Biografien

Tagebücher, Briefe, Selbstzeugnisse

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Rahel Levin Varnhagen: Briefwechsel mit Jugendfreundinnen / Hrsg. Barbara Hahn unter Mitarbeit von Birgit Boshold und Friederike Wein. Göttingen: Wallstein Verl., 2021. 1090 S. (Edition Rahel Levin Varnhagen) ISBN 978-3-8353-3955-2. € 98.00

    Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833), geborene Levin, ist eine deutsche Schriftstellerin und Salonnière jüdischer Herkunft, die die Positionen der europäischen Aufklärung vertritt und sich für die jüdische Emanzipation und die Emanzipation der Frauen einsetzt. Sie heiratet 1814 den Diplomaten, Historiker und Publizisten Karl August Varnhagen. In ihren Salons verkehren Menschen unterschiedlicher Stände und Berufe, religiöser oder politischer Orientierung wie die Familie Mendelssohn, Heinrich Heine und Ludwig Börne.

    In der Edition Rahel Levin Varnhagen legt der Wallstein Verlag den Briefwechsel mit Pauline Wiesel (1997), den Briefwechsel mit Ludwig Robert (2001), die Familienbriefe (2009) und Tagebücher und Aufzeichnungen (2019) vor.

    Eine neue Veröffentlichung beinhaltet den Briefwechsel mit Jugendfreundinnen.

    Bereits in jungen Jahren versteht es Rahel, mit gleichaltrigen Frauen, zumeist Jüdinnen, in Kontakt zu bleiben und diese Kontakte über Jahrzehnte zu pflegen. Somit entsteht ein besonderes Netzwerk. Rahel und später auch ihr Ehemann bewahren diese an Rahel gerichteten ­Briefe auf, während die Adressatinnen weniger sorgsam mit den Briefen umgegangen sind. Die Grundlage für diese einmalige Edition sind alle überlieferten Briefe aus ­Rahels Korrespondenzen mit Jugendfreundinnen – 13 Korrespondenzen von 1792 und 1830, das sind 352 Schreiben an Rahel, 63 von ihr verfasst.

    Die Briefe sind Zeugnisse junger Frauen in schwierigen Lebenssituationen, ein Kampf gegen Beschränkungen und Restriktionen, zum Teil beginnend in der Ehe (mehr als ein halbes Dutzend Ehen gehen auseinander), das alles mit dem Ziel einer selbstbestimmten Existenz. Die Edition beginnt ohne Umschweife mit den 13 Korrespondenzen, die im Inhaltsverzeichnis einzeln ausgewiesen werden, 13 Frauen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen – u.a. Brendel Dorothea Veit, Jette Henriette Mendelssohn, Caroline von Humboldt, Karoline von Schlabrendorf und Henriette Herz. Die Brieftexte umfassen 647 Seiten, der Anhang 443 Seiten, u.a. bestehend aus Bemerkungen zur Edition, Karl August Varnhagens Aufzeichnungen über Rahels Jugendfreundinnen, Einleitungen an Anmerkungen zu den einzelnen Konvoluten, einem umfangreichen Nachwort (insbesondere zur Überlieferungsgeschichte der Briefe und zu inhaltlichen Schwerpunkten und ein 55seitiges Register).

    Die Netzwerke tragen lange, auch wenn die Korrespondenz längere Zeit unterbrochen ist. Und dass wir daran teilhaben dürfen, ist das große Verdienst der Herausgeber und des Verlages.

    P.S. Henriette Herz an Rahel Levin Varnhagen im Mai 1816: „Von Berlin, wie Sie es wünschen, kann ich Ihnen wenig sagen was Sie nicht wüßten, es ist immer sublime und platt, u.s.w.“ (S. 650)

     

    … und über allem schwebt Richard. Minna Wagner und Cäcilie Avenarius. Zwei Schwägerinnen im Briefwechsel / Hrsg. Martin Geck. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verl., 2021. 240 S. ISBN 978-3-487-08627-9. € 24.00

      Minna Wagner (1808–1866) geb. Planer ist eine deutsche Schauspielerin. Richard Wagner heiratet sie 1836. Sie leben in Dresden, Zürich und Paris. Wegen seines exzentrischen Lebenswandels und verschiedener Affären kommt es immer wieder zu Spannungen und Zerwürfnissen. An den Folgen einer langen Herzkrankheit stirbt Minna 1866. Cäcilie Avenarius (1815–1893) geb. Geyer, Richard Wagners Halbschwester, ist mit dem Buchhändler Eduard Avenarius verheiratet und lebt in Paris und Leipzig, zur Zeit des hier dokumentierten Briefwechsels in Berlin.

      Der Band enthält ein Vorwort und eine Einführung und den Briefwechsel chronologisch und angemessen erläutert, einen Epilog mit einem Brief der unehelichen Tochter von Minna, Natalie Bilz-Planer, an Cäcilie und einen Anhang mit Anmerkungen, Literatur und Bildnachweis. Es ist der erstmals veröffentlichte Briefwechsel von Cäcilie Avenarius und Minna Wagner in deren letzten Lebensjahren, im Mittelpunkt stehen die Jahre 1859 bis 1866, das ist die Zeit der Vollendung und Uraufführung von „Tristan und Isolde“.

      Es ist „nicht Wunder, dass sich dieser Briefwechsel weitgehend um den Mann dreht, dem sich die Gattin trotz stärkster Verletzungen lebenslang verbunden fühlte, dem auch die Halbschwester im Wesentlichen die Treue hielt – ungeachtet ihres Widerwillens gegen Wagners private Eskapaden und ihrer Sympathie für die leidende Schwägerin.“ (S. 7)

      Aus der Perspektive der beiden feinsinnigen Frauen erfährt der Leser Details über die Vollendung und Uraufführung von „Tristan und Isolde“, über das Gastspiel Richards in Russland, über den Schulden machenden, steckbrieflich gesuchten und Seitensprüngen nie abgeneigten Richard sowie über die Pariser Tannhäuser-Zeit im Winter 1860/1861. Über Richard urteilt Minna am 2.3.1863: „Der Künstler ist groß, der Mensch desto kleiner. Man soll nie versucht sein den ersten von dem letzteren zu trennen.“ (S. 91) Und schwebt Richard nicht über allem, dann handeln die Briefe vom beschwerlichen Alltagsleben und vom gesundheitlichen Zustand Minnas.

      „Der Briefwechsel wird jedoch nicht nur innerhalb der engeren Wagner-Biografik auf Interesse stoßen, sondern auch bei interessierten Wagnerianern, die Leben und Schaffen des ‚Meisters‘ für den Zeitraum von sieben Jahren aus dem Blickwinkel zweier ihm nahestehender Frauen betrachten wollen.“ (S. 7)

      Chapeau für diese erhellende Dokumentensammlung in der brillanten Edition des leider 2019 verstorbenen Martin Geck.

       

      Madame d`Ora: Tagebücher aus dem Exil / Hrsg. Eva Geber. Wien, Berlin: Mandelbaum Verl., 2022. 253 S. ISBN 978-3-85476-983-5. € 24.00

        Die aus einer jüdischen Familie stammende Dora Kallmus (1881–1963), die unter ihrem Pseudonym Madama d`Ora (1881-1963) berühmt wird, ist eine österreichische Fotografin. Sie eröffnet 1907 in Wien zusammen mit Arthur Benda das Fotostudio d`Ora. Sie fertigt Porträtaufnahmen von Wiener Künstlern und Intellektuellen, so Alma Mahler-Werfel, Arthur Schnitzler, Gustav Klimt und Anita Berber. Mit zunehmendem Erfolg ist sie ab 1917 auch als Modefotografin tätig. 1927 geht sie nach Paris und fotografiert u.a. Maurice Chevalier, Josephine Baker und Marlene Dietrich und arbeitet als Modefotografin u.a. für Chanel. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 versteckt sie sich in einem Bergdorf im nichtbesetzten Teil Frankreichs, um 1945 nach Paris zurückzukehren. In ihrem Spätwerk finden sich nicht nur Porträts von bedeutenden Personen wie Yehudi Menuhin und Marc ­Chagall, sondern auch dokumentarische Fotografien aus Lagern für Displaced Persons in Österreich und sozialkritische Fotografien aus Schlachthöfen in Paris. In Folge eines Autounfalls verliert sie 1959 ihr Gedächtnis. Sie hinterlässt u.a. 90.000 Aufnahmen aus den Jahren 1907–1927. Das fotografische Werk von d`Ora ist ebenso lange Zeit vergessen wie ihre Tagebücher, die nun nebst Vorwort in einer chronologischen Abfolge und kommentiert und interpretiert als Tagebücher aus dem Exil in der Herausgabe von Eva Gerber erscheinen, gemeinsam mit Aphorismen, Gedichten, Briefen, amtlichen Schreiben und Fotografien. Die Erweiterung um die Zeit über das Exil hinaus und die Vielfalt der Dokumente geht aus dem nüchternen Titel leider nicht hervor. Im Mittelpunkt steht m.E. die durch Krieg und Exil aus dem Leben gerissene und nun nicht mehr erfolgreiche Frau, die versucht, aktiv und selbständig durch die Zeiten zu kommen. „Ich habe zum ersten Mal kein Dach über dem Kopf u. bin 61 Jahre alt – ein Dach kann man sich bauen, aber keine Heimat.“ (23.8.1942) Die Tagebücher aus den drei Exiljahren sind eine wichtige Ergänzung zur Exilliteratur.

         

        Mit einem Mann möcht ich nicht tauschen. Ein Zeitgemälde in Tagebüchern und Briefen der Marie Bruns-Bode (1885–1952) / Hrsg. Rainer Noltenius. Berlin: Gebr. Mann Verl., 2018. 328 S. ISBN 978-3-7861-2799-4. € 29.00

          Marie Bruns-Bode (1885–1952) ist die Tochter des Generaldirektors der Berliner Museen und Kunsthistorikers Wilhelm von Bode und seit 1915 Ehefrau von Viktor Bruns, Richter beim Völkerbund in Den Haag und Direktor des von ihm gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Selbstbewusst und emanzipiert setzt sie ihre Begeisterung für die Kunstgeschichte um, trotz des schwierigen Zugangs für Frauen und Mädchen zu universitärer Bildung. Durch ihren Vater kennt und nutzt sie die kulturpolitischen Netzwerke des Kaiserreichs, durch ihre Heirat werden diese Netzwerke erweitert um Sammler, Sponsoren, Politiker und Vertreter der Medien.

          Marie führt über viele Jahre ausführliche Tagebücher, dokumentiert auf 2.776 Seiten in 18 Tagebüchern, erhalten sind auch zahlreiche Briefe. Der Herausgeber trifft eine Auswahl aus den Tagebüchern von 1909 bis 1944 und aus den Briefen von 1893 bis 1951. Und so begleiten wir Marie durch vier Epochen europäischer Geschichte. Es ist das „Bild einer kreativen und humorvollen Frau, die trotz der restriktiven Atmosphäre autoritär männlich geprägter Gesellschaften in erstaunlicher Weise emanzipatorisch denkt und wirkt.“ (hinterer Buchdeckel). Zu den Personen gehören der Vater Wilhelm von Bode und der Ehemann Viktor Bruns, die Familie von Weizsäcker, Pastor Martin Niemöller und viele Diplomaten und Politiker im Zusammenhang mit Viktor Bruns` Auftreten im Internationalen Haager Gerichtshof. So entsteht ein interessantes Zeitgemälde, eingebettet in ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, ein Vorwort, ein gründliches, kommentierendes Nachwort und einen umfangreichen Anhang, der dieses Buch informationsgerecht durch ein umfassendes Quellenverzeichnis, biografische Übersichten und ein vollständiges Schriftenverzeichnis von Marie und Viktor Bruns erschließt. Dieses Buch ist eine wichtige Quelle zum gesellschaftlichen Leben besonders des Berliner Bildungsbürgertums vom ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit – „immer aus selbstbewusst weiblicher Perspektive dargestellt“ (S. 28). Der Herausgeber setzt seiner faszinierenden und besonderen Großmutter ein Denkmal.

           

          Elisabeth Erdmann-Macke: Tagebücher Mai 1905-März 1948 / Hrsg. Margarethe Jochimsen; Hildegard Reinhardt. Bielefeld: Kerber Verl., 2021. 629 S. ISBN 978-3-7356-0664-8. € 39.90

            Elisabeth Erdmann-Macke (1888–1978) geb. Elisabeth Gerhardt ist eine deutsche Schriftstellerin, in deren Arbeiten ihr Leben mit dem expressionistischen Maler August Macke (1887–1914) steht, den sie 1909 heiratet. Eine enge Künstlerfreundschaft verbindet beide mit der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ (vgl. Birgit Poppe: Die Frauen des Blauen Reiter, Köln 2011. S. 82-86). Am 1.8.1914 wird August zum Kriegsdienst einberufen, er fällt am 26.9.1914 in einem Gefecht. Ein Jahr später beginnt Elisabeth ihre Lebensgeschichte und Episoden aus dem Familienleben und von Begegnungen mit Weggefährten ihres Mannes aufzuzeichnen. 1916 heiratet sie den engsten Freund ihres verstorbenen Mannes, den Geisteswissenschaftler Lothar Erdmann, der 1939 verhaftet und im KZ Sachsenhausen ermordet wird. Elisabeth überlebt den Nationalsozialismus und lebt und arbeitet bis 1975 im Atelier August Mackes. Elisabeth hält ihr bewegtes Leben in über 34 Tage- und Gästebüchern für die Jahre 1905 bis 1978 fest. Da eine die gesamte Zeitspanne umfassende Veröffentlichung „jedes sinnvolle Buchformat sprengen würde“ (S. 9), beschränken sich die Herausgeber auf die 17 reinen Tagebücher, „das vorliegende Buch widmet sich ausschließlich den persönlichen Tagebuchaufzeichnungen, die sich über eine Zeitraum von 43 Jahren erstrecken.“ (S. 9) Diese werden hier erstmals publiziert (330 Seiten), wunderbar ergänzt um eine Einführung, Anmerkungen, Zusatzinformationen, Farbtafeln, Biografien, eine Chronik zu Leben und Werk der Tagebuchschreiberin, eine Literaturliste und ein Personenregister (280 Seiten). „Als Kronzeugin deutscher Kunstund Kulturgeschichte von einzigartigem Rang lässt Elisabeth Erdmann-Macke die Begegnung, ja Freundschaft mit Künstlerinnen und Künstlern des Rheinischen Expressionismus, des „Blauen Reiter“, des Bauhauses sowie der turbulenten 1920er-Jahre in Berlin mit ihrem Ende lebendig werden.“ (hinterer Buchdeckel) „Ihre Tagebücher sind nicht nur authentische Zeugnisse der grauenvollsten Perioden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sie wie Millionen von Menschen erleben musste, sie sind weit mehr: Sie bezeugen auf eindringliche Weise die leidenschaftliche Liebe zweier Menschen, die in ihren blühendsten Jahren durch den frühen Tod August Mackes auseinandergerissen wurden.“ (S. 18) Dabei spielt Elisabeths Rolle als Bewahrerin und Vermittlerin des Werkes von August Macke eine besondere Rolle. Sie ist ihm in ihrer leider kurzen Beziehung Seelenverwandte, ebenbürtige Partnerin und engste Vertraute, sie macht sich lebenslang „die Pflege und öffentliche Präsenz seines Œuvres zur Aufgabe“. (S. 18) Eine aufwendige, lohnenswerte Publikation. Im Gedächtnis bleibt sie uns auch erhalten durch die etwa 200 Arbeiten, in denen August Macke seine Frau festhält.

             

            Maria Blei Tagebuch für Tochter Billy. »Deine Liebe ist wild wie der Sturzbach« / Hrsg. und kommentiert von Angela Reinthal; mit einem Nachwort von Gerhard Hubmann. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verl., 2018. 179 S. (Manu Scripta Band 3) ISBN 978-3-205-20779-5. € 29.00

              Maria Blei (1867–1943), geb. Lehmann, studiert in Zürich unvollendet Medizin, lernt dort den Studenten der Volkswirtschaft Franz Blei kennen, sie heiraten 1894. 1897 wird Tochter Sibylla, genannt Billy, geboren. Die junge Familie lebt von 1898 bis 1899 in den USA, wo Maria ein Studium der Zahnmedizin absolviert. Nach Europa zurückgekehrt leben die Ehepartner getrennt. Der inzwischen berühmte Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker Franz emigriert 1941 in die USA, Maria bleibt in Deutschland und verbringt ihre letzten Lebensmonate in Heidelberg. Tochter Billy (1897–1962) ist eine österreichische Schauspielerin, Übersetzerin, Fotomodell für Modezeitschriften und Keramikerin. 1914 debütiert sie an dem von Max Reinhardt geleiteten Deutschen Theater in Berlin, 1917 geht sie zurück nach Wien und ist in kleinen Theater- und Filmrollen zu sehen. 1926 heiratet sie den Bankier Ernst von Lieben, die Ehe wird drei Jahre später wieder aufgelöst. Von 1930 an lebt sie mit der Übersetzerin Sarah Halpern zusammen.

              Zweieinhalb Monate nach der Geburt von Billy beginnt die Mutter mit einem Tagebuch mit dem lateinischen Titel „Mariae Sybillae Diarium“, es endet im März 1919. Es ist im Prinzip ein typisches Exemplar der Gattung Elternbzw. Müttertagebücher – es beschreibt die charakterliche, körperliche und sprachliche Entwicklung des Kindes bis hin zu Gewicht und Größe und Krankheiten, die Schulzeit, die Konflikte mit den Eltern und insbesondere mit der Mutter, aber es geht einen Schritt weiter – es zeigt eine ehrgeizige Mutter um 1900, deren Lebensführung sich von dem damaligen Bild der bürgerlichen Hausfrau unterscheidet. Bereits zwei Monate nach Billys Geburt skizziert Maria den Bildungsweg und die Zukunft der Tochter, die Erziehung sollte sie weg vom Kochtopf führen, sie sollte keine hauptberufliche Ehefrau werden. Im Juni 1903 schreibt Maria: „Ich habe mit 21 Jahren mit grossem Eifer & dem besten Willen studiert, da lernte ich deinen Vater kennen & lieben, & von der Stunde an war es mit dem Ernst aller Arbeit vorüber.“ (S. 70)

              Knapp einhundert Jahre nach dem letzten Tagebucheintrag publiziert Angela Reinthal einen Band mit großen Teilen des Tagebuchs. Der Text wird ergänzt durch ein Vorwort, Schwarzweißfotos, Kommentare, ein Personenverzeichnis und einen Beitrag von Gerhard Hubmann unter dem Titel „Denksteine und Bekenntnisse. Maria Bleis Tagebuch für ihre Tochter Billy“.

               

              Susanne Wittek: »Es gibt keinen direkteren Weg zu mir als über Deine Kunst«. Rosa Schapire im Spiegel ihrer Briefe an Karl Schmidt-Rottluff 1950-1954. Göttingen: Wallstein Verl., 2022. 204 S. (Künstler in Hamburg. Band 2) ISBN 978-3-8353-5197-4. € 23.00

                Rosa Schapire (1874–1954) ist eine deutsche Kunsthistorikerin, Kunstsammlerin, Mäzenin, Autorin und Übersetzerin. Sie wächst als Tochter jüdischer Eltern im ostgalizischen Brody auf, wird dreisprachig (Polnisch, Deutsch, Französisch) erzogen, studiert in Bern und Heidelberg Kunstgeschichte und wird 1897 als eine der ersten Frauen in Deutschland als Kunsthistorikerin promoviert. Als alleinstehende, ökonomisch unabhängige Frau ist sie eine Pionierin eines neuen weiblichen Selbstverständnisses. Ihr Wunsch nach Unabhängigkeit ist so stark, dass sie lebenslang jede Festanstellung ablehnt.

                Von 1905 an ist Hamburg ihr Lebensmittelpunkt. Hier entsteht ein Netzwerk zwischen Künstlern, Mäzenen, Kritikern und Museumsdirektoren. 1907 wird sie passives Mitglied der Vereinigung „Die Brücke“. Die Begegnung mit Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) ist für sie lebensbestimmend, sie fördert ihn und seine Kunst auf vielfältige Weise, auch publizistisch, und sie wird zur erklärten Verfechterin des Expressionismus und Sammlerin expressionistischer Werke. 1916 gründet sie mit Ida Dehmel den „Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst“. Und sie übersetzt, u.a. Werke von Balzac und Zola.

                Von 1933 bis 1939 arbeitet Rosa im Jüdischen Kulturbund. Im Zusammenhang mit der Ausstellung für entartete Kunst 1937 wird sie unter Hausarrest gestellt, emigriert 1939 (mit 65 Jahren!) nach London und verdient ihren Lebensunterhalt durch Übersetzungen und als Honorarkraft in der Tate Gallery. Alle ihre Angehörigen kommen im Holocaust um. Susanne Wittek wertet erstmals die Briefe von Rosa Schapire an Karl Schmidt-Rottluff aus ihren letzten Lebensjahren aus. Sie zeigen „eine exilierte Frau, die trotz Sorgen und Todessehnsucht doch immer die Kraft fand, sich für die expressionistische Kunst einzusetzen.“ (hinterer Buchdeckel) Aber die Veröffentlichung bietet viel mehr als auf dem Titelblatt einschränkend mitgeteilt wird. Die Autorin porträtiert Rosa Schapire über Jahrzehnte hinweg, auch weil „eine kompakte Biografie fehlt, die der breiten Öffentlichkeit Leben und Schaffen dieser außergewöhnlichen Frau nahebringt“ (S. 14-15), die Zeit ab 1950 beginnt erst mit Seite 87.

                Die sensible Auswertung des Briefwechsels verdeutlicht, „wie sehr die einstige Entscheidung Schapires für die unabhängige Ausübung ihres Berufs sie im Alter doch schmerzte, da sie, geplagt von körperlichen Leiden und fern der unerträglich gewordenen Heimat, bisweilen tiefste Einsamkeit empfand.“ (S. 11) Die Briefe zeigen u.a. die durch den Nationalsozialismus erlittenen Traumata und die Suche nach einer Positionierung in der Nachkriegszeit nach erlittenem Unrecht.

                Das Buch ist wichtig für die Exilforschung und die Tätigkeit von Frauen in der Kunstszene in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts.

                „Hätte ich im Mittelalter gelebt, ich wäre wohl eine Nonne oder Heilige geworden“ (22.4.1953, S. 13).

                 

                Isabelle Eberhardt: Nomadin war ich schon als Kind. Meine algerischen Tagebücher 1900–1903 / Aus dem Französischen und mit einem Vorwort von Julia Schoch. Wiesbaden: Edition Erdmann, 2018. 271 S. (Die kühne Reisende) ISBN 978-3-7374-0044-2. € 22.00

                  Isabelle Eberhardt (1877–1904) ist die Tochter von Natalie Eberhardt, einer russischen Aristokratin deutsch-jüdischer Abstammung, der mutmaßliche Vater ist der Hauslehrer, ein russischer Anarchist, er weckt Isabelles Interesse am Islam. Sie wächst in Genf auf, wird privat in Deutsch, Russisch und Französisch unterrichtet, sie kann mit zwölf Jahren den Koran auf Arabisch, die Bibel auf Griechisch und die Tora auf Hebräisch lesen. Ungesicherte Informationen begleiten alle Versuche, Leben und Werk dieser Frau zu begleiten. Früh reist sie durch nordafrikanische Länder, 1897 mit ihrer Mutter nach Algerien, wo sie zum Islam übertritt. Nach dem Tod ihrer Mutter ein Jahr später kauft sie sich ein Pferd und reist durch die Wüsten von Tunesien, Algerien und Marokko. Sie heiratet in Algerien den Quartiermeister der französischen Garnison. Sie reist häufig allein, trägt Männerkleidung, folgt mehrfach der Route des französischen Militärs, verkehrt in den Bars und Bordellen des Maghreb. 1900 wird sie Mitglied der muslimischen Bruderschaft, der Qadiriyya, die bis zu diesem Zeitpunkt keine Europäer aufnimmt, eine Frau schon gar nicht. Sieben Jahre dauert dieses Wandern. Mit 27 Jahren stirbt Isabelle in einer Sturzflut mitten in der Wüste. Isabelle gerät schnell in Vergessenheit, und erst die Frauen­ bewegung Anfang der 1970er Jahre entdeckt sie wieder.

                  Die hinterlassenen Schriften – Tagebücher, Briefe und Erzählungen – legen Zeugnis ab von ihrem ekstatischen Leben und von einer Liebeserklärung an die Wüsten Afrikas. In Deutschland erscheinen Anfang der 1980er Jahre sämtliche Werke in vier Bänden unter dem Titel „Sandmeere“. Die vier algerischen Tagebücher werden nun in der Neuübersetzung von Julia Schoch vorgelegt. Sie zeugen von der grenzenlosen Liebe zur Wüste, dort wo die Nomaden leben: „Nomadin war ich schon als Kind … Nomadin werde ich mein ganzes Leben lang sein, immer wieder muss ich aus meiner gewohnten Umgebung heraus und in noch unerforschte Fernen, denn jede Reise gleicht einer Erforschung“ (Tagebuch 7. Juli 1902. S. 236). Die Tagebücher werden ergänzt um ein Vorwort mit biografischen Details und editorische Noti

                   

                  Ruth Maier: »Es wartet doch so viel auf mich …« Tagebücher und Briefe Wien 1933-Oslo 1942 / hrsg. Jan Erik Vold. Wien, Berlin: Mandelbaum Verl., 2020. 431 S. ISBN 978-3-85476-881-4. € 28.00

                    „Ruth Maier war eine Jüdin aus Wien, die vor dem Krieg als Flüchtling nach Norwegen kam und dort vier Jahre lang lebte, bis sie, während der großen Judenaktion in Oslo im Spätherbst 1942, verhaftet und zusammen mit fünfhundert weiteren Juden und Jüdinnen auf das Schiff ‚Donau‘ gebracht und deportiert wurde. ­Ruth Maier, in ­Wien am 10. November 1920 geboren, starb in Auschwitz am 1. Dezember 1942.“ (S. 7) So die Zusammenfassung des Herausgebers. Ergänzend ist folgendes hinzuzufügen: ­Ruth arbeitet in Norwegen als Kunsthandwerkerin und Modell, eine Emigration nachzen. Die Ausgabe ist vortrefflich gestaltet! Eine großartige Erinnerung an Isabelle Eberhardt.

                    England lehnt sie trotz vorhandenen Visums ab, um in Norwegen das Abitur abzulegen, dies geschieht 1940. Als sie später fliehen will, ist dieses Visum abgelaufen und wird nicht verlängert.

                    Die erhaltenen Tagebücher und Briefe reichen von 1933 bis 1942. Ihre Freundin, die norwegische Dichterin Gunvor Hofmo, bewahrt sie mehr als ein halbes Jahrhundert auf. Erstmals werden sie von Jan Erik Vold 2007 in Norwegen veröffentlicht. Das Buch erregt internationales Aufsehen und ist bis heute in zwölf Sprachen übersetzt. 2008 erscheint eine deutsche Originalfassung, diese wird nun durch die vorzüglich gestaltete Neuausgabe ersetzt. Aus einem Material von rund 1.000 Tagebuchseiten und 300 Briefseiten ist eine Lebens- und Leidensgeschichte auf 400 Buchseiten entstanden. Ergänzt wird der Text durch 50 kurze lyrische Texte, meist in Form von Prosagedichten und Illustrationen, die sich auf die Aufzeichnungen beziehen wie Fotos, Zeichnungen, Zeitungsausschnitte und Postkarten.

                    Ruth hat das Zeitgeschehen minutiös beobachtet. Die ersten Einträge dokumentieren den Alltag einer assimilierten jüdischen Familie und den zunehmenden Antisemitismus. Den ersten Schock erlebt sie an ihrem 18. Geburtstag am

                    10. November 1938: „Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind, weiß was Menschen tun können. Menschen, die Ebenbilder Gottes.“ (S. 123) Ihre innere Zerrissenheit wächst, ihre Sehnsucht nach ihrer Familie, der zunehmende Antisemitismus und der Krieg führen zu Niedergeschlagenheit und Depressionen.

                    Ruth Maiers Dokumente sind seit 2014 Teil des UNESCOWeltdokumentenerbes „Memories of the World“. Sie sind in eine Reihe zu stellen mit dem Pariser Tagebuch von Hélène Berr (1921–1945), in deutscher Sprache 2009, und der neueren Edition Tagebücher der Anne Frank (1929– 1945) aus dem Jahr 1988.

                     

                    Erica Tietze-Conrat: Tagebücher / Mit Geleitworten von Edward Timms und David Rosand. Band 1: Der Wiener Vasari (1923-1926). 454 S. – Band 2: Mit den Mitteln der Disziplin (1937-1938) 343 S. – Band 3: Register und Anhang 147 S. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verl., 2015. ISBN 978-3-205-79545-2. € 79.00

                      Die Gelehrte, Dichterin und Kunstagentin Erica Conrat (1883–1958) verh. Tietze-Conrat entstammt einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Sie studiert Kunstgeschichte an der Universität Wien, wird dort 1905 promoviert. Sie heiratet im selben Jahr ihren aus einer assimilierten jüdischen Familie stammenden Studienkollegen Hans Tietze (1880–1954). Der Schwerpunkt der Forschungstätigkeit von Erica liegt auf der Barockskulptur, Hans gehört mit seinen Arbeiten zur österreichischen Kunsttopografie und als Ministerialbeamter an der Kommission für Denkmalpflege zu den bedeutendsten österreichischen Kunsthistorikern. Das Ehepaar ist mit zahlreichen Künstlern befreundet wie Arnold Schönberg, Georg Ehrlich, Alma Mahler und Oskar Kokoschka. 1938 emigrieren Erica und Hans in die USA.

                      Der erste Band der Tagebücher umfasst die Jahre 1923 bis 1926. Er gibt neben Alltäglichem und Familiärem unerwartete Einblicke in das Geschehen der Wiener Kunstszene der frühen 1920er Jahre. Er zeigt an vielen Beispielen den regen Anteil an den künstlerischen Ereignissen der Stadt. Interessant sind auch die Beschreibungen der Reisen durch Italien und Frankreich.

                      Der zweite Band für die Jahre 1937 und 1938 dokumentiert die Reisen des Ehepaares in zahlreiche westeuropäische Länder, die in Zusammenhang mit einem großen Katalogwerk zu Handzeichnungen venezianischer Maler des 15. und 16. Jahrhunderts stehen. Was als Forschungsreise beginnt, endet als Flucht vor den Nationalsozialisten. Der Leser erhält außergewöhnliche Einblicke in die Zusammenarbeit von Museologen, Sammlern, Privatgelehrten, Kunsthändlern und Künstlern in Europa unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Erica beschreibt auch den Zerfall des alten Europas. Besonders interessant sind die Berichte über Begegnungen mit bereits emigrierten Kollegen. „Und was ist nicht alles in d. Weltgeschichte geschehen?! Italien hat sich gleichgeschaltet. Wir gehen nicht hin. Und d. Verhältnisse in d. Tschechei? Krieg? Krieg?“ (7.9.1938, Band 2, S. 312)

                      Der dritte Band enthält Kurzbiografien, einen Familienstammbaum, verschiedene Register und eine umfassende Bibliografie.

                      Die ersten beiden Bände sind reichlich mit Anmerkungen, Erläuterungen und Fotos versehen.

                      Ein ehrenvolles Denkmal für zwei bedeutende Kulturschaffende.

                       

                      Anna Haag: »Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode« Tagebuch 1940-1945 / Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jennifer Holleis. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2021. 448 S. ISBN 978-3-15-011313-4. € 35.00

                        Anna Haag (1888–1982) geb. Schaich ist eine deutsche Schriftstellerin, Pazifistin, Frauenrechtlerin und Politikerin. Sie heiratet 1909 den Mathematiklehrer Albert Haag (1885–1951), lebt mit ihm in Bukarest und Nürtingen, bis die Familie mit ihren drei Kindern nach Stuttgart zieht. Sie ist Mitglied der SPD und der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“. 1926 erscheint ihr autobiografischer Roman Die vier Rosenkinder, dem weitere Romane folgen. Während der Zeit des Nationalsozialismus wird Albert strafversetzt, Anna schreibt geheime Tagebücher, die nun unter dem Titel »Denken ist überhaupt nicht mehr Mode« veröffentlicht werden (wenige Auszüge finden sich in ihrem 1968 erschienenen Buch Das Glück zu leben. Erinnerungen an bewegte Jahre). 1946 wird Anna in die verfassunggebende Landesversammlung berufen und anschließend in den ersten Landtag von Baden-Württemberg gewählt. Anna hält Vortragsreisen und engagiert sich im „Deutschen Rat der Europäischen Bewegung“. Anna Haag gehört zu den im Strudel der (Nicht)aufarbeitung des Nationalsozialismus vergessenen Menschen. Ihr Tagebuch ist ein herausragendes Dokument, das authentische Einblicke in den deutschen Alltag gibt, die Stimmung des Volkes wiedergibt und zeigt, wie die Ideologie der Nationalsozialisten in alle Teile der Bevölkerung hineinwirkt. Ihre Quellen sind Zeitungen, Gespräche mit Menschen aus der Wohngegend, das Hören von „Feindsendern“. Anna ist eine Frau mit einer bemerkenswerten Klarsicht, erstaunlicher Standhaftigkeit, mit Mut und Ausdauer. „Seit zwei Wochen bin ich ziemlich krank, aber seit der ‚Führer‘-Rede am 30. Januar geht es mir besser. Die Brüllerei hat mir zu einem Schwitzbad verholfen.“ (2.2.1942, S. 161) Eindeutig ist das Urteil von Götz Aly: „Ein ungeheuer eindrucksvolles, atemberaubendes Dokument, das nun endlich vorliegt. … Als einer, der seit Jahrzehnten die Verbrechen Hitlerdeutschlands erforscht, musste ich zum Selbstschutz professionelle Distanz entwickeln. Aber Anna Haags Buch las ich in einem Zug. Wie konnte unser Volk so tief herabsinken? Diese noch immer unbeantwortete Frage trieb Anna Haag um – und sie erklärt uns Heutigen vieles.“ (Berliner Zeitung 3.5.2021. Kolumne) Leider ist die Kommentierung sehr spärlich. Trotzdem muss diese Arbeit durch eine weite Verbreitung des Buches belohnt werden! Und 2022? Sind wir auf dem Weg zum »Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode«? (ds)

                        Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 ­Biblio­theksdirektor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­ dieter.schmidmaier@schmidma.com

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