkieh des Moaven olMolk, eines wohlhabenden Bürgers von Kermanshah, der sie um 1910 aus eigenen Mitteln im Zentrum der Stadt erbauen und nach ihrer zeitweiligen Zerstörung, nun mit einem überbordenden Fliesenschmuck, neu errichten ließ. Sie gehört damit in die Zeit der späten Qajaren- und frühen Pahlevi-Dynastie, d.h. ins frühe 20. Jahrhundert. Der Stifter, Moaven ol-Molk, starb 1947; nach seinem Tod fiel die Anlage der Verwahrlosung anheim, erst in den 1960er Jahren besann man sich und restaurierte das Ensemble, teilweise unter starken restauratorischen Eingriffen. Es steht heute als Zeugnis der dekorativen Künste unter Denkmalschutz
Ganz in der Nähe von Kermanshah befinden sich aber auch die großartigen Felsreliefs von Taq-e Bostan und Bisotun aus vorislamischer Zeit (6. Jh. v. – 4. Jh. n.Chr.), was auf die zweite Quelle verweist, aus der sich das iranische Selbstverständnis und die Bildwelt der Tekkieh speist: die iranische Geschichte, auf die man – zu Recht – stolz ist. Wer die farbenprächtige, in ihrem Motivreichtum geradezu überquellende Bilderwelt der Kacheln im vorliegenden Band verstehen will, ist gut beraten, sich in beiden Welten – der schiitisch-muslimischen wie der iranischpersischen – tüchtig umzutun; das Glossar am Ende des Bandes gibt dazu zwar einige Hilfestellung, ebenso zwei Land- bzw. Lagekarten, aber vieles bleibt dem Fleiß und der Neugier der Leserschaft überlassen.
Der Band lebt von zwei Elementen: dem Textteil – im Wesentlichen ein Interview aus dem Jahr 1992 mit dem alten Wächter der Anlage, der noch die Entstehungszeit (!) miterlebt hat – und dem Bildteil, der in prachtvollen, farbigen Gesamt- und Detailaufnahmen die Bilderwelt des Komplexes wiedergibt. Der Autor des Buches, Hadi Seif, ein iranischer Kunsthistoriker, entschloss sich erst sehr spät, das ausführliche Interview herauszugeben – gerade noch rechtzeitig, denn er verstarb im Jahr der Neuerscheinung. Seif hatte dem alten Wächter in der Tat so viele Details zur Motivation des Baus, zu den Fliesenmachern, Künstlern und dem Bauherrn entlockt, dass daraus ein lebensvolles Mosaik der Entstehung der Tekkieh entstand – ein Jammer, wäre dieses Wissen verloren gegangen. Von Vollständigkeit in einem wissenschaftlichen Sinn kann bei Text und Bildern freilich nicht die Rede sein: zu lückenhaft sind Darstellung und Bildauswahl, es fehlen Angaben zu Dimensionen, Position im Ensemble oder Deutungen. Dennoch – die großen Linien sind klar erkennbar: die in drei Gebäudekomplexe eingeteilte Anlage, die Männern wie Frauen in der Trauersaison des Monats Muharram, vor allem am Ashurafest, dem Jahrestag der Ermordung Husseins, als Versammlungsort diente und den Pilgern auf ihrem Weg nach Kerbala Aufenthalt gewährte, zeigen Szenen aus der Bibel – Josephslegende und Salomos Hof –, die Schlacht von Kerbala oder Bildzitate der vorislamischen Königsarchitektur und -symbolik – wohl dem, der da geschichts-, bibel-, koran- und legendenfest ist! Keramische Grisailletechnik – „Grauwerk“, das auf Farbe verzichtet und nur mit Schwarz, Weiß und Grau arbeitet – wechselt mit farbig-floralen Schmuckfliesen, die die Wände der Mauern und Decken wie ein überdimensionaler Teppich überziehen. Die mehr als 10000 Fliesen entstanden zumeist vor Ort, die Meister stammten oft aus Shiraz und Teheran. „Volkskunst“? Ja, in einem Umfang, wie wir ihn wohl kaum noch kennen. Und die „Angst vor der leeren Fläche“? Habe es denn überhaupt noch Platz für weitere Fliesen gegeben? Ja, irgendeine freie Stelle habe sich immer noch gefunden, meinte der alte Wächter verschmitzt.
Der Band macht in seiner optischen Ausstattung dem Verlag alle Ehre, ebenso dem (ganz hinten und ganz versteckt genannten) Fotografen. Als breites Einfallstor in eine kulturell doch sehr andersartige Welt lässt sich das Buch freilich nicht bezeichnen – eher einer schmalen Pforte, hinter der sich allerdings ein paradiesisch anmutender Garten aus Bildern und Geschichten öffnet. (tk) •
Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.
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