Landeskunde

Spaziergang oder Parforceritt?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2022

Daniel Gerlach: Die letzten Geheimnisse des Orients. Meine Entdeckungsreise zu den Wurzeln unserer Kultur. Mit zahlr. farb. Fotos und e. farb. Karte des alten Orients in den Vorsatzblättern. 365 S. München: C. Bertelsmann 2022. Hardcover. ISBN 978-3-641-29254-6, € 24,00.

Wer sich einmal an Steven Runcimans „Geschichte der Kreuzzüge“ gewagt hat, kennt das Gefühl, nach zweihundert Seiten den roten Faden endgültig verloren zu haben – und das liegt keineswegs am Buch oder am Unvermögen des Autors, den Stoff zu gliedern… Für Bewohner der westlichen Hemisphäre ist es schwer begreiflich, welche Vielfalt an Lebens- und Denkformen der sogenannte ­„Orient“, jener Raum zwischen Nordafrika, Levante und Zentralasien, hervorgebracht hat und immer noch in sich birgt.

Daniel Gerlach, studierter Orientalist und Historiker, ist seit Jahren auf den Spuren der mittelmeerischen und nahöstlichen Kulturen unterwegs und hat die Region schon in zahlreichen Fernsehdokumentationen einem großen Publikum nähergebracht. Etwas von der gesprochenen Sprache des Mediums ist dem nun vorliegenden Buch durchaus anzumerken: von lässig-informell bis schnoddrig reicht die Ausdrucksweise, die der wuchtenden Schwere des Stoffs viel von ihrem Gewicht nimmt, ja den Leser mit einem Augenzwinkern erst wieder in die Gegenwart zurückruft. In 19 regional gegliederten Kapiteln – von Tunesien über Ägypten, Saudi-Arabien, den Irak und die Türkei – führt uns der beschlagene Erzähler durch Höhen und Tiefen der nah- und mittelöstlichen Geschichte, die in den vergangenen Jahrtausenden ein einzigartiges Konglomerat aus ägyptischen, mesopotamischen, griechisch-hellenistischen und arabischen Komponenten darstellt.

Reichtum, Vielfalt, Komplexität einerseits bedeutet andererseits oft Last, Spaltung und Auseinandersetzung. Gerlach scheut nicht die Darstellung der streitlustigen früh­ islamischen und frühkirchlichen

Theologie, die alles andere als eindimensional und für das Verständnis auch der heutigen Situation unabdingbar ist, und es zählt zu den großen Verdiensten dieses Bandes, diese ebenso anspruchsvolle wie schwer überschaubare Diskussion – pädagogisch nicht ungeschickt – immer wieder in die 19 Kapitel des Bandes eingeflochten zu haben. Nebenbei erfährt der aufmerksame Leser viel über die Geschichte der Orientforschung, in der es an exzentrischen Forscherpersönlichkeiten nicht mangelt; allein die Kurzbiographie des „Sechzehnsprachenmännle“, des deutschen Bibliothekars und Altertumswissenschaftlers Julius Enting, der zum Schluss an der Reichsuniversität Straßburg lehrte, ist eine kleine Perle in dem an Anekdoten gewiss nicht armen Band.

Wer dem Autor kapitelweise bei seiner Reise durch den Nahen und Mittleren Osten folgt – die informative, gut lesbare Karte auf dem Vor- und Nachsatzblatt ist da sehr hilfreich –, erhält Schritt für Schritt eine unterhaltsame, allerdings ungemein konzentrierte Lektion in Sachen Religionen, Kulturen, Theologien, Riten, Mythen und Hinterlassenschaften all der menschlichen Gemeinschaften, die damals wie heute der Region ihren Stempel aufdrücken. Dass der Islam, das Juden- oder das Christentum dabei nur eine unter vielen Ausprägungen sind, deren Wurzeln weit in die Vor- und Frühgeschichte zurückreichen, zählt sicher zu den bleibenden Eindrücken dieses Bandes. Sind wir nicht alle schon längst orientalisiert, fragt der Autor gegen Ende? Trinken wir nicht morgens unseren Sud aus nahöstlichen Bohnen, sind nach orientalischem Ritus mit Wasser getauft, schreiben unsere Zahlen in arabischen Ziffern, machen unsere Notizen in einer levantinisch-semitischen Schrift und feiern das Weihnachtsfest am Feiertag des syrischen Sol Invictus? Überraschende, aber erhellende Erkenntnisse nach der Lektüre eines Bandes, der in einfacher Sprache komplexe Verhältnisse darzustellen vermag.

Fazit: ein anregendes Geschenk für sich selbst oder einen interessierten Mitmenschen. (tk) 🔴

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig. 

thkohl@t-online.de

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