Helmut Ortner, Wenn der Staat tötet. Eine Geschichte der Todesstrafe. Mit einem Nachwort von Prof. Dr. Thomas Fischer. Theiss Verlag, Darmstadt 2017. 236 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8062-3597-5. € 22,95
Wozu dieses Buch? Ist in Deutschland die Todesstrafe nicht abgeschafft? Ist sie etwa – trotz Art. 102 GG – noch oder wieder ein Problem? Kann es das überhaupt noch sein? Nun, was nicht ist, kann ja noch werden, mögen die Befürworter der Wiedereinführung meinen. „Nie wieder“-Beteuerungen haben ja verschiedentlich eine verblüffend kurze „Halbwertszeit“. Unter den Staatsrechtlern ist die Frage der Möglichkeit, sie wieder einzuführen, wen wundert‘s, „umstritten“. Denn es besteht keine Einigkeit darüber, ob die Tötung/Hinrichtung eines Menschen durch die staatliche Gewalt die Menschenwürde i.S. des Art. 1 GG berührt oder nicht. Geht man von Ersterem aus, entfällt das Problem, weil dann gemäß Art. 79 III GG die Grundsätze des Art.
1 GG „berührt“ würden und damit die Änderung des GG durch Abschaffung des Art. 102 und Wiedereinführung der Todesstrafe unzulässig wäre (dann bliebe nur die Beseitigung des GG insgesamt). Das Buch hätte also auch aus unserer verfassungsrechtlichen Sicht ein „Thema“. Dem Autor geht es aber, angesichts der Tatsache, dass die Todesstrafe in vielen Staaten noch gilt und meist auch zur Anwendung kommen kann und kommt, um das Thema in seiner grundsätzlichen (allgemeinen) Form.
Ortner, Journalist, Medienmacher und Publizist, Autor zahlreicher (über 20) Bücher, so verrät der Klappentext, „überwiegend politischen Sachbüchern und Biografien“, u. A. zu Georg Elser und kontrapunktisch zu Roland Freisler, wendet sich nach seinem 2013 erschienenen „Buch vom Töten. Über die Todesstrafe“, hier erneut dieser Thematik zu, dieses Mal mit Blick auf „den Staat“ (als solchen). Voran stellt er drei Zitate: Die beiden ersten, von Beccaria (1764) und dem englischen Henker Albert Pierrepoint (1974), halten die Todesstrafe für ihren Zweck verfehlend, George W. Bush (2000) hingegen diagnostiziert sie, wenig überraschend, als Leben rettend. So gerüstet blickt der Leser auf den Inhalt.
Nach Prolog (S. 7) und Einleitung (S. 22) sind es fünf Aspekte, die Ortner zu seinem Thema interessieren: Rituale (S. 29), Instrumente (S. 57), Vollstrecker (S. 117), Vermarkter (S. 175) und die öffentliche Inszenierung (S. 184). Einem Epilog (S. 199) folgt noch ein Ausblick (S. 206) sowie von Thomas Fischer „Wider die Todesstrafe“ – ein Nachwort (S. 214-221, im Juni 2017 geschrieben). Ein Anhang (S. 222) enthält ein „Dossier Tötungsmethoden – Vom Erdrosseln bis zur Giftspritze“ und „Staaten, die seit 1976 die Todesstrafe abgeschafft haben“ (S. 223). Quellen, Anmerkungen, Literatur, ein Dank und ein Abbildungsnachweis (S. 224-236) beschließen das Werk. Der „Prolog. Im Namen des Volkes – fünf aktuelle Wirklichkeiten“ bringt zunächst eine für Volksbefragungen typische Stimme eines 76 Jahre alten Rentners aus einer Zuschrift an die FAZ, der „grundsätzlich keine Todesstrafe“ will, dann aber eine stattliche Reihe von Taten aufführt, für die er sich wünscht: Bei Autodiebstahl auf keinen Fall, beim dritten Verbrechen aber schon usw. usf. – Die erste der fünf „Wirklichkeiten“ beginnt mit der Schilderung einer Hinrichtungsserie mit Giftcocktails, „verschränkt“ mit bezeichnendem „Geschäftssinn“ und schlimmem Dilettantismus, dem Hin und Her von mehrfachem Aufschub und Aufhebung desselben bis schließlich zur Hinrichtung. Der zweite betrifft Erdogans Türkei nach dem Putsch 2016, die Wiedereinführung der 2002 (mit Blick auf den EU-Beitritt) abgeschafften Todesstrafe und ihren Einsatz (S. 15); die dritte zeigt das Dilemma von Städten (am Beispiel Darmstadts) beim Abschluss mit einer neuen Partnerstadt wegen der Gemeinsamkeiten „vor allem im Wirtschafts- und Wissenschaftsbereich, obgleich bei diesem neuen „Partner“ (San Antonio) die Todesstrafe nicht nur angedroht, sondern auch vollzogen wird. Der vierte Blick gilt einem inzwischen erledigten Problem, dass nämlich in der hessischen Landesverfassung von 1946 die Todesstrafe noch angedroht geblieben war, nachdem das GG vom 23.5.1949 sie in Art. 102 GG abgeschafft hatte und gem. Art. 31 GG Bundesrecht Landesrecht „bricht“. Am 1.11.2018 haben „die Hessen“ in einer Volksabstimmung sich für die Aufhebung entschieden (näher S. 17 f.). – Abschließend zur „Wirklichkeit“ zieht der fünfte eine „Bilanz der Inhumanität – oder der disparate Schein der Statistik“ (S. 19). Die „Einleitung“ beginnt mit der Schilderung des langen Prozesses bis zur Hinrichtung des Afroamerikaners Troy Davis (verurteilt wegen Tötung eines „weißen“ Polizisten), der „zwei Jahrzehnte… im Todestrakt auf seine Hinrichtung“ hat warten müssen. Diese „war eine der umstrittensten der an fragwürdigen Exekutionen nicht armen US-Justizgeschichte“ (so Ortner, S. 22 f., was er noch näher erläutert). Es folgen Zahlen zu den Exekutionen und denen der auf ihre Exekution Wartenden in den einzelnen USA-Staaten (S. 24); den „Rekord“ der Exekutionen hält Texas mit 538 von 1982 bis Ende 2016! Ortner berichtet von den seit dem 18. Jahrhundert zu beobachtenden Versuchen, „humanere Methoden zu finden und anzuwenden“. Sodann schildert er knapp den weiteren Inhalt des Buchs.
In „Rituale“ beschreibt Ortner zunächst die „archaischen Strafen“, beginnend mit der 320 n. Chr. von Konstantin abgeschafften, seinerzeit „im gesamten Mittelmeerraum… geläufige(n) und häufig vollzogene(n) Hinrichtungsart der Kreuzigung, für die sich offenbar keine „feste Vollzugsform“ ausgebildet hatte, deren Art mithin „der Willkür der jeweiligen Henker überlassen“ blieb (S. 30). Sie war insbesondere, aber nicht nur, eine Strafe für Sklaven, und schon vor der Römerzeit als Menschenopfer zur Besänftigung von Gottheiten gebräuchlich (S. 31). Aus dieser Wurzel sprießte auch der Galgen, der ebenfalls mit Grund und Hintergrund gewürdigt wird. Es folgen die aus der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 bekannten Tötungsarten und andere Strafen, die häufig für je bestimmte Straftaten vorgesehen waren (manche „spiegelnd“, z.B. Zunge Abschneiden für Meineid, Gotteslästerung, Verleumdung, Falschaussage…; zu den Strafen für Taten nach der PGO informativ G. Gildemeister, in: Gustav Radbruch/Heinrich Gwinner, Geschichte des Verbrechens. Versuch einer historischen Kriminologie, 1951/1990, S. 387-435; zur Beschreibung der Enthauptung der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt in Frankfurt a.M. am 14.1.1772, siehe S. 45 f.; ferner S. 46 f). Zu einer Schilderung aus unseren Tagen das Protokoll der aus unserer heutigen Sicht wahrlich grausamen Steinigung einer Frau wegen Ehebruchs am 15.8.1986 im Iran, S. 41.
Die Praktiken ändern sich mit der „Verweltlichung“ der Strafpraxis: Vom Töten durch Gottes Hand – Vergeltung und Versöhnung“ hin zur Hinrichtung im Namen des Volkes. Ausführlich geht der Autor sodann auf die Henkersmahlzeit ein, „Das letzte Mahl – Ein Friedensangebot“, eine Art Besänftigungsritual (S. 49 ff., 53), mit dem Ziel einer „würdevolle(n) und zugleich abschreckende(n) Hinrichtung“, wofür man eine Art Einwilligung des „armen Sünders“ in seine Tötung erstrebte. „Instrumente – Die Technisierung des Tötens“ beginnt mit dem ersten Einsatz des Fallbeils, der Guillotine (zu ihr S. 60 ff.) am 25.4.1792 in Paris zur Köpfung eines Straßenräubers, die künftig für Alle, auch Adlige, selbst den französischen König (der sie einführen ließ) gleichermaßen zum Einsatz kam. Ihr folgt später der „Tod durch die Kugel – Das Erschießen“ (S. 73 ff.), ein „Töten aus der Ferne“. Es folgen die Tötungsarten des Einsatzes des elektrischen Stuhls, der Gaskammer sowie der Giftspritze (Fotos S. 137-144). Sodann wendet Ortner sich den Vollstreckern zu: „Die Hände des Gesetzes“. Wie wird man Henker, was macht die Tätigkeit mit diesen Menschen? Wer sich hierüber noch keine Gedanken gemacht hat, auch von dem Status des Henkers nichts weiß, dem sei dieser knappe Überblick zur Lektüre empfohlen (S. 118 ff.; sehr ausführlich zu Johann Reichhart, der während des Dritten Reichs über 2800 Menschen und nach dem Krieg im Auftrag der US-Militärregierung über 150 verurteilte Nazis hingerichtet hat, S. 147 ff.). Nicht fehlen dürfen im Theater des Schreckens die „Verkünder. Die öffentliche Inszenierung“. Zunächst sieht Ortner auf die Reaktionen der Zuschauer, des Volkes: entsetzt, schaudernd, entrückt und/oder empört, sodann auf die Reaktion der Behörden hierauf. Die öffentliche Hinrichtung nähert sich hierzulande ihrem Ende (S. 189 ff.). Es folgen noch „letzte Worte Hingerichteter“ (S. 196 ff.), der Epilog „Nachdenken über die Todesstrafe – Ein Plädoyer“ (S. 199 ff.) sowie ein zusammenfassender „Ausblick“ auf „die globale Realität“ der Todesstrafe, was mit Ländern und Zahlen aus unterschiedlichen Quellen (Statistiken aus Ministerien und Verwaltungen, Informationen der Zivilgesellschaft und Medienberichten) zu belegen versucht wird (S. 206 ff.). Am Beispiel Saudi-Arabiens beklagt er das Zurückstellen ethischer Grundsätze hinter geschäftlichen Nutzen, gerade auch der deutschen Wirtschaft, die den Saudis verkaufe, „was an Wehrtechnik auf dem Markt ist“ (S. 209). Er beruft sich auf die Sorgen von Amnesty International, dass in den meisten Ländern, in denen Menschen zum Tod verurteilt und hingerichtet werden, diese Strafe nach nicht fairen Gerichtsverfahren verhängt werde, und führt Länder auf, in denen dies der Fall sei. Dass er sich sodann gegen die Todesstrafe wendet bei Drogendelikten, Ehebruch, Gotteslästerung und Anderem mehr, war nach dem Vorstehenden zu erwarten und ist nach den Wertvorstellungen des GG in der Ausdeutung durch das Bundesverfassungsgericht wohl wenig zweifelhaft. – Gleichwohl: Zum Verhältnis Fressen/Verdienen und Moral hört man hierzulande immer wieder „Hochtönendes“, jeweils mit Bezug auf konkrete Anlässe, in denen sich wieder einmal Ersteres durchgesetzt hatte.
Jedenfalls aber bleibt auch heute noch zu bedenken: Die so wichtigen Werte, die „Europa“ heute vor sich herträgt, sind historisch betrachtet noch recht jung, der Ruf Europas in der Welt aber aufgrund einer Fülle gehabter Erfahrungen mit Europa wohl immer noch (lange) nicht der Beste. Dazu aber, warum es aus (auch) dem Rezensenten unzweifelhaft erscheint, dass der Todesstrafe zu widerstreiten ist, genügt es, das Nachwort Thomas Fischers zu lesen. (mh)
Gerhard Schäfer/Günther M. Sander/Gerhard van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung (NJW Praxis, Bd. 51), 6. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Verlag C. H. Beck, München 2017. ISBN 978-3-40668179-0, XXV, 786 Seiten, kartoniert, € 99,00
Betrug der Umfang der 1. Aufl. 1990 (zu ihr Dahs, Neue Juristische Wochenschrift 1990, 3258) 295 Seiten, so präsentiert sich das Werk in der aktuellen 6. Aufl. 2017 mit nahezu 500 Seiten mehr. Gegenüber der 5. Aufl. von 2012 (zu ihr Rezensent NJW 2013, 2170) beträgt der Zuwachs immerhin noch 193 Seiten. In einem solchen Befund spiegelt sich häufig die Entwicklung bei mehrfach aufgelegten juristischen Büchern: Der Stoff, insbesondere die Literatur zu ihm, nimmt zu, selten wird eine Norm ersatzlos gestrichen. Außerdem fällt das Kürzen „eigener“ Texte immer schwerer als ihm Neues hinzuzufügen. Auch das Hinzutreten weiterer Autoren kann sich manchmal auf das „Wachstum“ des jeweiligen Werks auswirken. Hier hingegen ist die Zunahme insbesondere thematischen Erweiterungen geschuldet.
Das Buch ist für die Praxis der Strafzumessung von enormer Bedeutung. Das sei durch zwei „klassische“ Zitate belegt: „So wichtig in jedem Strafverfahren die Feststellung des Tatbestandes der strafbaren Handlung und seine (ihre; M.H.) Einordnung unter das richtige Strafgesetz ist, so steht doch hinter dieser Aufgabe die Frage der Zumessung der Strafe an praktischer Bedeutung nicht zurück. Für den Täter wird es meist weniger wichtig sein, ob in seiner Tat z. B. Diebstahl oder Betrug erblickt wird, als vielmehr, ob er zu Freiheitsstrafe oder zu Geldstrafe verurteilt wird und wie hoch diese Strafen bemessen werden…“ , verlautbarte der preußische Justizminister in einer „Allg. Verfügung“ v. 8.3.1926 über die Strafzumessung (Justizministerialblatt I Nr. 83, S. 88). Und Wilhelm Kahl, der schon früh sein Interesse Fragen der Strafgesetzgebung und der Strafzumessung zugewandt hatte, schrieb zur Strafzumessung, mit ihr betrete man „das Innerste des Strafrechts: Die Verhältnisbestimmung von Verbrechen und Strafe. In ihr liegt und offenbart sich die Macht des Richters. In diesem Machtbesitz wurzelt zugleich seine höchste Verantwortlichkeit. Unter den vielen schwierigen Aufgaben des Strafrichters ist die Strafzumessung die schwierigste. Sie ist eine Kunst, deren Ausübung das Höchste fordert an Beurteilungsfähigkeit der äußeren Vorgänge und Wirkungen einer Straftat, an Menschenkenntnis und Seelenkunde, an Beherrschung des positiv rechtlichen Stoffs, an Selbstzucht, Unbefangenheit und Gerechtigkeit. – Die öffentliche Meinung ist freilich weit davon entfernt, in der Strafzumessung die Ausübung einer Kunst zu sehen. Sie ist eher geneigt, darin ein Spiel regelloser Freiheit zu erblicken“ (Deutsche JuristenZeitung XI [1906], Spalte 895). Wie sich im Folgenden andeutungsweise noch zeigen wird, ist es allerdings mit „Kunst“ allein heute nicht mehr getan.
Schon der Titel dieses für die Praktiker (Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger, also Strafjuristen, die Entscheidungen mit Folgen für die Wirklichkeit des Beschuldigten treffen) unverzichtbaren Werks macht deutlich, dass hier keine „Theorie“ der Strafzumessung entwickelt werden soll (deren gibt es ohnehin schon viele). Schäfer, zunächst als Richter/Vorsitzender einer Strafkammer, dann bis zum Ruhestand Richter/Vorsitzender Richter eines Strafsenats am BGH, kannte aus seiner Praxis sowohl als Landrichter, der Strafzumessung „betreibt“, wie auch später als Revisionsrichter, der solche Entscheidungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen hat, die vielfältigen Probleme, die das Recht hier dem „Praktiker“ in der Tatsacheninstanz (Amts- oder Landgericht) bereitet. Das Buch hat den Zweck, ihm zur Bewältigung dieser Probleme das notwendige Rüstzeug zur Verfügung zu stellen. „Es wurde aus der Sicht eines Tatrichters geschrieben“, „wendet sich an jeden, der mit Strafzumessung zu tun hat“, und will dem Praktiker „anhand vieler Beispiele und Bearbeitungsschemata die richtigen Kriterien an die Hand geben, damit Strafzumessung ein durchschaubarer, rational nachvollziehbarer Vorgang wird“ (so Schäfer im Vorwort zur 1. Aufl.). Das handbuchartige Werk weist neben dem Vorwort, einer Inhaltsübersicht sowie einem Inhalts- und einem Abkürzungsverzeichnis zehn Teile auf (leider stimmen in Inhaltsübersicht und -verzeichnis die Seitenzahlen häufig nicht mit den Zahlen im Text über ein). Es folgen ein Anhang „Synopse zum Recht der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“ (die bis 30.6.2017 geltenden und die seit 1.7.2018 geltenden Vorschriften) und ein hilfreiches Sachregister (S. 769-786).
Teil 1. „Grundlinien der modernen Kriminalpolitik“ (S. 1-7) zeichnet die Entwicklung der Gesetzgebung und der obergerichtlichen Rechtsprechung nach, beginnend mit dem Ersten Strafrechtsreformgesetz vom 18.12.1970 und der Entscheidung des 1. Strafsenats in BGHSt 24, 40, mit der der Senat zehn Tage zuvor, gewiss in Kenntnis des noch nicht geltenden Rechts, die Pflöcke eingeschlagen hat, die den Ausgangspunkt der Rechtsprechung zur Strafzumessung bis heute bilden: „…eine Abkehr von dem Gedanken der Schuldvergeltung allein um der Vergeltung willen und eine Hinwendung zu einem Strafrecht, das sich auf die zum Rechtsgüterschutz notwendigen Maßnahmen beschränkt und im übrigen den Gedanken der sozialen Anpassung des Täters besonders in den Vordergrund“ stellt (Rn. 4; Zitat aus dem 1. Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V/4094, S. 9 f.). Sodann werden die Entwicklungen geschildert, die im Lauf der Zeit in dieses „Basis“-Recht integriert wurden, einerseits u. A. Einstellungsmöglichkeiten für Bagatellen (§ 153 StPO), aber auch für solche Vergehenstaten, bei denen Strafe vermieden werden kann § 153 a StPO (ultima-ratio-Funktion des Straf- und Strafverfahrensrechts), andererseits die Zunahme eines „dem Strafrecht eigentlich systemfremden Präventionsrecht(s)“ (Rn. 20). Teil 2 (S. 9-112) stellt „das Instrumentarium der Strafen und verfahrensrechtlichen Reaktionen“ näher dar, u. A. die §§ 153, 153 a StPO, die Geld-und die Freiheitsstrafe (§§ 40 ff., 38 f. StGB), Verfall und Einziehung (§§ 73 ff., 74 ff. StGB) und das 2018 wesentlich geänderte Fahrverbot (§ 44 StGB).
Teil 3 (S. 113-205) erläutert die „Maßregeln der Besserung und Sicherung“, u. A. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung (§§ 64, 66 ff. StGB), die Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) und die Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff. StGB). Teil 4 (S. 207-316) umschreibt die für die Strafzumessung erheblichen Umstände, die Art und Ausmaß der strafrechtlichen Reaktion auf eine Straftat bestimmen sollen. Im Zentrum steht § 46 I StGB: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“ (sog. Grundlagenformel. Alsdann führen §§ 46 ff. StGB die Umstände auf, die insoweit „namentlich“ in Betracht kommen (können). Dass neben der Tatschuld auch Präventionsaspekte bei der Strafzumessung eine Rolle spielen können („Ausgleich der Strafzwecke“), zeigen schon die §§ 46 I 2, 47 und 56 ff. StGB.
Das bis hier Dargestellte bildet die Grundlage des folgenden Teils 5 (S. 317-430), des „Vorgang(s) der Strafzumessung“ durch den Richter der Tat im konkreten „Fall“ (Amts- oder Landgericht, ausnahmsweise auch einmal das OLG, § 120 I, II Gerichtsverfassungsgesetz). Dieser „Vorgang“ ist sehr fehlerträchtig, weil die zuvor schon erörterten „Umstände“ höchst komplex sind, vor allem in Teilen „antinomisch“ wirken (dazu Rn. 814 ff.).
Sind mehrere Straftaten einer Person in einem Verfahren abzuurteilen, so sind, soweit eine „Gesamtstrafe“ in Betracht kommt, besondere Regeln zu beachten; ihre Erläuterung bildet Teil 6 (S. 431-462).
Das Eingreifen der Bestimmungen, die Gegenstand des materiellen Strafrechts sind, also der Regelungen zu den Voraussetzungen der Strafbarkeit und zu den Rechtsfolgen der Straftat, sind in einem Verfahren festzustellen bzw. anzuwenden, das in der Strafprozessordnung geregelt ist. Wie die für die Strafzumessung erheblichen Tatsachen (das StGB spricht von „Umständen“ in den §§ 46 II,III und in 50, ebenso in § 267 II, III StPO; hingegen heißt es in § 267 I StPO „Tatsachen“) festzustellen sind, erläutert Teil 7 (S. 463-505), Teil 8 (S. 507-516), wie „die Strafzumessung in den Urteilsgründen“ darzustellen ist. Mit Teil 9, „Die Revisibilität der Strafzumessung und die Entscheidung des Revisionsgerichts“ (S. 561-641), erst in der 5. Aufl. 2012 aufgenommen, verlässt die Darstellung die Perspektive des Tatrichters, zeigt diesem aber, wie das Revisionsgericht bei der Überprüfung des Urteils auf Fehler bei der Strafzumessung vorgeht, wobei die „Leitentscheidung“ des Großen Senats des BGH von 1987 in BGHSt 34, 345 den Beginn der Darlegungen bildet (siehe Rn. 1505). Strafjuristen und -juristinnen, die diese Materien beherrschen, sind bestens gerüstet für jede Hauptverhandlung vor einem „Tatgericht“. Sehr dankbar werden die „Kämpfer an der Tatsachenfront“ auch für Teil 10, „Deliktsspezifische Strafzumessungsumstände“, sein (S. 643-754). Denn hier finden sie „für einige Tatbestände deliktsspezifische Strafzumessungsumstände“ zusammengestellt (Rn. 1598), so für die Aussagedelikte, Verletzung der Unterhaltspflicht, sexuellen Missbrauch von Kindern, sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung, Tötungsund Körperverletzungsdelikte, Nötigung, Diebstahl, Raub, Betrug, Untreue, Insolvenzstraftaten, Vollrausch, Bestechungsdelikte, Straßenverkehrsdelikte, Betäubungsmittelstraftaten (hier spiegelt die enorme Ausführlichkeit der Erläuterungen vielleicht einen Teil der Dauer-Problematik dieses Regelungsbereichs) sowie Steuerhinterziehung. Interessant sind hier die Strafmaßtabellen und Straftaxen (Rn. 1893 ff., 1897). Läse der Vorsitzende eines renommierten Fußballklubs das Dortige, hätte er im Nachhinein, ob des Wunders „seines“ Strafmaßes, womöglich tief durchgeatmet, gäbe es den Deal, die „Verständigung im Strafverfahren“, nicht.
Jede Auflage dieses Werks hat der Rezensent besprochen, von Beginn an des Lobes voll. Einiges hiervon sei wiederholt. Die Gliederung ist durchsichtig, der Stoff in klarer unprätentiöser Sprache souverän dargestellt. Nirgendwo sonst findet man das Strafzumessungsmodell der Rechtsprechung so geschlossen vermittelt wie hier. Dieses Buch ist eine enorme „praktische Hilfe“ für Jeden, der sich beruflich mit dieser Materie zu befassen hat. Berufsanfänger oder nur gelegentlich auf dem Gebiet des Strafrechts tätige Verteidiger, die dies gründlich tun, sind nach der Lektüre zwar noch keine schlauen Füchse, dazu bedarf es längerer forensischer „Erfahrung“ (gerade auch negativer als Ansporn), aber sie sind dann eben auch keine heurigen Hasen mehr. – Dieses Werk war von Beginn an ein großer Wurf, denn leichter kann der Zugang zu dieser wahrlich schwierigen Materie nicht gemacht werden. Dass man das Strafzumessungsmodell des BGH nicht in allen Punkten für überzeugend halten muss, steht auf einem anderen Blatt. Das Gericht ist an das Gesetz auch dann gebunden, wenn es eine Regelung für nicht gelungen oder gar völlig verfehlt hält (man denke z. B. an etliche widersprüchliche Strafrahmen im StGB), solange der Norm nicht die Verfassungswidrigkeit auf der Stirn steht. Und selbst dann hat es kein Verwerfungsrecht (näher zum gesetzlichen Verfahren in einem solchen Fall Art. 100 GG).
Die seit der 3. Aufl. 2001 mitwirkenden Richter Sander und van Gemmeren zeigen sich den hohen Anforderungen des Werks gewachsen. Gerhard Schäfer, der Begründer dieser Großtat, hat sich um die Aufhellung und Vermittlung der „Praxis der Strafzumessung“ in diesem Staat verdient gemacht. (mh) ˜
Univ. Prof. Dr. iur. utr. Michael Hettinger (mh). Promotion 1981, Habilitation 1987, jeweils in Heidelberg (Lehrbefugnis für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte). 1991 Profes sur an der Universität Göttingen, 1992 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht in Würzburg, von 1998 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 in Mainz. Mitherausgeber der Zeitschrift „Goltdammer’s Archiv für Strafrecht“.
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